Lesen bildet – auch Nationen

28. Januar 2014


Tobias Klein erklärt den Zusammenhang von Schlüsselinterpretamenten populärer Unterhaltungsliteratur mit dem soziokulturellen Fundament der deutschen Gesellschaft zur Zeit der Reichsgründung.

Wer etwas über die Zeitgeschichte der Bundesrepublik erfahren will, kann ein Lehrbuch gleichen oder ähnlichen Titels zu Rate ziehen. Sie oder er kann aber auch die Tatort-Krimis der letzten vierzig Jahre ansehen und erhält ebenfalls, dann auch unterhaltsam, Einblick in die Problematik der deutsch-deutschen Spannungen, in Waldsterben und Atomkraftwerke, in Terrorismus und Vergangenheitsbewältigung, in den technischen Fortschritt, in die Haar- und Bekleidungsmode, in die Vereinsamung des Menschen im neoliberalen Gesellschaftsentwurf. Will heißen: In der Populärkultur „Fernsehfilm“ zeigen sich äußerst lehrreich die politischen, ökonomischen und psychologischen Aspekte des sozialen Umfelds, in dem die Mordfälle aufgeklärt werden.

Jemand, der sich wissenschaftlich mit dem Zusammenhang zwischen der Populärkultur „Trivialroman“ und den gesellschaftlichen Bedingungen im Deutschland zur Zeit der Reichsgründung (1871) beschäftigt hat, ist Tobias Klein. Der Germanist untersuchte in seiner 2012 erschienenen Dissertation Von deutschen Herzen. Familie, Heimat und Nation in den Romanen und Erzählungen E. Marlitts am Beispiel belletristischer Texte die Wechselwirkung ihrer narrativen Rahmung mit dem kollektiven Bewusstsein zu wichtigen Fragen der nationalen Identität, einem Topos, der sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts allmählich zu bilden beginnt. Familie, Heimat, Religion – das sind dabei die Schlüsselkonzepte, die sowohl für einen guten Unterhaltungsroman als auch für den Aufbau einer in sich gefestigten Nation von Bedeutung sind.

Der Ansatz, die Bedeutung von Literatur für das „nation-building“ zu untersuchen, stammt unterdessen nicht von Klein. Er nimmt ihn von Doris Sommer, die in ihrer Arbeit Foundational Fictions (1991) geschaut hat, wie sich populäre Liebesromane aus Lateinamerika im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf die Gründung und Festigung der dekolonialisierten Staaten in der Neuen Welt auswirkten, und dabei feststellte, dass sich „Liebe und Patriotismus, das Streben nach privatem Glück und nach nationaler Harmonie, als wechselseitig aufeinander verweisende Diskurse“ bestimmen lassen. Klein liefert mit seiner Arbeit nicht weniger als eine gelungene Transformation dieser Methode auf das Fallbeispiel Deutschland.

Nach einer sehr ausführlichen Vorstellung von Autorin und Werk analysiert Klein entlang der Begriffe „Familie“ und „Heimat“ den politischen Einfluss ihrer Liebesgeschichten, die als Fortsetzungsromane ab 1865 in der „damals mit Abstand auflagenstärksten deutschsprachigen Wochenzeitschrift“ Gartenlaube erschienen und darüber ein breites Lesepublikum erreichten. Sodann betrachtet er in einem eigenen Kapitel das Thema „Religion“, wie es die Autorin abhandelt – nämlich kritisch, sowohl gegenüber dem „protestantische[n] ‚Muckertum’“ als auch gegenüber dem „katholischen Ultramontanismus“, wobei „die Auseinandersetzung mit protestantischer Frömmigkeit der kulturkämpferischen Polemik gegen den Katholizismus“ (Bismarck lässt grüßen) „im wesentlichen voraus“ (Hervorhebung im Original) ging.

Und „die Marlitt“ selbst – ist sie eine (gläubige) Christin? Auch der diesbezüglichen Forschungskontroverse weicht Klein nicht aus und trägt die disparaten Stellungnahmen der Literaturwissenschaft und die einschlägigen Befunde aus den Quellen zusammen. Zwar sei die Romanautorin Mitglied der „evangelisch-lutherischen Kirche“ gewesen, doch im Ergebnis seiner Studien erkennt der Verfasser in ihrer Religiosität vielmehr eine Ansammlung umgedeuteter (pseudo)christlicher „Versatzstücke“ denn ein überzeugtes Christsein mit klarer konfessioneller Kante. Aus Marlitts Romanen extrahiert Klein die eher naturreligiös als christlich motivierte Idee einer „Unsterblichkeit der Seele“ sowie physikotheologische Konzeptionen („Gotteserkenntnis aus der Natur“) und „pantheistische Vorstellungen“, die recht eigenwillig zu einem persönlichen Glauben montiert werden. „Insgesamt“, so urteilt Klein, „erscheint das Gottesbild der Marlitt in seiner nur oberflächlich mit aus der christlichen Tradition entlehnten Begriffen verbrämten Mischung aus rationalistisch-deistischen und pantheistisch-naturreligiösen Elementen ausgesprochen uneinheitlich und diffus“.

Schließlich analysiert Klein auch den Einfluss heutiger „Familiengeschichten“ in der Populärkultur „Fernsehserie“ anhand von Dallas und Das Erbe der Guldenburgs und rehabilitiert damit endgültig das Triviale für die akademische Auseinandersetzung mit der Gegenwartskultur. Und dies tut er nicht nur mit Blick auf die Literaturwissenschaft – auch Medienforscher, Soziologen und Politologen sollten – das legt Kleins Arbeit nahe – verstärkt auf die gesellschaftliche Bedeutung dessen schauen, das für die Menschen Bedeutung hat. Wer Tobias Kleins Schrift durcharbeiten will, braucht indes einen langen Atem. Die äußerst aspektenreiche Dissertation ist über 600 Seiten lang und als wissenschaftliche Qualifikationsarbeit nicht immer leicht zu lesen. Doch die Lektüre lohnt sich durchaus, denn der Text beinhaltet „nicht nur eine Studie über E. Marlitt“, wie der Verfasser zu Recht feststellt. Viele interessante Nebenschauplätze werden besucht und auch die randständigeren Themen kenntnisreich abgehandelt, ohne dass der Verfasser den roten Faden verliert. Dieser führt am Ende zu der Erkenntnis, dass Lesen bildet: zunächst Meinungen – und dann eben auch Nationen.

Bibliographische Daten:

Tobias Klein: Von deutschen Herzen. Familie, Heimat und Nation in den Romanen und Erzählungen E. Marlitts.
Hamburg: Verlag Dr. Kovač (2012).
670 Seiten, € 128,80.
ISBN 978-3830065180.

(Josef Bordat)

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