Santiago_
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Jan H. Tück - Der gekreuzigte Gerechte

Es gibt Texte, die ein Sinnpotenzial in sich tragen, das den Zeitgenossen verschlossen bleibt und erst Jahrhunderte später freigelegt wird. In der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts vor Christus ist ein solcher Text in Athen geschrieben worden, der lange dunkel schien und kaum beachtet wurde, bevor er die frühen Christen elektrisierte, die darin einen Vorverweis auf das Leiden und Sterben Jesu ausgesprochen sahen. Der Text findet sich in Platons «Politeia».

Der Philosoph inszeniert ein Streitgespräch zwischen Glaukon und Sokrates über den Gerechten als den wahren Menschen. Glaukon vertritt die These, dass der Mensch in der Öffentlichkeit nur so tue, als ob er gerecht sei. Er wolle gerecht scheinen, ohne es wirklich zu sein. Das Prinzip der Gerechtigkeit sei nur eingeführt worden, um den menschlichen Geltungsdrang einzuschränken und das Zusammenleben zu befrieden. Um seine These zu verdeutlichen, macht Glaukon ein Gedankenexperiment.

Das Schicksal des Sokrates

Er fragt, wie es dem vollkommen Gerechten in der Welt wohl erginge – und kommt zu dem Ergebnis, dass der Simulant besser fahre als der Tugendhafte. Für Glaukon ist ein ungerechtes Leben unter der Maske der Gerechtigkeit empfehlenswerter als ein gerechtes. Gerade durch sein tugendhaftes Verhalten lege der Gerechte die Maskerade der anderen offen – und ziehe so die üble Nachrede, ja den Hass der Menge auf sich. Am Ende werde der Gerechte «gegeisselt, gefoltert, gefesselt, geblendet, schliesslich nach all diesen Leiden gekreuzigt».

Wenn Sokrates als Prototyp des leidenden Gerechten galt, warum sagte Platon dem vollkommenen Gerechten dann dennoch den Tod am Kreuz voraus?

Nun könnte man meinen, Platon habe hier das Geschick seines Lehrers Sokrates vor Augen gehabt, der die Leute auf der Agora in Gespräche verwickelte, um sie der Oberflächlichkeit ihrer Denkweisen zu überführen, und Widerspruch hervorrief. Wegen Verführung der Jugend und Gotteslästerung («Asebie») wurde er von den Richtern Athens verurteilt – allerdings nicht zum Tod am Kreuz, sondern zum Tod durch den Schierlingsbecher, was seinem Status als freier Bürger der Polis entsprach. Das provoziert die Frage: Wenn Sokrates als Prototyp des leidenden Gerechten galt, warum sagte Platon dem vollkommenen Gerechten dann dennoch den Tod am Kreuz voraus?

Um hier weiterzukommen, hat der Theologe und Kirchenhistoriker Ernst Benz schon 1950 vermutet, dass Platon in der «Politeia» eine Selbstdeutung des Sokrates eingeflochten habe. Dieser habe seinen Schülern in Gesprächen zu verstehen gegeben, dass er mit dem Schlimmsten rechnen müsse. Schon zu Lebzeiten war er in der Komödie «Die Wolken» durch Aristophanes öffentlich verspottet worden. Er wusste, dass Gerüchte verbreitet wurden, er übertrete die Gesetze der Polis. Er ahnte, dass sein Konflikt mit den Mitbürgern zu einem gewaltsamen Tod führen könne. Möglicherweise deutete er seinen Schülern an, «dass er für sich eine Hinrichtung auf tumultuarischem Wege erwartete, die mit der schimpflichen Form der Tötung, mit dem Sklaventod am Kreuz, enden würde», so Benz.

Hinrichtungsarten

Wir wissen, dass es anders gekommen ist. Der Athener Philosoph ist nicht gekreuzigt worden. Als freier Bürger der Stadt hat er den Schierlingsbecher getrunken. Das hat er gefasst und im Kreis seiner Schüler getan, obwohl er hätte fliehen und ins Exil gehen können. Die freie Annahme des Todes verbindet ihn mit Jesus, der sein bevorstehendes Leiden beim letzten Abendmahl gedeutet hat. Die Marter einer öffentlichen Kreuzigung aber ist dem Philosophen erspart geblieben.

Dabei war auch der Kreuzestod Jesu aus historischer Perspektive keineswegs selbstverständlich. Das römische Strafrecht kannte eine Reihe anderer Hinrichtungsarten. Todeskandidaten wurden im Normalfall erhängt oder enthauptet. Cicero nannte die Kreuzigung «die grausamste und scheusslichste Strafe» und lehnte sie für römische Bürger ab. Pontius Pilatus, der römische Statthalter in der Provinz Judäa, hätte demnach Alternativen gehabt. Aber obgleich er selbst wohl von der Unschuld Jesu überzeugt gewesen ist, hat er den «König der Juden» wegen Majestätsbeleidigung zum Kreuzestod verurteilt.

Auch unzählige Freiheitskämpfer, die das Joch der Besatzung Roms abschütteln wollten, wurden unter römischen Prokuratoren aus Gründen der Abschreckung gekreuzigt. Die Kreuzigung als Form der Massenhinrichtung – eine Multiplikation von Golgatha. Kein Wunder, dass weder Flavius Josephus noch Tacitus das Kreuz auf dem Kalvarienberg erwähnen. Für die Annalen der Weltgeschichte schien es eine quantité négligeable.

In den Märtyrer-Akten ist von Christen die Rede, die ihren paganen Richtern den Prozess gegen Sokrates vorhielten.

Die frühen Christen hingegen rückten Kreuz und Auferstehung Jesu von Anfang an in die Mitte ihrer Gedenkkultur. Da sie sich dem öffentlichen Kaiserkult widersetzten, waren sie in den ersten drei Jahrhunderten wiederholt staatlicher Verfolgung ausgesetzt. In dieser Lage entdeckten die Gebildeten unter den Verachteten die Stelle aus der «Politeia» und sahen darin nicht nur einen vorweggenommenen Kommentar zum Golgatha-Geschehen, sondern auch eine Deutungsfolie für ihr eigenes Geschick.

In den Märtyrer-Akten ist von Christen die Rede, die ihren paganen Richtern den Prozess gegen Sokrates vorhielten und sie daran erinnerten, dass schon im alten Athen Gerechte mit Verleumdungen zu Tode gebracht worden waren. Der Märtyrer Apollonius führte in seiner Apologie erstmals wortwörtlich Platons Wort vom gekreuzigten Gerechten an und kombinierte es mit der Bibelstelle: «Lasst uns dem Gerechten auflauern! Er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Weg.» (Weisheit 2, 12) In seiner Verteidigungsrede machte er deutlich, dass Richter, die für Gerechtigkeit sorgen sollen, zu Anwälten des Unrechts werden, wenn sie falschen Zeugen glauben und Unschuldige verurteilen.

Christliche Vereinnahmung?

Auch der gelehrte Clemens von Alexandrien, der die Verfolgung unter Kaiser Severus miterlebt hat und dem Märtyrerschicksal durch Flucht entgehen konnte, weist zu Beginn des 3. Jahrhunderts darauf hin, dass der gekreuzigte Gerechte bei Platon ein Vorausbild Christi sei. In der Logos-Theologie des Alexandriners ist klar, dass nicht nur die Propheten Israels, sondern auch die Philosophen Griechenlands die Passion des Gottessohnes angekündigt haben.

Andernorts bezieht er die «Politeia»-Stelle direkt auf die verfolgten Christen und kombiniert sie mit einer Aussage des Apostels Paulus: «Wir sind zum Schauspiel geworden für die Welt . . . Wir werden beschimpft und segnen; wir werden verfolgt und halten stand; wir werden geschmäht und reden gut zu» (1. Korinther 4, 9). Clemens spannt hier einen geschichtlichen Bogen, der vom leidenden Gerechten bei Platon über Christus, den Gekreuzigten, bis hin zu den Aposteln reicht, die um des Glaubens willen bedrängt werden. Das Leiden der Märtyrer schreibt er in diese Linie ein.

Die frühen Christen waren fasziniert, dass dort, wo die griechische Philosophie zum höchsten Begriff des Menschen vordringt, das Zeichen des Kreuzes aufscheint. Sie haben in der «Politeia»-Stelle ganz selbstverständlich eine Vorwegnahme des Evangeliums gesehen. Heute mag eine solche Lesart kühn erscheinen und als Akt christlicher Vereinnahmung abgelehnt werden. Schon Platons Rede vom gekreuzigten Gerechten zeigt freilich die Anstössigkeit des Kreuzes: zum einen als Mahnung, dass Zeugen der Wahrheit oft mundtot gemacht werden; zum anderen als Spiegel, der kollektive Verblendung aufdeckt, Lüge überführt und Unrecht benennt. Eine christliche Deutung kann daran anschliessen, sieht im Kreuz aber zugleich das Zeichen der Versöhnung. Jesus schreit auf Golgatha nicht nach Rache, er bittet sterbend für seine Peiniger um Vergebung.

Jan-Heiner Tück lehrt als Professor am Institut für Systematische Theologie der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien.
elisabethvonthüringen
Papst lässt 19 algerische Märtyrer seligsprechen 🤨 🥴
Eine katholische Prozedur in einem muslimischen Land: Papst Franziskus hat in Algerien 19 von der Kirche als Märtyrer verehrte Menschen seligsprechen lassen. religion.orf.at/stories/2952109/
elisabethvonthüringen
<<Die frühen Christen waren fasziniert, dass dort, wo die griechische Philosophie zum höchsten Begriff des Menschen vordringt, das Zeichen des Kreuzes aufscheint.<<
Die (zu?) spät kommenden Christen scheint nix mehr zu faszinieren, weder ein geschichtlicher Bogen, noch ein "Leidender Gerechter" oder sonstige "Platonische" Erkenntnisse. Man höre (und ertrage!) nur die Fürbitten zu den milieubedingten …Mehr
<<Die frühen Christen waren fasziniert, dass dort, wo die griechische Philosophie zum höchsten Begriff des Menschen vordringt, das Zeichen des Kreuzes aufscheint.<<
Die (zu?) spät kommenden Christen scheint nix mehr zu faszinieren, weder ein geschichtlicher Bogen, noch ein "Leidender Gerechter" oder sonstige "Platonische" Erkenntnisse. Man höre (und ertrage!) nur die Fürbitten zu den milieubedingten WoGoDi's! 🙄