WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Literatur
  4. Neue Biografie: Luther – Reformator zwischen Einsicht und Angst

Literatur Neue Biografie

Luther – Reformator zwischen Einsicht und Angst

Ganz so dramatisch war es wohl nicht: Martin Luther zerreißt die Bulle des Papstes – nach der Vorstellung eines unbekannten Künstlers Ganz so dramatisch war es wohl nicht: Martin Luther zerreißt die Bulle des Papstes – nach der Vorstellung eines unbekannten Künstlers
Ganz so dramatisch war es wohl nicht: Martin Luther zerreißt die Bulle des Papstes – nach der Vorstellung eines unbekannten Künstlers
Quelle: Getty Images/SuperStock RM
Endlich gibt es eine zeitgemäße Biografie des evangelischen Reformators, der eigentlich gar keine Kirche gründen wollte. Sie räumt endlich auf mit dem Mythos vom lutherischen Übermenschen.

Die Luther-Forschung hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten mehr bewegt als in vier Jahrhunderten zuvor. Wer noch in den Fünfzigerjahren – wie der Rezensent – im Reformationsseminar Gerhard Ritters in Freiburg saß und dort einen dezidiert protestantischen und deutschen Luther kennen lernte (der mit sich ringende Mönch wurde existenziell ernst genommen, Karl Holls Analysen des „Turmerlebnisses“ waren gegenwärtig!), der spürt deutlich die Veränderungen, die sich seither vollzogen haben.

Einmal haben speziell die Katholiken neue, unmittelbare Zugänge zu Luther gefunden, ältere Phasen der Polemik überspringend – es genügt, an Namen wie Joseph Lortz, Yves Congar, Erwin Iserloh, Peter Manns und Otto Hermann Pesch zu erinnern.

Sodann wird „Luther der Deutsche“ – gestern noch ein Denkmal, an dem niemand vorbei kam! – von der heutigen Forschung nicht mehr in den Mittelpunkt gestellt (es geht ihm ähnlich wie seinem Vaterland!). Und endlich hat die internationale Forschung neben Luther die anderen Reformatoren gestellt (von denen Calvin und die von ihm ausgehenden Bewegungen sich als der weltgeschichtlich erfolgreichste Zweig erwiesen hat); sie hat auch das früher gültige, allzu einfache Schema „hie Reformation – hie Gegenreformation“ außer Kraft gesetzt, indem sie überall im 16. Jahrhundert reformerische und antireformerische Strömungen entdeckte, oft gleichzeitig-ungleichzeitig nebeneinander wirkend, außerhalb der römischen Kirche, aber auch innerhalb.

Ketzer Luther

Gewiss: ohne die kritischen Ablassthesen, die der hartnäckige Augustinermönch und gelehrte Professor der Theologie 1517 publizierte, ohne die spätere „Protestation“ seiner Anhänger, nach der diese dann den Namen Protestanten erhielten, wäre die deutsche, die europäische Geschichte anders verlaufen. Luther schrieb den unentbehrlichen ersten Akt des Reformationsdramas.

Er setzte ein umfassendes, schließlich weltweites Geschehen in Bewegung. Doch die Entwicklung der Reformation ging bald über ihn hinaus und in vielen Stücken an ihm vorbei. Ihre weitere Entfaltung hat er, wie schon Paul Joachimsen urteilte, „weniger gestaltet als zugelassen“; sie war jedenfalls nicht mehr sein Werk allein.

Heinz Schilling schreibt in seiner neuen großen Luther-Biografie dem Ablass-Streit von 1517 einen Domino-Effekt im historischen Ablauf zu: „Nach Art des zuerst fallenden Dominosteins setzte er eine unumkehrbare Ereigniskette in Bewegung – den unvermeidlichen Schritt des bislang nur lokal oder regional bekannten Mönchs in die Öffentlichkeit der Nation und der Christenheit, seine Verurteilung durch die Kurie als Ketzer, seine daraufhin zwangsläufige Entwicklung zum Reformator und Gründer einer antirömischen protestantischen Kirche.

Doch auch diese Reihe fallender Dominosteine war das Ergebnis einer im Prinzip offenen historischen Konstellation, in der persönliche und politische Interessen und Rücksichtnahmen eine Rolle spielten.“

Luther hieß eigentlich Luder

Der Autor gibt in diesen Sätzen seine historiografische Visitenkarte ab: Einerseits argumentiert er, indem er den Reformator in eine Zeit des Umbruchs stellt, strukturgeschichtlich, epochal; anderseits entwickelt er als Biograf eine kräftige Neugier für Luthers Gestalt und Individualität. Erfreulich ist, dass Schilling über dem Strukturellen den Geschmack am Persönlichen – und die Lust am Erzählen – nicht verloren hat.

Der Leser fühlt sich beim Lesen der 714 Seiten gut informiert und unaufdringlich geführt. An keiner Stelle erdrücken ihn die Fakten. Nirgends stört, wie manchmal in Biografien, ein belehrender Ton. Und da der Autor oft genug anekdotische Lichter über die Konturen der Geschichte spielen lässt, hat das Buch sogar – trotz des im Grunde tragischen Geschehens – unterhaltsame Qualitäten.

Anzeige

Es ist das Buch eines Historikers. Theologisches wird zwar genau beschrieben, jedoch vermeidet der Autor ausdrückliche eigene Stellungnahmen. Oft deutet er seine persönliche Meinung durch Äußerungen anderer Forscher an. Immer tastet er sich an seinen Gegenstand mit akribischer Sorgfalt heran. Alles wird quellenmäßig belegt. Schillings Luther – im Einklang mit der internationalen Forschung bis 1517 mit dem Familiennamen Luder genannt – ist nicht die Heldenfigur der frühzeitig einsetzenden protestantischen Erinnerungskultur.

Der protestantische Grobian

Deren Monumentalisierungen, Rückprojektionen, Übermalungen werden von Schilling diskret beseitigt – vom angeblich den Hammer schwingenden Mönch des Thesenanschlags (der Thesenanschlag war in Wahrheit die normale, vom Pedell besorgte Ankündigung einer akademischen Disputation) bis zur Stilisierung Luthers zum „geborenen“, von Anfang an entschlossenen, früh aufs Ganze gehenden Reformator (in Wahrheit wurde Luther absichtslos zum Reformator, in einem längeren Prozess, nachdem die von ihm loyal über den Ablassmissbrauch informierten Bischöfe nicht auf seine Mahnungen reagierten).

Der Biograf weicht auch heiklen und umstrittenen Seiten dieses Lebens nicht aus. So spricht er angesichts des bekannten, die Zeitgenossen weit überbietenden lutherischen Grobianismus von „sprachlicher Brutalität“. Die bekannten Aufforderungen Luthers im Bauernkrieg zum Stechen, Schlagen und Würgen der Aufständischen nennt er „ungeheuerliche Aussagen“.

Die Doppelehe

Auch das Dilemma der hessischen Doppelehe wird behandelt – die Erpressung der theologischen Führer der Reformation durch einen ihnen zugeneigten Fürsten. Fast immer versucht der Historiker solche Misshelligkeiten zu erklären (nicht zu relativieren).

Meist kann man seine Urteile, seine zeitgeschichtlichen Erklärungen und Hinweise nachvollziehen. An die Grenze kommt diese erklärende Methode allerdings bei Luthers (spätem) Judenhass. Dass seine Frau Katharina ihn darin noch überboten hat, ist für heutige Leser kein Trost.

Der größte Gewinn des Buches aber, so scheint mir, liegt in einer umfassenden Neupositionierung Luthers gegenüber seinen historischen Mit- und Gegenspielern, einer Neubestimmung seiner Stellung im Reformationsgeschehen schlechthin. Das entspricht dem methodologischen Ansatz Schillings, der beim Ausbreiten der zeitgeschichtlichen Umstände immer wieder nachdrücklich das Offene, Unabgeschlossene der Situation betont.

Plötzlich erscheinen unentbehrliche Mitstreiter wie Melanchthon auf gleicher Höhe mit dem Reformator, ein führender Melanchthon-Forscher wie Heinz Scheible kommt zu Wort (lange Zeit war die Gestalt Melanchthons geradezu der blinde Fleck der evangelischen Lutherforschung!).

Das Fleisch zu Wittenberg

Anzeige

Auch die Humanisten, voran Erasmus, werden, wenn auch distanziert, gewürdigt – Schilling betont zu Recht, wie sehr ihr internationales Netzwerk die Verbreitung der reformatorischen Schriften und Ansichten beförderte, auch wenn am Ende die kirchenkritische Gemeinsamkeit am Problem des freien Willens auseinanderbrach. Auch die Protagonisten des Neuen, in die säkulare Zukunft Weisenden – Machiavelli, die Fugger, aber auch einige der Renaissancepäpste – werden treffend geschildert.

Geringeres Verständnis findet die „reformatorische Linke“: Karlstadt, Müntzer, die Täufer, obwohl ihr Ausgangspunkt nahe an Luthers reformatorischem Ansatz lag. In dem schönen, in die Zukunft weisenden Kapitel Schillings über Luthers „Ehe, Familie, Großhaushalt“ hatte eine Gegenstimme wie Müntzers heftiger Ausfall gegen das „sanftlebende Fleisch zu Wittenberg“ (in dem man eine Warnung vor allfälligen Philistrositäten evangelischer Pfarrhaushalte sehen kann) leider keinen Platz.

Ihren Höhepunkt erreicht die Neupositionierung Luthers in der ausführlichen Schilderung des Wormser Reichstags von 1521. In dem eben 21-jährigen Erwählten Kaiser Karl V. und dem im 37. Jahr stehenden Wittenberger Bibelprofessor standen nach Schilling einander nicht – wie man es früher sah – Mittelalter und Neuzeit gegenüber, sondern verschiedene Wege in die Neuzeit.

Gilt Luthers Wormser Rede mit ihrem „Ich kann nicht anders / hier stehe ich / Gott helfe mir / Amen“ bis heute als Schlüsseltext des Protestantismus, so ist die anderen Tages folgende Erklärung des jungen Habsburgers nicht minder aufschlussreich für die andere, später „katholisch“ genannte Seite.

Zuflucht Kloster

Schilling spricht von einem aktiven Traditionalismus, „der sich durchaus darüber im Klaren war, dass die Welt nicht so bleiben konnte, wie sie sich gerade darstellte“. Daher Karls V. Appell an die Päpste zur Einberufung eines Konzils. „Somit gilt für den Kaiser nicht anders als für den Reformator das ebenso trutzige wie existenzielle ‚Hier stehe ich...’“.

Nochmals: Schillings Biografie ist kein theologisches Buch. An manchen Stellen bedauert man das – so wird Luthers Existenz als Mönch wohl zu oberflächlich gefasst, wenn man sie nur als „Zuflucht im Kloster“, sein theologisches Ringen nur als Kampf mit der „Leistungsfrömmigkeit“ sieht.

War es denn gänzlich weltfremd, dass nach der Wiedervereinigung die Schwestern des (evangelischen) Casteller Rings in Luthers Erfurter Augustinerkloster die benediktinischen Gesänge sangen? Ist ein Leben nach den evangelischen Räten wirklich eine ganz und gar un-evangelische Sache, durch Luthers Austritt aus dem Kloster ein für allemal delegitimiert? Die Entwicklung geistlicher Gemeinschaften im modernen Luthertum spricht dagegen.

Mensch Luther

Doch der Wert der Arbeit von Heinz Schilling liegt vor allem darin, dass er die theologische Diskussion um Martin Luthers auf ein verlässliches, quellenmäßig gesichertes historisches Fundament stellt. So können die alten Fragen an Luther neu gestellt werden.

Ist sein Werk die legitime Fortsetzung, ja die schärfere Erhellung der frühchristlichen Glaubenslehren – oder ein absoluter Neuanfang? Ist sein „abgründiger Gott“ eine Wiederaufnahme augustinischer Theologie? Wie ist Luthers Lehre von der Alleinwirksamkeit Gottes mit seiner Christologie verbunden? Welche Bedeutung hat bei ihm das Wort Kreuz?

Das alles wird man nun neuerlich diskutieren können – jedoch mit einer Luthergestalt, die nicht ins Übermenschliche erhöht auf einem Denkmalsockel steht, sondern mit einem Menschen, der ein Kind der Zeit war, ebenso mittelalterlich wie modern, getrieben von Einsichten wie von Ängsten – und rundherum in gleicher Augenhöhe mit seinen Zeitgenossen.

Das Denkmal des Reformators Martin Luther (1483-1546) in Wittenberg
Das Denkmal des Reformators Martin Luther (1483-1546) in Wittenberg
Quelle: dapd

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema