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Neuneinhalb Thesen gegen Martin Luther

Deutschland plant das Lutherjahr 1517 – und übersieht gern die dunkle Seite des Reformators: Fundamentalismus, Judenhass, Hexenwahn, Apokalyptik. Kritische Bemerkungen zu irrigen Annahmen über Luther.

Am 31. Oktober 1517 schlägt der Augustinermönch Martin Luther 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Zum 500. Jahrestag des Thesenanschlags soll die Welt das Wirken Luthers feiern.
Die offiziöse Sicht auf den Reformator fasst die Luther-Botschafterin der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), Margot Käßmann, in ihrem Buch "Mehr als Ja und Amen" so zusammen: "Luthers Freiheitsbegriff hat große Konsequenzen nach sich gezogen. 'Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit' als Parole der Französischen Revolution hat im Gedanken der Freiheit eines Christenmenschen durchaus Wurzeln. Am Ende ist der Bogen bis zur Aufklärung zu spannen."
Luther ist sicher der größte Prophet seit Mohammed. Er ist jedoch weder Freiheitsapostel noch Vorläufer der Aufklärung. Wie sein Biograf Richard Marius schrieb, bedeutete Luther "eine Katastrophe für die westliche Zivilisation".
1. Luther ist kein Aufklärer. Er ist ein religiöser Fundamentalist.
Ende des 15. Jahrhunderts führen die Wiederentdeckung der Antike, das Studium des Aristoteles und die Verweltlichung der Kirchenhierarchie dazu, dass sich in der europäischen Elite ein toleranter Skeptizismus breitmacht, am besten verkörpert in den Humanisten um Erasmus von Rotterdam. Dieser Bewegung gegenüber vertritt Luther eine buchgläubige Intoleranz: "Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt noch tot mehr als lebendig!"

2. Im 16. Jahrhundert gibt es eine breite Bewegung für eine Reform der Kirche.Die Vernunft bezeichnet Luther als "des Teufels Hure". Die Astronomie des Kopernikus lehnt er ab, weil sie der Bibel widerspricht: "Der Narr will mir die ganze Kunst Astronomia umkehren! Aber wie die Heilige Schrift zeigt, hieß Josua die Sonne stillstehen und nicht die Erde!" Wo Schrift und Verstand einander widersprechen, ist Luther immer für die Schrift und "will doch meinen Verstand gefangen nehmen unter den Gehorsam Christi". Luther verhilft dem Fundamentalismus zum Sieg über den aufklärerischen Humanismus.
Luther jedoch will keine Reformen, sondern eine "Reformation": eine Neu-Formierung der Kirche gemäß seiner Lehre. Der Papst ist für ihn der "Antichrist" im Dienst des Teufels: "Wenn wir Diebe mit dem Galgen, Räuber mit dem Schwert und Häretiker mit dem Feuer bestrafen, warum werfen wir uns nicht umso stärker mit allen unseren Waffen auf diese Herren der Sündhaftigkeit, diese Kardinäle, diese Päpste und diesen Sumpf römischer Sodomie, die unablässig die Kirche Gottes befleckt, und waschen unsere Hände in ihrem Blut, um uns ... zu befreien"? Das ist wörtlich gemeint.
3. Luther hat die Frohe Botschaft in ihr Gegenteil verkehrt.
Der befreiende Kern der christlichen Botschaft lautet: Jesus ist für die Sünden der Menschen gestorben. Die Rechnung mit Gott ist beglichen. Diese Botschaft hat Luther bei Augustinus und Paulus wiederentdeckt. Doch würde diese Botschaft, konsequent zu Ende gedacht, auch die Entlassung der Menschen in die völlige Freiheit bedeuten. Kirche, Liturgie, Sakramente, ja der Glaube selbst wären überflüssig.
Befreiung aber will Luther so wenig wie sein Lehrer Augustinus, der große Pessimist der Antike. Luther will ja die totale Unterwerfung des Menschen, das Leben als Buße. Wie Luther schreibt: "Das ist die höchste Stufe des Glaubens, zu glauben, jener (Gott) sei gütig, der so wenige selig macht..."
4. Luther predigte einen eliminatorischen Antisemitismus.
"Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird ... die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt." So bejubelte der evangelisch-lutherische Landesbischof Martin Sasse aus Eisenach die Reichskristallnacht.
Er fährt fort: "In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden."
Dass Luther "als Freund der Juden begann", ist ein Gerücht. Dass er ein großer Antisemit war, ist richtig. So stammt von ihm eine der ersten Formulierungen der Mär von der "jüdischen Weltverschwörung". Luther schreibt: "Die Juden begehren nicht mehr von ihrem Messias, als dass er ein weltlicher König sein solle, der uns Christen totschlage, die Welt unter den Juden austeile und sie zu Herren mache."
Auch die Losung "die Juden sind unser Unglück" findet sich bereits bei Luther wieder: "Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding ist's um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen."
Und schließlich entwirft Luther ein antisemitisches Aktionsprogramm, das erst von den Nazis umgesetzt wurde: "Erstlich, dass man ihre Synagoga oder Schulen mit Feuer anstecke ... Zum anderen, dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre ... Zum dritten, dass man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein ... Zum vierten, dass man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren ... Zum fünften, dass man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe ... Zum sechsten, dass man ... nehme ihnen alle Barschaft und Kleinod an Silber und Gold und lege es beiseite zum Verwahren ... Zum siebten, dass man den jungen starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiß der Nasen ... " Zu Recht sagt der Nazi-Propagandist Julius Streicher vor dem Nürnberger Militärtribunal: "Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank", wenn er noch lebte. Dorthin gehört er aber auch heute.
5. Luther identifiziert den Kapitalismus mit dem Wucher und den Wucher mit dem Judentum.
Luther wendet sich in seinem kleinen und großen "Sermon vom Wucher" und in der Schrift "Von Kaufshandlung und Wucher" gegen zwei Grundlagen der Marktwirtschaft: die Bildung von Preisen am Markt und die Finanzierung von Geschäften mittels Kredit. Die Kreditwirtschaft gilt ihm als Teufelswerk.
Die Titelblätter aller drei Werke gegen den Geldhandel zieren Bilder geldgieriger Juden. Der Einfluss dieser protestantischen Wirtschaftsethik ist in der Unterscheidung zwischen "raffendem" und "schaffendem" Kapital bei den Nazis zu spüren, wirkt aber auch heute nach, etwa im Misstrauen gegen "die Märkte", das "Finanzkapital" oder "die Wall Street".
6. Luther begründet die Autoritätshörigkeit des Protestantismus.
Die deutschen Fürsten, Ritter, Bürger und Bauern wollen "los von Rom" und das Eigentum der Kirchen und Klöster an sich ziehen. Daher genießt Luther deren Schutz. Im Gegenzug verpfändet er die Religion an die Fürsten, bis es zum Augsburger Religionsfrieden kommt. Cuius regio, eius religio: Der Landesherr bestimmte die Religion seiner Untertanen. Aus dem Gegensatz von Staat und Kirche im Mittelalter wird die Staatskirche der Neuzeit.
Mit Demokratie hat Luther nichts am Hut: "Der Esel will Schläge haben, und der Pöbel will mit Gewalt regiert sein. Das wusste Gott wohl; drum gab er der Obrigkeit nicht einen Fuchsschwanz, sondern ein Schwert in die Hand." Der große demokratische Aufstand des 16. Jahrhunderts ist der deutsche Bauernkrieg. Luther jedoch ruft im Interesse der Fürsten zum Kreuzzug "wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern" auf. "Man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss." Das Scheitern der Bauern begründet Deutschlands politische Rückständigkeit auf Jahrhunderte.
7. Luther hat den Hexenwahn und die Hexenverfolgung gefördert.
"Es ist ein überaus gerechtes Gesetz, dass die Zauberinnen getötet werden, denn sie richten viel Schaden an, was bisweilen ignoriert wird", schreibt der Reformator. Hexen könnten "Milch, Butter und alles aus einem Haus stehlen, … ein Kind verzaubern, … geheimnisvolle Krankheiten im menschlichen Knie erzeugen … Schaden fügen sie nämlich an Körpern und Seelen zu … Die Zauberinnen sollen getötet werden, weil sie Diebe sind, Ehebrecher, Räuber, Mörder …" Der Hexenwahn ist kein "mittelalterliches" Phänomen: In den protestantischen Teilen des Reichs ist die Hexenverfolgung schärfer als im katholischen Teil.
8. Luther sieht den Platz der Frau unter dem Mann – in jeder Hinsicht.
"Wer mag alle leichtfertigen und abergläubischen Dinge erzählen, welche die Weiber treiben. Es ist ihnen von der Mutter Eva angeboren, dass sie sich äffen und trügen lassen." So Luther über das, was spätere Frauenhasser den angeborenen Schwachsinn des Weibes nennen werden. Luther-Apologeten weisen auf seine Heirat mit der entlaufenen Nonne Katharina von Bora hin. Dadurch habe er die Frau aufgewertet.
Mit der Auflösung der Klöster verlieren die Frauen jedoch einen Ort, an dem sie vor männlicher Zudringlichkeit sicher sind. Fortan ist ihr Platz – in jeder Hinsicht – unter dem Mann: "Der Tod im Kindbett ist nichts weiter als ein Sterben im edlen Werk und Gehorsam Gottes. Ob die Frauen sich aber auch müde und zuletzt tot tragen, das schadet nichts. Lass sie nur tot tragen, sie sind darum da."
9. Luther ist nicht unser Zeitgenosse, sondern Prophet der Endzeit.
Luther hätte die Moderne gehasst. Er will die Menschen angesichts des kommenden Weltenendes nicht befreien, sondern dem Willen Gottes unterwerfen. Der Chiliasmus, die Vorstellung, das Ende unserer Welt stehe bevor, ist die Grundlage aller blutigen Revolutionen. Luther hat der pluralistischen, individualistischen, permissiven, marktwirtschaftlich und demokratisch angelegten Gesellschaft des Westens kaum mehr zu sagen als etwa der Ayatollah Khomeini, mit dem er sich vermutlich besser verstehen würde als mit Margot Käßmann.
9,5. Ach und übrigens: Der Ablasshandel war eine gute Sache.
Im Mittelalter lehrt die Kirche, dass sie durch die Heiligen und Märtyrer einen "Gnadenschatz" aufgehäuft habe, an dem alle Christen durch gute Werke teilhaben könnten. Im Rahmen dieser Ökonomie der Gnade ist der Ablasshandel zu verstehen. Durch ihn können sich die Menschen von der Höllenangst freikaufen. Es ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Der Sünder bekommt einen Teil seiner Zeit im Fegefeuer erlassen, der Papst erhält die Mittel zum Bau des Petersdoms und zur Förderung der Künste. Der Ablass ist eine Art Lebensversicherung für die Zeit nach dem Tod. Übrigens mit gestaffelten Sozialtarifen: Auch der Arme kann die Gewissheit ewigen Lebens erlangen.
Nun kann man das alles als Aberglauben abtun. Doch die Menschen klammerten sich damals angesichts von Pest und Elend an die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod. Der Ablass gibt ihnen die Hoffnung, trotz Sünden dem Gericht Gottes zu entgehen. Luther wettert jedoch nicht nur gegen den Ablasshandel, sondern gegen den Ablass selbst.
Dagegen setzt Luther in seiner ersten Wittenberger These die Forderung: "Das ganze Leben solle Buße sein." Luther will die Menschen nicht von ihrer Angst befreien, sondern die Angst zum ständigen Lebensbegleiter machen. Dass der Mensch nichts tun könne, um der Verdammnis zu entgehen, dass er "ein Stück Scheiße" sei, ist der zentrale Glaubensartikel Luthers, die Ergänzung seiner Lehre von der unverdienten Gnade Gottes.
Indem er den Menschen die Möglichkeit nimmt, sich von der Strafe freizukaufen, unterwirft er sie einer masochistischen Auffassung vom rechten Leben: "Daher bleibt die Strafe, solange der Hass gegen sich selbst – das ist wahre Herzensbuße – bestehen bleibt ... Aufrichtige Reue begehrt und liebt die Strafe. Die Fülle der Ablässe aber macht gleichgültig und lehrt sie hassen ..." Selbsthass statt Befreiung: Was für eine finstere Lehre!
quelle: www.welt.de/…/Neuneinhalb-The…