Essay

Bekommen wir ein Ministerium für Wahrheit?

Henryk M. Broder

CDU-Fraktionschef Kauder nimmt sich das Netz zur Brust und prangert die vielen "Lügen" an. Er will mehr Wahrheit. Werden "Klimaleugner" also bald vor Gericht gestellt? Und was ist mit Claudia Roth?

Angela Merkel, so hieß es vor Kurzem, bereite die Bevölkerung auf "schwierige Zeiten" vor. Es komme darauf an, "Orientierung zu geben und konkrete Lösungen zu erarbeiten". Eine Absichtserklärung, der niemand widersprechen wird. "Orientierung" ist immer nützlich, und "Lösungen", die nicht "konkret" sind, sind auch wenig hilfreich.

Nur zwei Tage später zog der Fraktionschef der CDU im Bundestag nach und konkretisierte, am Beispiel des Umgangs mit dem Internet, was die Kanzlerin gemeint haben könnte. In einem Beitrag für die "Welt am Sonntag" kündigte Volker Kauder an: "Wenn das Netz weiter lügt, ist mit Freiheit Schluss".

Zweierlei fand ich an dieser Feststellung bemerkenswert: Das Internet lügt nicht, es ist allenfalls ein Transportvehikel – für Lügen und für Wahrheiten, für das Schöne und das Hässliche. So wie man auf einer Heidelberger sowohl Hitlers "Mein Kampf" wie Heines "Loreley" drucken konnte, kann man heute im Netz die Bekanntmachungen des Islamischen Staates und die Aufrufe von Amnesty International finden.

Muss die Freiheit im Netz eingeschränkt werden?

Und wie hat Volker Kauder den zweiten Teil des Satzes gemeint? Beraubt sich das Netz durch Lügen seiner Freiheit, oder muss die Freiheit im Netz eingeschränkt werden, weil es dazu dient, Lügen zu verbreiten?

 

Für Kauder scheint dies kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch zu sein. Er schreibt: "Unbestritten sind Facebook, YouTube und Co. leider immer mehr zu Plattformen geworden, auf denen Unwahrheiten verbreitet, andere Menschen herabgewürdigt, ja Hass verbreitet werden."

Das ist zweifellos richtig. Aber diese Erkenntnis ist so neu wie die, dass die Basis die Grundlage des Fundaments ist. Kauder hat, falls er es so gemeint hat, in einem Punkt recht. Die "Ausweitung der Kampfzone" in der öffentlich ausgetragenen Debatte hat Folgen gehabt, und nicht nur gute. Sie hat auch die Verbreitung von Dummheiten, Gemeinheiten und Lügen gefördert.

Reines Wunschdenken

Der Preis dafür, dass sich jeder zu allem äußern kann, ist ein Verlust an Qualität. Wie in einer Kantine, in der jeden Tag Tausende von Buletten hergestellt werden. Masse kommt vor Klasse.

Aber es sind eben nicht nur "Facebook, YouTube und Co", die Unwahrheiten unters Volk bringen, sondern auch die von Kauder als seriös eingestuften "Regierungen, Parteien und Verbände", welche, so Kauder, das Netz dazu nutzen, "die Bürger heute viel schneller und zielgerichteter (zu) informieren als jemals zuvor".

Das ist reines Wunschdenken, das sich aus dem Glauben speist, "Regierungen, Parteien und Verbände" wären neutrale, keinerlei Interessen verpflichtete Gebilde, die nur den Bürgern dienen und helfen möchten. Das ist, falls es jemals überhaupt stimmte, längst nicht mehr der Fall.

 

Auch Regierungen, Parteien und Verbände verfolgen Eigeninteressen, die nicht immer dem Gemeinwohl förderlich sind. Wenn es diesen Interessen nützt, verbreiten sie Unwahrheiten, diffamieren Kritiker und biegen sich die Realität zurecht.

Niemand leugnet, dass es ein Klima gibt

Der Gebrauch des Begriffes "Klimaleugner" ist ein schönes Beispiel für diese Art der demagogischen Selbstbevorteilung. Es hört sich wie "Holocaustleugner" an und suggeriert damit die Billigung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit; tatsächlich leugnet niemand, dass es ein Klima gibt und dass es sich ändert, wie das seit Jahrmillionen passiert.

Die Frage ist nur, welchen Anteil der Mensch an diesem Wandel hat und ob ein Wanderzirkus namens Klimakonferenz ein Ende des Klimawandels beschließen kann. Diese Frage nur zu stellen, grenzt heute bereits an Häresie.

Volker Kauder versichert zwar: "Kritik gehört zur Demokratie, auch heftige und ätzende", dem folgt allerdings sofort ein Aber: "Aber die Auseinandersetzungen verrohen. In Online-Kommentaren und in Bürgerzuschriften, die auch mich erreichen, wird Kritik in einer Sprache vorgetragen, die mit 'vulgär' noch verharmlosend umschrieben ist."

Bürgerzuschriften in vulgärer Sprache

Also: Kritik darf auch "heftig und ätzend" sein, aber nicht "vulgär". Wo die Grenze zwischen "heftig und ätzend" auf der einen und "vulgär" auf der anderen Seite verläuft, lässt sich allerdings nicht festlegen. Auch Volker Kauder ist die "Verrohung" erst in dem Moment aufgefallen, als ihn Bürgerzuschriften erreichten, die in einer vulgären Sprache abgefasst waren.

Ich habe da einen Verdacht. Könnte es sein, dass die Vulgarität der Bürger aus dem Gefühl resultiert, dass sie von den Politikern verarscht werden, um es mal ganz vulgär zu formulieren? Und könnte es sein, dass dieses Gefühl nicht ganz unbegründet ist?

Was soll ein Bürger denken oder fühlen, wenn ihm von der Kanzlerin gesagt wird, es sei unmöglich, die Grenzen der Bundesrepublik zu schützen, nachdem er eben gesehen hat, mit welchem Aufwand eine 28-Stunden-Jause, in deren Mittelpunkt die Kanzlerin als Gastgeberin steht, unweit der unkontrollierbaren deutsch-österreichischen Grenze geschützt wird?

Verrohung als Kehrseite der Verachtung

Und wenn Claudia Roth auf Demonstranten zugeht und ihnen ein "Gesprächsangebot" macht, das sie mit den Worten "Herr, lass Hirn vom Himmel regnen" eröffnet, dann sollte sie sich nicht wundern, wenn ihr "Verpiss dich!" zugerufen wird. Die Verrohung der einen kann auch eine Kehrseite der Verachtung durch die anderen sein.

Ja, das Internet ist eine Müllhalde, die jeden Mann und jede Frau dazu einlädt, ihren Abfall loszuwerden. Noch vor zehn Jahren hat kaum jemand daran gedacht, dass es eine "Benutzerordnung" geben sollte.

Nun schreibt Kauder: "Der Worte sind genug gewechselt. Es muss gehandelt werden. Wir müssen dafür sorgen, dass das Recht auch in den sozialen Medien gilt."

Auch diesem Satz kann man nur vorbehaltlos zustimmen. Nur, wie wollen "wir" – gemeint ist die Regierung – dafür sorgen, dass das Recht auch in den sozialen Medien eingehalten wird? Kauders Antwort: "An Rechtsverschärfungen wird kein Weg vorbeigehen."

Abgestufte Bußgelder für die Portalbetreiber

Das Übliche also, härtere Gesetze. Klingt irgendwie bekannt. Es soll auch schneller abgeschoben, der Asylmissbrauch härter bestraft und die "legale Einwanderung" erleichtert werden.

Eine Regierung, die Recht und Gesetz in Teilen ausgehebelt hat, weil die Kanzlerin ein "freundliches Gesicht" zeigen wollte, macht sich nun an die Arbeit, die Herrschaft des Rechts in den sozialen Medien herzustellen.

Es ist, als würde ein Fahrer, der mit 100 Stundenkilometern durch ein Wohngebiet gerast ist, darauf bestehen, dass das Parkverbot vor seiner Garage eingehalten wird.

Kauders Plan ist freilich detaillierter. Er will abgestufte Bußgelder für die Betreiber der Internetportale einführen und "die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden" neu regeln. Deutschland, schreibt er, wird "bei dem Thema vorangehen müssen, auch um die Diskussion in der EU zu bestimmen".

Mehr Kontrolle, weniger Bürgerrechte

Wie bitte? Angesichts der Schwierigkeiten bei der Einführung der Maut und der Festlegung auf einen Klimaschutzplan bis zum Jahre 2050 hat so ein Begehren den Beigeschmack von Größenwahn.

Alles, was Kauder vorschlägt, klingt nach mehr Kontrolle, mehr Staat, mehr Schutz für Politiker und – weniger Bürgerrechten. Er möchte nicht nur den Hass im Internet verbieten: "Wir müssen weiter diskutieren, ob die Betreiber der Plattformen nicht mehr tun müssen, um das Netz nicht nur von rechtswidrigen Inhalten frei zu halten, sondern von Lügen generell gerade in der politischen Debatte."

Eine gespenstische Forderung, deren Tragweite vermutlich nicht einmal ihrem Urheber bewusst ist. Wie soll das Netz "gerade in der politischen Debatte" von Lügen freigehalten werden? Mit Hilfe eines Wahrheitsministeriums? Werden "Klimaleugner" nicht nur aus dem Netz entfernt, sondern vor Gericht gestellt?

De-facto-Berufsverbot für Politiker

Wird die Behauptung, die Kanzlerin habe sowohl in der Euro- wie in der Flüchtlingskrise versagt und werde demnächst auch bei der Energiewende eine Bruchlandung erleiden, als Lüge qualifiziert und entsprechend geahndet? Wird sich die politische Debatte auf die Pflege der Willkommenskultur und den Kampf gegen Rechtspopulisten beschränken müssen?

Eines hat Volker Kauder offenbar nicht bedacht. Würden Lügen generell aus der politischen Debatte verbannt werden, würde dies nicht nur das Ende aller Debatten bedeuten, sondern auch ein De-facto-Berufsverbot für Politiker.

So kann es der Fraktionsvorsitzende der CDU im Bundestag also nicht gemeint haben. Vermutlich wollte er das Volk nur mit einer "Orientierungshilfe" auf die "schwierigen Zeiten" vorbereiten, die vor uns liegen.