Unlängst haben bekanntlich mehrere christdemokratische Politiker in einem offenen Brief die Abschaffung des Zölibats gefordert. Inzwischen gibt es auch ein Memorandum, ein Reformpapier katholischer Theologieprofessoren. Der Ausgangspunkt für eine solche publik gemachte Einmischung ist die Annahme, dass die katholische Kirche sich in einer Krise befinde. Die Krise wiederum äußere sich in einem stetig wachsenden Priestermangel. Merkwürdig. Gibt es nicht einen ähnlichen Funktionärsmalus in den so genannten Volksparteien?
Die katholische Kirche ist bekanntlich universal. Sie ist die größte Religionsgemeinschaft der Welt und hat mehr als 1 Milliarde Mitglieder. Die Zölibatsfrage beschäftigt nur einen Teil der Kirche, den europäischen, und darin vor allem den deutschen. Nur die Europäer kennen das Problem der Schrumpfung ihrer Gemeinden bis hin zum Verkauf der Gotteshäuser.
Es gibt keine Krise des Katholizismus, und schon längst keine, die auf den Zölibat zurückgeht. Der Zölibat wurde im Übrigen bereits vor 500 Jahren abgeschafft, und zwar durch Martin Luther. Er wurde umgehend durch das evangelische Pfarrhaus ersetzt. Aber auch das Pfarrhaus konnte das Problem des Pfarrnachwuchses nicht lösen. Beide Kirchen sind heute damit konfrontiert.
Wir konstatieren also eine Krise der christlichen Kirchen in Deutschland. Genauer: Eine Krise der Autorität der Kirchen. Ihr gesellschaftlicher Einfluss ist zwar weiterhin gegeben, er ist aber zunehmend nur noch institutionell abgesichert ( durch Sitze in Gremien), und nicht primär von den christlichen Werten getragen.
Die Kirchen haben weit gehend nur noch eine defensive Autorität. Sie haben das Monopol über die Religiosität im Wettbewerb mit anderen Gemeinschaften beziehungsweise an die Freikirchen verloren. Verloren ging nicht das Bedürfnis nach Religion, nach der Seelsorge, es ist vielmehr die Glaubhaftigkeit der beiden Kirchen in den Augen der Bürger, die auf dem Prüfstand steht.
Die Trennung von Kirche und Staat bedeutet nicht eine Trennung von Religion und Gesellschaft. In Deutschland aber vertreibt man gerne die Religion aus den Sozialisationsräumen der Öffentlichkeit, und zwar im Namen des säkularen Staates. Das ist nicht bloß ein Missverständnis, es ist ein Übergriff.
Hinzu kommt, dass meinungsbildende Kräfte unserer Öffentlichkeit unter Religion bei dieser Eindämmungspraxis ausschließlich das Christentum verstehen. Während für alle anderen Denk- Meditations- Straf- und Flagellations-Gemeinschaften das Prinzip der Toleranz gilt, bedient man sich im Falle des Christentums lieber des Kontrollsystems.
Die Kontrolle ist eine doppelte. Sie wird vom Staat durch die Kirchensteuer supervisiert und von der Öffentlichkeit durch die moralische Hyperventilation flankiert. Die so genannte zivile Gesellschaft hat sich zwar der Zehn Gebote zugunsten des Permissiven entledigt, das hindert sie aber nicht daran, die Geschichte des Christentums als Moralgeschichte zu inszenieren.
Insbesondere, was die katholische Kirche angeht, stehen in der deutschen Öffentlichkeit Heerscharen von Experten bereit, die sich in der Lage sehen, Auskunft über die Geschichte der römischen Kirche als Kriminalgeschichte zu geben. Es sind quasi zeitlose Zeitzeugen. Inquisition und Hochhuths Stellvertreter sind die Stichworte, nicht nur der Debatte, sondern auch ihres Niveaus.
Apropos Niveau! Außer der Zölibatsfrage beschäftigte in der letzten Zeit eine weitere katholische Insatisfaktion die Öffentlichkeit. Es waren die Äußerungen des Papstes zum Kondom. Als ob die Schweizer Garde regelmäßig Stichproben durchführen würde, um geheime Kondomreserven zu konfiszieren.
Das große Missverständnis unserer Öffentlichkeit liegt aber ganz woanders. Es besteht im Fetisch der Modernisierung. Der Ursprung: Die Abstimmungsdemokratie meint alles an die Mehrheitsmeinung anpassen zu müssen. Sie meint, der Zeitgeist wäre für alles zuständig, als käme er einem Reglement gleich. Modernisierung, ihre Umsetzung, und das ist das ganz große Missverständnis, ist nicht allein eine ideelle Angelegenheit, sondern vor allem eine administrative. Der Unterschied besteht nicht zuletzt darin, dass der Bankrott einer Idee schlecht verheimlicht werden kann, während die Administration für eine erfolgreiche Abwicklung durchaus Lob erwarten darf.
Modernisierung hat so Manches in unserer Gesellschaft in einen unverbindlichen Zustand gebracht. Auch die Kirchen. Wenn sie für die Identität Deutschlands zukünftig noch eine Rolle spielen wollen, müssen sie zu ihren ursprünglichen Aufgaben zurückfinden. Die Grundlagen dafür aber sind nicht im gesellschaftlichen Kompromiss zu finden, sondern in der Festschreibung der eigenen Position als Wert. Der Sieg des aktuellen bunten öffentlichen Haufens über die Kirchen ist ein Pyrrhussieg. Er rüttelt an den Grundlagen unserer Gesellschaft. Diese Grundlagen sind und bleiben christlich, zumindest christlich inspiriert. Niemand ist zur Religionsausübung verpflichtet, aber auch zum Atheismus nicht. Damit aber wären wir beim vielleicht größten Paradox der westlichen Welt: Von der Religionsfreiheit, der verfassungsmäßig festgeschriebenen, profitiert am meisten der Atheismus. Kirchensteuer schon bezahlt?