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Kultur (Print Welt)

Goethe, missbraucht

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Ein herrischer, verächtlicher Ruf aus dem Grab: Gerold Beckers Todesanzeige stilisiert den ehemaligen Leiter der Odenwaldschule zum Opfer

Es hatte ein rauschendes, ein fröhliches und ein stolzes Fest werden sollen, man hätte das der Schule gewünscht. Doch als die Odenwaldschule Ende vergangener Woche ihr hundertjähriges Jubiläum beging, wurde es ein trauriges, zu Teilen reflexives, selbstkritisches Fest. Aus guten Gründen. Denn als vor Monaten die Festvorbereitungen schon voll im Gange waren, wurde die liberale Öffentlichkeit durch üble Nachrichten aufgeschreckt: An der Schule, die eines der großen Leuchtturmprojekte reformerischer Pädagogik darstellt, sind vor gar nicht so langer Zeit Schüler (und zum Teil auch Schülerinnen) von Lehrern sexuell belästigt und auch missbraucht worden, nicht ein- oder zweimal, sondern ziemlich systematisch.

Natürlich war das ein Thema auf der Hundert-Jahr-Feier, und nicht selten war auf den Gängen zu hören, was wohl wäre, wenn jetzt plötzlich einer der Lehrer, denen Missbrauch vorgeworfen wird, auftauchen würde: Gerold Becker. In der scheuen Frage schwang das Bedürfnis mit, diesen Gerold Becker, der zuletzt so hartnäckig geschwiegen hat, befragen zu können: Wie war es möglich, dass Sie..., dass du...? Becker konnte nicht kommen, denn in der Nacht zuvor war er, wie sich unter den irritiert Feiernden schnell herumsprach, gestorben.

Den Vorhang hat er oder haben seine Vetrauten effektvoll zugezogen - auf erschreckende Weise. Gerold Becker, schon geraume Zeit schwer krank, wollte sich lange zu den Vorwürfen gar nicht äußern, am Ende hat er eine flüchtig hingeworfene, sehr allgemeine Entschuldigung geschrieben, der das Fehlen von Reue anzumerken war. Und sein Lebensgefährte, der Pädagoge Hartmut von Hentig, hatte sogar die Stirn, Beckers Opfer als Verführer, als die wahren Schuldigen zu verunglimpfen. Nun aber wurde Gerold Becker mit einer Todesanzeige verabschiedet, die am Samstag in der "Süddeutschen Zeitung" und am Montag in der FAZ erschien. Sie enthielt die Lebensdaten Beckers, den Namen der Trauernden und den Hinweis, dass die Urne "im Kreise seiner Familie und seiner engsten Freunde" beigesetzt werde. Über dem ganzen prangte ein Zitat aus einem Gedicht Goethes.

Es lautet so: "'Die Feinde, die bedrohen dich, / Das mehrt von Tage zu Tage sich; / Wie dir doch gar nicht graut!' / Das seh' ich alles unbewegt, / Sie zerren an der Schlangenhaut, / Die längst ich abgelegt. / Und ist die nächste reif genug, / Abstreif' ich die sogleich, / Und wandle neu belebt und jung / Im frischen Götterreich." Die Zeilen stammen aus den "Zahmen Xenien", die Goethe um 1815 herum, also nach unseren Begriffen im Rentenalter geschrieben hat. Diese Xenien sind mal elegant, mal absichtsvoll holpernd geschrieben, es geht darin um Gott und die Welt, um ganz Großes und ganz Kleines, und mit besonderer Lust verbreitet sich der Autor ironisch, sarkastisch und - durchaus gewöhnlich - in den Eingeweiden des Alltags wühlend. Oft beantwortet er, wie in diesen Zeilen, eine imaginäre, vorweggestellte Frage eines Gegenübers.

Wer auch immer dieses Zitat ausgesucht hat, das ist ein starkes Stück. Gewiss, jeder hat das Recht, seine Todesanzeigen mit was auch immer zu schmücken, und ein Gedicht bleibt immer ein Gedicht. Aber das ändert nichts daran: Hier zeigt Gerold Becker noch einmal und final all jenen eine lange Nase, die unter ihm gelitten haben und/oder gerne Auskunft, Erklärung von ihm bekommen hätte. Ohne jedes Mitgefühl, ohne Bescheidenheit, voller Hochmut, ja Verachtung setzt er sich von seinen angeblichen Verfolgern ab und deutet - ein bekanntes Modell - sich selbst vom Täter zum Opfer um. Die Botschaft: Ihr könnt mir nicht - ich habe jene Gefilde ewiger Jugend erreicht, um die es in einem Teil der Reformpädagogik ja immer ging.

Wie groß und herrisch dieser Hochmut ist, verdeutlich ein Detail: die Tatsache, dass das Goethe-Zitat an einer Stelle verändert, um nicht zu sagen: gefälscht ist. Bei dem mit Haltungen spielenden Goethe ist von der Schlangenhaut die Rede, "die jüngst ich abgelegt". Daraus wurde in der Anzeige "die längst ich abgelegt". Wenn er überhaupt je von Tag zu Tage bedrohlichere Feinde hatte, dann hatte sie Becker nicht in "längst" vergangenen Zeiten, sondern durchaus "jüngst". Die aktuellen Enthüllungen, die viele verletzt und verstört haben, werden hier aber zu einer entrückten Petitesse aus grauer Vorzeit.

Das Ganze ist ein kleines Lehrstück. Die deutsche Reformpädagogik hat einen freiheitlichen, aber auch einen elitär-aristokratischen Zug: Man fühlt sich im Kreise derer, denen der Plebs nichts anhaben kann, die über dem Gesetz stehen. Die Todesanzeige ist ein düsteres Beispiel für diesen Geist. Es wäre schlimm, bliebe das das letzte Wort der Reformpädagogik. Sie, die gebraucht wird, würde sich damit selbst richten.

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