Eugenia-Sarto
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Gegen die Meinung der Rationalisten über die Heilige Schrift. Leo XIII.

"... Doch zuerst ist es von Interesse, an dieser Stelle zu erfahren, welche Art Gegner uns bedrängt, und auf welche Kunstgriffe oder Waffen sie ihr Vertrauen setzen. – Früher nämlich hatte man es vornehmlich mit Leuten zu tun, welche auf ihr Privaturteil gestützt die göttlichen Überlieferungen und das Lehramt der Kirche verwarfen und die Schrift als einzige Offenbarungsquelle und als höchste Glaubensrichterin betrachteten. Heutzutage aber haben wir gegen die Rationalisten zu kämpfen, welche gewissermaßen deren Söhne und Erben sind und ebenfalls auf ihre subjektive Ansicht bauen. Sie haben sogar noch diese von ihren Vätern ererbten Überreste des christlichen Glaubens gänzlich beiseite geworfen. Denn die Existenz einer göttlichen Offenbarung, einer Inspiration und Heiligen Schrift stellen sie ganz und gar in Abrede; das sind nach ihrer Behauptung durchweg nur Erzeugnisse des Menschengeistes und Erdichtungen. Ja, sie sollen nicht wahre Erzählungen historischer Tatsachen sein, sondern einfältige Phantasiegebilde oder Geschichtslügen; nicht Prophetien und göttliche Aussprüche, sondern teils erdichtete, den Ereignissen nachfolgende Vorhersagungen, teils durch Naturkräfte erzeugte Vorahnungen; nicht Wunder im wahren Sinne und Erweise göttlicher Kraft, sondern Staunen erregende Dinge, welche die Naturkräfte keineswegs übersteigen, oder Blendwerke von Mythen; die Evangelien und apostolischen Schriften sollen ganz andern Verfassern angehören. – Dergleichen ungeheuerliche Irrtümer sind es, durch welche, wie sie sich träumen, die hochheilige Wahrheit der göttlichen Bücher erschüttert werden soll; diese nötigen sie als die ausgemachten Entscheidungen einer neuen Art, der sogenannten „freie Wissenschaft“ auf. Und doch halten sie dieselben für so ungewiss, dass sie selbst in den nämlichen Punkten häufig Änderungen und Ergänzungen vornehmen. Trotz dieser freventlichen Ansichten und Äußerungen über Gott, über Christus, über das Evangelium und die übrige Schrift, fehlt es unter ihnen doch nicht an Leuten, welche für die christliche und evangelische Theologen gelten wollen und mit diesem Ehrennamen die Dreistigkeit ihrer unbändigen Geistesrichtung verhüllen. Zu diesen gesellen sich als Teilnehmer und Förderer ihrer Pläne nicht wenige Vertreter anderer Wissensgebiete, welche ein ähnlicher Zug des Widerwillens gegen die Offenbarungswahrheiten zum Angriff auf die Bibel drängt. Wir können nicht genug beklagen, dass dieser Kampf von Tag zu Tag an Umfang und Festigkeit zunimmt. Geführt wird er gegen gebildete und gesetzte Männer, obwohl sich diese ohne große Schwierigkeit dagegen schützen können; am meisten jedoch stürmen die ergrimmten Feinde mit zielbewusster Planmäßigkeit auf die große Waffe der Ungebildeten ein. Bücher, Broschüren, Tagesblätter benutzen sie, um ihr tödliches Gift auszugießen; dies träufeln sie ein in Volksreden und in Privatunterhaltungen. In alle Kreise sind sie schon eingedrungen und haben viele von der schützenden Hand der Kirche losgerissene Schulen im Besitz, wo sie die empfänglichen und bildsamen Herzen der Jugend sogar durch Spott, Possenreißen und Scherze zur Verachtung der Schrift verleiten und sie kläglich verderben. – Das ist es, Ehrwürdige Brüder, was den Eifer der Hirten allesamt erwecken und entzünden soll, so zwar, dass dieser neuen, „fälschlich so genannten Wissenschaft“[27] jene alte und wahre entgegengestellt wird, welche die Kirche durch die Apostel von Christus empfangen hat, und dass bei diesem erbitterten Kampf tüchtige Streiter zur Verteidigung der Heiligen Schrift erstehen..."

aus: Providentissimus Deus.