Ehrfurcht haben vor dem Heiligen gehört auch zu guten Manieren.Dies meint auch Asfa-Wossen Asserate in seinem Buch Manieren!
Ein Interview
In Ihrem Buch "Manieren" geht es weniger um Tanzschritte und Tischsitten als um eine innere Haltung. Weist sein Erfolg auch auf eine weit verbreitete Sehnsucht hin?
Asfa-Wossen Asserate: Ja, es gibt eine Sehnsucht nach Orientierung und Verbindlichkeit, aber auch …Mehr
Ehrfurcht haben vor dem Heiligen gehört auch zu guten Manieren.Dies meint auch Asfa-Wossen Asserate in seinem Buch Manieren!
Ein Interview
In Ihrem Buch "Manieren" geht es weniger um Tanzschritte und Tischsitten als um eine innere Haltung. Weist sein Erfolg auch auf eine weit verbreitete Sehnsucht hin?
Asfa-Wossen Asserate: Ja, es gibt eine Sehnsucht nach Orientierung und Verbindlichkeit, aber auch nach einem höheren Wesen.
Sie schreiben, dass die Liturgie die eigentliche Schule der Manieren sei.
Man kann mühelos darlegen, wie sich aus dem liturgischen Dienst der lateinischen und griechischen Kirche die wesentlichen Formen der Ehrfurcht und des Respekts ableiten lassen, die in den europäischen Manieren so lange bestimmend waren.
Die Liturgie hat auch mit der Ehrfurcht vor dem Heiligen zu tun.
Ja. Und was die Religion an Ehrfurcht vor dem Heiligen lehrt, kann man auch auf Menschen übertragen: Ehrfurcht gegenüber dem Nachbarn, darum geht es auch.
Ist uns beides abhanden gekommen?
Ich bin davon überzeugt, dass wir besonders in den letzten 30 Jahren vieles verloren haben. In dieser Zeit hat man die Ehrfurcht und alles, was nach Patrimonium und Tradition roch, weggeschleudert.
Was heißt das konkret?
Der Verlust der Ehrfurcht vor den Eltern und die Respektlosigkeit vor alten Menschen. Im Fernsehen läuft zur Zeit der Werbespot einer Hypothekenbank. An einem Frühstückstisch sitzen Vater, Mutter und Sohn. Der Sohn sagt: "Wir haben es lange versucht, aber es klappt nicht mit uns. Verlasst mein Haus!" Das heißt: Wenn du früh genug mit dem Sparen anfängst, kannst du sogar eines Tages deine Eltern fortjagen. Soll das unser Ideal sein? Rücksichtslosigkeit und Egozentrismus sind anscheinend die neuen Werte, die wir propagieren.
In Ihrem Buch geht es auch um die Rücksicht vor den heiligen Räumen. Viele Leute wissen nicht mehr, dass Kirchen Orte des Heiligen sind, die man nicht mit Mütze oder Badezeug, Eis lutschend oder rauchend betritt.
Das ist eben das schlechte und unwahre Verständnis der Freiheit. Wissen Sie, dieses Grenzenlose. Es gibt nichts, was ich nicht machen kann. Niemand ist da, der mir irgendetwas zu verbieten hat. Erst recht nicht die Kirche. Die Tabulosigkeit ist das wahre Problem. Sie brauchen doch nur mal im Fernsehen zu verfolgen, was der Mensch heutzutage alles macht. Wohin ist denn die Menschenwürde gekommen? Es gibt nichts Heiliges mehr. Niemand weiß, was man anbeten soll, was man eigentlich glorifizieren soll, was man auch lieben kann. Wir sind in dieser Hinsicht ärmer geworden als wir früher waren. Manieren haben mit Achtung zu tun: wie ich mein Gegenüber behandele.
Auch damit, dass alle Menschen vor Gottes Angesicht gleich sind?
Nach meiner Überzeugung haben wir die Philosophie der Gleichheit der Menschen der Schöpfungsgeschichte zu verdanken. Was uns als Menschen gleich und auch würdig macht, ist der Glaube, dass wir alle im Angesicht Gottes geschaffen worden sind. Der Mensch ist die höchste Kreatur, die die Gnade besitzt, etwas Göttliches in sich zu bergen. So würde es bedeuten: Einen Menschen umbringen, heißt einen Teil Gottes umbringen.
Also geht es bei Manieren letztlich nicht um moralische oder kirchliche Gesetze, sondern um Herzensangelegenheiten?
In erster Linie. Es gibt das wunderschöne deutsche Wort "Demut". Ein demütiger Mensch ist jemand, der eigentlich keinen Manierenunterricht braucht. Das ist jemand, der immer den anderen in den Mittelpunkt stellt, ohne sich selbst zu vergessen. Demut darf jedoch nicht Selbstverleugnung bedeuten.
Sie sprechen von Demut und Anmut.
Anmut ist das, was wir brauchen, um unser ästhetisches Dasein zu kultivieren. Und auch, ich will es jetzt mal poetisch formulieren, den großen Schöpfungen Gottes zu huldigen. Ob es eine schöne Frau oder ein schöner Mann ist, ein Baum oder der blaue Himmel. Ich sehe in all diesem unseren großen Schöpfer.
Und in dieser Verehrung entsteht Kultur?
Selbstverständlich: "Wie groß ist Dein Reich und wie wunderbar sind Deine Werke!"
Und Demut?
Und Demut: "Wer bin ich, ohne Deine Gnade? Und wenn Du nicht da bist, der mich gemacht hat? Ohne Dich bin ich nichts - nur ein kleiner Punkt im unendlichen Universum".
Das ist die Kultur der Achtsamkeit gegen Egoismus und Rücksichtslosigkeit.
Genau das ist es, was unsere christliche Kultur ausmacht, dass man sich nicht überschätzt und den anderen immer als den Wichtigeren sieht.
Wird unsere seelenlose Welt wärmer, wenn wir uns darauf wieder besinnen?
In der Tat. Wenn ich jetzt in deutschen Städten aus meinem Buch vorlese, wissen Sie, was mich da am meisten freut? Dass ein beachtlicher Teil meiner Hörer Jugendliche sind. Ich höre aus den Fragen der neuen Generation, dass sie, auf gut Deutsch gesagt, die Nase voll hat von dem, was wir ihnen in all diesen Jahren vorgemacht haben. Sie wollen einen besseren Umgang mit ihren Mitmenschen, der nicht auf Herzenskälte basiert. Sie suchen eine neue Orientierung. Diese Art der Gesinnung ist noch ein kleines Pflänzchen. Ich sehe es aber wachsen. Und es ist unsere Aufgabe, es zu hegen, zu pflegen und zu bewässern, damit es eines Tages zu einem starken Baum wird.
Das ist eine Hoffnung.
Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass diese seit Jahren als antiquiert, als nicht mehr brauchbar angesehenen Werte wieder nach Deutschland zurückkommen.
aus: "Wir brauchen Demut und Anmut". Andere Zeiten: Magazin zum Kirchenjahr. Heft 3/2004: 6f. Mit Asfa-Wossen Asserate sprach Hinrich C. G. Westphal.
Das Buch "Manieren" ist im Eichborn Verlag erschienen.