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() "Alles was Menschen tun, kann in Unmenschlichkeit abgleiten, auch Religion"

Menschenwürde - „Niemand kann sein eigenes Leben rechtfertigen“

Der Philosoph Jörg Splett hält die Religion in unserer Gesellschaft für lebenswichtig. Nicht, um ethisch korrekt zu handeln, sondern um die Menschenwürde bis ins Letzte verteidigen zu können

Herr Splett, inwiefern gehört für Sie die Religion in den öffentlichen, politischen, rechtsstaatlichen Raum?
Paläo-Anthropologen zufolge haben wir erst dort, wo man Begräbnisorte und religiöse Stätten findet, wirklich mit Menschen und nicht mehr mit Vormenschen zu tun. Und gehört nicht eigentlich in allen Kulturen die Dimension des Absoluten zum Menschsein dazu? Den Kulturbereich, der dieser Dimension gilt, bezeichnen wir mit dem lateinischen Wort Religion. Der Philosoph Scheler sagte dazu: Wer keinen Gott hat, hat irgendeinen Götzen. Auf einen Letzt- und Höchstpunkt bezieht sich wohl jeder für sein Leben und seine Werte. Und wenn der Mensch ein Leib- und Gemeinschaftswesen ist, dann wüsste ich nicht, warum Religion auf das Privat-Intime beschränkt werden sollte.

Nur ist man sich heute längst nicht mehr einig darüber, dass religiöse Argumente einem aufgeklärten Gemeinwesen überhaupt gut tun.
Ich glaube, man sollte als Erstes zugeben, dass alles, was Menschen tun, in Unmenschlichkeit abgleiten kann, auch Religion. Deshalb gehört zum Umgang mit den Religionen immer auch die Kritik. Keine Kulturdimension des Menschen ist sicher vor unmenschlichem Missbrauch.

Es gibt Dinge, bei denen wir uns schnell einig wären, dass Sie einen Missbrauch der Religion darstellen. Bei anderen Themen ist das viel schwieriger. Nehmen wir die Diskussion um das neue Gesetz zur Sterbehilfe, das gerade im Bundestag beraten wird. Für die einen ist die Sterbehilfe inakzeptabel, sie berufen sich dabei auch auf ihre Religion. Andere argumentieren genau umgekehrt und empfinden ein Verbot der Sterbehilfe als inhuman. Beide haben das Gefühl, ethisch einwandfrei zu argumentieren. Zwei völlig gegensätzliche Meinungen entspringen hier dem selben Wunsch, nämlich dem Menschen Gutes tun zu wollen.
Als Katholik kann ich hier auf das zweite Vatikanische Konzil verweisen. Nach „Gaudium et Spes“ können Christen besten Wissens und Gewissens in wesentlichen Dingen zu verschiedenen Ansichten kommen, ohne dass man einen Gewissensirrtum annehmen müsste. Und gerade zum Suizid muss man fairerweise sagen, dass aus der Bibel nicht so deutlich hervorgeht, dass er stets verboten sei. Weder bei König Saul noch bei Judas wird er eindeutig verurteilt. Und es gab Lob für Jungfrauen, die sich töteten, um nicht geschändet zu werden. Die Philosophen waren ohnehin uneinig. Die Stoa, die ja erheblich auf die christliche Ethik eingewirkt hat, bestand auf der Freiheit zum Tod; Plato erklärte: Wo die Götter uns hinstellen, dürfen wir nicht weglaufen. Und sein größter Schüler Aristoteles vertrat: Ich gehöre nicht nur mir selbst, sondern auch meiner Gemeinschaft. Diese Sicht hat sich dann auch im Christen­tum durchgesetzt. Doch liest man heute auch in katholischen Werken, es gebe zwar kein Recht auf Selbsttötung, es sei aber auch nicht einfach klar, dass sie sich verbiete. Gott ist der Herr über Leben und Tod? Ja. Aber auch über Gesundheit und Krankheit – und den Arzt darf man rufen.

Trotzdem sind Sie ein Gegner der Sterbehilfe. Wie begründen Sie Ihre Haltung, wenn nicht religiös?
Wenn ich mich selbst in einer bestimmten Situation töten darf, dann gilt das, ethisch gedacht, für jeden. Wer nun in eine Situation kommt, beispielsweise sehr krank zu sein, wird sich von anderen Leuten fragen lassen müssen: Warum hängst du so am Leben und gehst uns auf das Gemüt und den Geldbeutel? Ich aber darf keinen Menschen in die Situation bringen, sein Leben rechtfertigen zu müssen. Das kann nämlich keiner. Niemand kann behaupten, gar beweisen, dass die Welt durch sein Dasein besser dran sei. Gewahrt bleibt seine Würde nur, wenn er statt „Ich will nicht.“ sagen kann: „Ich darf nicht.“

Der Philosoph Robert Spaemann hat über unsere zunehmend atheistische Gesellschaft einmal gesagt: Es gehe uns gar nicht mehr um das Leben selbst, sondern um Wohlbefinden. Unser oberstes Prinzip sei inzwischen, das Wohlbefinden zu steigern, der Sinn des Lebens sei es, Träger angenehmer Gefühle zu sein. Wenn es das nicht mehr ist, dann hat es zu verschwinden.
Hierzu finde ich Schillers Worte bedenkenswert: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld“. Heinrich Heine erwiderte seinerzeit: Nein, das größte Übel ist der Tod und das höchste Gut das Leben. Das ist falsch. Denn wäre es wahr, ließe sich nicht fragen: Wozu lebe ich? Ich behaupte sogar: Der Mensch ist ein Wesen, dem sein Leben nichts mehr wert ist, wenn ihm nichts mehr wert ist als sein Leben. Beleg sind die Suizidzahlen  bei uns, auch unter jungen Leuten. Ließe sich nun – ich stimme Spaemann zu – als neuzeitlicher Lebenssinn die Lebenserhaltung vertreten? Nietzsche hat eine Zeit vorausgesagt, in der die Menschen kein Wozu mehr sehen außer „Lüstchen für den Tag und für die Nacht“. Und wenn diese Lüstchen nicht mehr erreichbar sind? Wozu dann noch leben?

Also brauchen wir dann nicht die Religion, um unser Leben wieder mit Sinn zu füllen? Um unsere Ethik neu zu rechtfertigen?
Für die Ethik, in aller Schärfe gesagt, braucht man die Religion erst einmal nicht. Dostojewski vertrat: „Ohne Gott ist alles erlaubt.“ So sehr ich ihn liebe und bewundere, wiederspreche ich ihm. Ich bin nicht bereit, Atheisten, Agnostiker aus ihrer Gewissensverpflichtung zu entlassen. Doch glaube ich, dieser Anspruch bedarf überhaupt keiner weiteren Begründung.

Aber woher kommt denn die Ethik?
Das ist zuerst einmal egal. Wir haben dem vernommenen kategorischen Imperativ zu folgen, weil er, fraglos einleuchtend, sich selbst legitimiert. Der übelste Verbrecher beschwert sich – ethisch – wenn er sich ungerecht behandelt findet. Dafür steht seit Platon das Bild vom Licht. Es leuchtet ein, es ist überzeugend, wer dagegen redet, argumentiert seinerseits ethisch.

Seite 2: Die Gesellschaft und ihre Autoritäten haben offenbar resigniert

Sie selber sagten einmal: „Man braucht nicht die Religion, um ethisch zu sein, die Verpflichtung der Wahrheit die Ehre zu geben, gibt es immer.“ Aber setzt das nicht schon voraus, dass es eine Wahrheit gibt, die jenseits unserer Überlegungen und Wahrnehmungen verankert und begründet ist? Und ist dieser Ort dann nicht notwendigerweise Gott?
In der Tat. Außer dass ich dem kategorischen Imperativ einfach zu folgen habe, darf, soll und will ich als Philosoph natürlich fragen: Wo kommt das her, dass ein bedingt begrenzter Mensch hier derart unbedingt verpflichtet wird? Das ist für mich der Zugang zur Religion. Denn wenn ich der ethischen Erfahrung nicht nur folgen, sondern sie auch verstehen will, dann ist die einzige Erklärung, die sie nicht besserwisserisch wegerklärt, die religiös-theistische. Da bin ich also ganz bei Kant, der sagt: Ich darf nicht von der Religion zur Ethik gehen, sehr wohl aber umgekehrt. Wobei sein eigenes Argument mir ungenügend erscheint. Kant sagt, ohne Hoffnung auf ein Wesen, das das Gute auch durchsetzt, sei der Mensch nicht fähig dem Imperativ zu folgen. Das ist für mich zu spät. Ich meine, schon um zu verstehen, woher dieses so einsichtige wie unbedingte „Du sollst“ mich trifft, brauchen wir eine absolute Wirklichkeit personalen Ranges. So heißt für mich der philosophische Name für Gott – statt „causa sui“ – „Woher“ des Unbedingt-Gut-sein-Sollen.  Wobei dieses Sollen, so unangenehm es sein mag, ein Geschenk ist. Denn was wären wir ohne Gewissen? Ein Tier auf zwei Beinen.

Wenn die Frage nach Gott im Zusammenhang mit der Ethik für die Philosophie relevant, aber sozusagen für den täglichen Hausgebrauch nicht nötig ist: Brauchen wir als Gesellschaft denn dann überhaupt noch den Gottesbezug in unserer Verfassung?
Zunächst geht es nicht um unser Brauchen, sondern um die Wahrheit. Wenn es Gott gibt, ist er zu respektieren. Abgesehen davon hat der Würde-Begriff „Person“ seinen Rang historisch erst durch christologische Diskussionen gewonnen. Natürlich gab es schon in der Stoa Ansätze. Aber wie ein so begrenztes und bedingtes Wesen wie der Mensch unbedingten Respekt fordern können soll, nicht bloß als Subjekt mit Vernunft und Willen, sondern als Person mit Letztwert, wofür Kant dann zum Begriff der Würde greift, das kann ich eigentlich nur aus diesem unbedingten Gewollt sein von Gott her begründen. Und wenn dieser Bezug wegfällt, ist auch zu erwarten, dass der Begriff der Person sich auflöst. Da nun stehen wir heute nachchristlich ja wieder. Die Mehrheit interpretiert „Person“ ja bereits im Sinne von John Locke: Eine Person ist nur, wer weiß, dass er eine Person ist.

Das würde altersdemente, komatöse, schwerstbehinderte oder ungeborene Menschen  ausschließen.
Das tut es tatsächlich. Der britische Philosoph Derek Parfit schließt ja sogar schlafende Menschen aus. Er hält es für reine Konvention, dass wir Schlafende nicht umbringen. Denn beim Einschlafen haben wir in der Regel auch den Wunsch, wieder aufzuwachen. Aber an sich ist der Mensch nach dieser Auffassung ohne Bewusstsein kein Mensch mehr. Gegen dieses Argument und die Trennung zwischen Mensch und Person kommt man ohne Religionsbezug nur enorm schwer an. Und gerade wenn ich über die Menschenwürde von Schwerstbehinderten zu sprechen habe, komme ich eigentlich nicht umhin, von der Schöpfung zu sprechen, und damit vom Gewollt-sein jedes einzelnen Menschen.

Diese Berufung auf die Schöpfung ist aber schon heute kaum mehr mehrheitsfähig. Besorgt Sie das?
Das besorgt mich sehr. Und deshalb liegt es an jedem von uns, dieses Bewusstsein wachzuhalten. Denn Kants Argumentation reicht eben für die Verteidigung der Menschenwürde ganz massiv Schwerbehinderter nicht wirklich aus. Dann heißt es, man soll sich in die Position des Kranken hineinversetzen und so weiter; aber wie weit trägt das? Die Zahl der Abtreibungen steigt, und was nehmen Menschen auf sich, die dagegen friedlich demonstrieren? Die Gesellschaft und ihre Autoritäten haben offenbar resigniert.

Sie sagen also, der Verlust einer religiösen Verankerung und Herleitung unseres Begriffes der Menschenwürde hat konkrete, messbare Folgen auf unsere Gesellschaft und ihren Umgang mit dem Menschen?
Selbstverständlich. Wie steht es, vom Lebensende zum Anfang geblickt, um unseren Umgang mit Embryonen, die wir alle einmal waren? Als ein ehemaliger Bundes-Kultusminister die Verarbeitung von Embryonen mit dem Argument verteidigte, die würden ja nichts spüren, habe ich meinen Studenten gesagt: Wenn man den Kollegen mit dem Holzhammer betäuben würde, würde er auch nicht mehr spüren, wie man seine Organe verteilte. Oder ich denke an Freunde mit behinderten Kindern. Was die sich inzwischen anhören müssen! Wo diese  Belastung der Gemeinschaft doch so einfach zu verhindern gewesen wäre. Das alles wird noch weiter zunehmen. Auch da halte ich es mit Robert Spaemann: Wenn uns niemand als Person behandelt, während wir noch nicht wissen, dass wir Personen sind, werden wir nie wissen, dass wir Personen sind.

Wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Constantin Magnis

Jörg Splett ist katholischer Religionsphilosoph und Anthropologe. Er ist emeritierter Professor für Philosophie an der Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt.

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