Würdeschutz und Lebensrecht

12. März 2015


Zum Thema der Entschließung des Europäischen Parlamentes, die EU-Mitgliedsstaaten mögen ein „Recht auf Abtreibung“ gewähren, erreichten mich viele Rückmeldungen. In den meisten werden meine Vorbehalte geteilt, die ich gegenüber einem „Recht, menschliches Leben zu töten“ habe. Es gab allerdings auch andere Haltungen. Diese behaupten zwar kein Recht auf Tötung, stellen aber in Frage, dass es sich bei menschlichem Leben um menschliches Leben handelt.

So schrieb ein Kommentator auf meiner Facebook-Seite, ich möge doch mal definieren, „was du unter menschliches Leben verstehst“. Die Forderungen wurde dadurch motiviert, dass der Kommentator offenbar unsicher hinsichtlich der Antwort auf die Frage ist, ob man beim ungeborenen menschlichen Leben schon von menschlichem Leben sprechen kann oder ob man nicht vielmehr „von einer Möglichkeit menschlichen Lebens“ sprechen sollte. Ich gehe gerne darauf ein.

1. Für die Definition braucht es keine besondere Kreativität meinerseits. Ich muss nur gucken, was Wissenschaft, Religion und Recht in dieser Frage aktuell aussagen. Und da finde ich übereinstimmend die Auffassung, menschliches Leben beginne mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zu einer neuen Zelle als Lebensform gleicher Art (so sagt es die Biologie), zu einen einzigartigen Ebenbild Gottes (so sagt es die Kirche), zu einem Lebewesen, das Anspruch auf Achtung und Schutz seiner Würde besitzt (so sagt es das Bundesverfassungsgericht und so sagt es der Europäische Gerichtshof). Der Mensch entwickelt sich demnach als Mensch, nicht zum Menschen. Wenn menschliches Leben entstanden ist, ist dies tatsächlich entstanden, nicht nur möglicherweise.

2. Was der Kommentator mit der Forderung nach Definition in Frage stellt, ist die von mir aus Punkt 1 abgeleitete Behauptung, es gäbe Würdeschutz und Lebensrecht für alle Menschen, ungeborene und geborene. Auch hier brauche ich nicht besonders kreativ zu sein, um das zu zeigen. Es reicht, die aktuelle Rechtsprechung von höchster Stelle heranzuziehen. In Deutschland ist diese das Bundesverfassungsgericht, das wie folgt urteilt: Das „Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der ‚lebt‘; zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben kann hier kein Unterschied gemacht werden“ (Urteil des BVerfG vom 25.02.1975, AZ 1 BvF 1/74 u.a. [BVerfGE 39, 1, veröffentlicht in: NJW 1975, 573]), denn das Grundgesetz enthalte keine „dem Entwicklungsprozeß der Schwangerschaft folgenden Abstufungen des Lebensrechts“ (Urteil des BVerfG vom 28.05.1993, AZ 2 BvF 2/90 u.a. [BVerfGE 88, 203, veröffentlicht in: NJW 1993, 1751]). Art. 1, Abs. 1, Satz 1 GG muss demnach so gelesen werden: „Die Würde des menschlichen Lebens ist unantastbar.“

Und das ist unverändert die Rechtsauffassung in Deutschland, aus der die Rechtswidrigkeit jeder Würdeverletzung jedes menschlichen Lebens (zum Beispiel in Gestalt der Tötung durch Abtreibung) unmittelbar folgt (auch, wenn in bestimmten Fällen die strafrechtliche Verfolgung der rechtswidrigen Handlung unterbleibt). Man beachte: Unter großem gesellschaftlichen und politischen Druck nach der Deutschen Einheit kommt das BVerfG 1993 zu der gleichen Grundhaltung wie 1975. Viele hatten erwartet, dass das BverfG die Rechtsauffassung der 1970er Jahre als „überholt“ revidieren würde, doch es hat sie bestätigt: Das zeigt, wie wichtig allgemeiner Würdeschutz (nach Art 1 GG) und allgemeines Lebensrecht (nach Art 2 GG) sind. Es zeigt zudem, dass man verfassungsrechtlich zu gar keiner anderen Auffassung kommen kann. Interessanterweise hat jüngst auch der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass der menschliche Embryo sich ab der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle als Mensch entwickelt („Insofern ist jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an als „menschlicher Embryo“ […] anzusehen, da die Befruchtung geeignet ist, den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen.“, Urteil des EuGH vom 18.10.2011, AZ C-34/10). Das ist zwar eine schwache Formulierung, weil es außer der Befruchtung keine anderen Kandidaten dafür gibt, „den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen“ und die „Eignung“, die man der Befruchtung diesbezüglich zubilligt, doch eine ganz, ganz exzellente ist, doch schimmert hier deutlich durch, dass der Grundsatz, der Mensch entwickle sich als Mensch, nicht zum Menschen, auch 2011 in Europa Geltungskraft besitzt.

Die Frage, von welchem Zeitpunkt an menschliches Leben Würdeschutz und Lebensrecht genießen sollte, lässt sich also nicht nur als Katholik, sondern auch als Deutscher und als Europäer eindeutig beantworten: Von Anfang an.

3. Nun gibt es aber einige ganz schlaue Menschen, die für den Kommentator einen Ausweg gefunden haben. Diese definieren einfach einen Unterschied zwischen „human life“ und „human being“ oder zwischen „Mensch“ und „Person“ in Würdeschutz und Lebensrecht hinein. Demnach sei Menschenwürde als „Personenwürde“ zu deuten. Person ist ein Wesen (Tier oder Mensch), das über die Tatsache seiner Existenz hinaus noch Eigenschaften haben muss, um einen Anspruch auf Würdeschutz und Lebensrecht zu haben, etwa Leidensfähigkeit. Ungeachtet der Schwierigkeiten (Was ist „Leid“ und woher wissen wir, ob ein Wesen fähig ist, Leid zu empfinden?), wird die Grenze des Zielbereichs der Art. 1 und 2 GG ganz neu gezogen: Tiere mit dieser Eigenschaft (z. B. Schimpansen) gehören dann dazu, Menschen ohne diese Eigenschaft nicht mehr (z. B. ungeborene Menschen).

Damit wäre für Würdeschutz und Lebensrecht völlig unerheblich, dass sich der Mensch als Mensch entwickelt (und nicht zum Menschen), weil und soweit er sich ja zur Person entwickeln muss, um Würdeschutz und Lebensrecht zu genießen. Und das ist tatsächlich ein Schritt, der innerhalb der Entwicklung erfolgt, und je nach erforderlicher Eigenschaft zeitlich mehr oder weniger klar bestimmt werden kann. Nehmen wir etwa Leidensfähigkeit als für den Person-Status erforderliche Eigenschaft und unterstellen wir ferner, dass diese mit Schmerzempfindlichkeit hinreichend beschrieben ist (was freilich Unsinn ist, weil es Schmerz ohne Leid und Leid ohne Schmerz gibt), dann könnten wir mit der Messung von Hirnströmen diesen Entwicklungsschritt identifizieren. Aber dies nur äußerst ungenau. Je nachdem, welche Ansprüche man an „Hirnströme“ stellt (Reicht im Hinblick auf Schmerzempfindlichkeit ihre nachweisliche Existenz, also: „Strom fließt“, oder braucht es die Ausbildung eines gleichförmigen Wellenprofils auf dem Bildschirm?), liegt der erste Zeitpunkt ihres Auftretens mit handelsüblichen Messverfahren zwischen der 6. und der 24. Schwangerschaftswoche. Irgendwo mittendrin liegt übrigens die 12-Wochen-Frist nach § 218 StGB.

(Josef Bordat)

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