Entkernter Altbau

Ist es sinnvoll und nützlich, philosophische Klassiker der Antike in Neuübersetzungen zu aktualisieren? – Alain Badious Adaption von Platons «Politeia» nährt Zweifel daran, diese Frage zu bejahen.

Christoph Horn ⋅
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Platons Akademie mit dem Philosophen in der Mitte. – Mosaik, gefunden in Boscotrecase. (Bild: MaxPPP/Leemage/ Keystone)

Platons Akademie mit dem Philosophen in der Mitte. – Mosaik, gefunden in Boscotrecase. (Bild: MaxPPP/Leemage/ Keystone)

Wozu mag eine frei nachempfundene «Übersetzung» von Platons «Politeia» gut sein? Erfährt man in Alain Badious Adaption Neues über den antiken Philosophen, etwa weil sein staatsphilosophisches Hauptwerk zur Kenntlichkeit verfremdet wird? Oder eher etwas über den Übersetzer, der einen philosophischen Klassiker so modifiziert, wie sich zeitgenössische Kunst bisweilen die Werke der Vergangenheit aneignet? Oder gelingt es vielleicht gar, ein Licht auf Sachprobleme zu werfen, die wir Heutigen mit Platon (427–347 v. Chr.) gemeinsam haben? Mit seiner «République de Platon» (2012), die nun in einer gut lesbaren deutschen Übersetzung vorliegt, gibt uns der französische Philosoph Alain Badiou Rätsel auf. Auch wenn er sein Vorgehen im Vorwort reflektiert, bleiben doch erhebliche Zweifel am Sinn des Projekts.

Szenenwechsel

Badiou behält immerhin das Thema des platonischen Dialogs «Politeia» bei, die Frage nach der Gerechtigkeit, und orientiert sich zudem relativ genau an der Folge der Argumente. Preisgegeben wird die antike Bucheinteilung zugunsten von sechzehn thematisch fokussierten Kapiteln. Die Dialogteilnehmer, u. a. Sokrates, Kephalos, Thrasymachos, bleiben präsent. Allerdings wird mit Amantha – anstelle von Adeimantos – eine weibliche Figur neu eingeführt; sie und Glaukon sind Geschwister Platons, was eine literarische Distanzierung vom Original erlaubt und es dem Badiouschen Sokrates ermöglicht, den Geschwistern gelegentlich anzuzeigen, wo er mit deren Bruder so gar nicht übereinstimmt. Die Sokratesfigur artikuliert Badious Ansichten viel weniger direkt als diejenige im Originaltext die Auffassungen Platons; die Rollen und Redeanteile sind stärker verteilt. Auch den Gesprächsstil hat Badiou gegenüber Platons Original deutlich abgewandelt. Wir haben es mit einer saloppen und munteren Konversation zu tun, die viele – antike und moderne – Zitate enthält. Weitgehend aufgegeben ist der Stil einer Thesen prüfenden Argumentation, wie sie für Platons Dialektik zentral ist.

Oberflächlich gesehen wirkt das Ergebnis wie bei einem entkernten und sanierten Altbau, der sich für Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts attraktiv und bewohnbar ausnimmt. Jedoch sitzt Badiou zunächst einmal in Sachen Dialoginszenierung einem simplen Wissens- oder Interpretationsdefizit auf: Sokrates' Gesprächspartner sind bei Platon nie als beflissene Ja-Sager konzipiert, sondern als Mitdenkende, die in kleinen Schritten eine Argumentation nachvollziehen, während genau jene langen, literarisch ambitionierten und blumigen Reden, wie Badiou sie uns anbietet, von Platon als philosophisch inadäquat – als blosse «makrologia» – verworfen werden.

Damit sind wir beim Kern des Problems: Wo liegt der Sinn einer interpretierenden Übersetzung, die einem philosophischen Klassiker das Zentrum seiner eigenen Anliegen und Überzeugungen wegnimmt und diese Operation dann als eine Auseinandersetzung mit ihm verkauft? Manche mögen Badious Meinungen dem Common Sense nach für plausibler halten. Aber genügt das zur Rechtfertigung einer weitschweifigen, umdeutenden Rekonstruktion? Betrachten wir einige Beispiele.

Zunächst: Gerechtigkeit bildet für Platon eine moralische Tugend, die auf Wissen beruht. Dieses Wissen erscheint als ein praxisnahes Anwendungswissen, weil es – irgendwie – einer handwerklich-technischen Kompetenz («technê») gleicht. Später in der «Politeia» fundiert Platon Gerechtigkeit im Wissen von den «angeborenen» Ideen. Für uns sind dies alles fernliegende Überzeugungen. Und tatsächlich kommt Badiou überhaupt nicht mit ihnen zurecht. Einmal lässt er sie unverändert stehen, ein andermal streicht er sie komplett und ersetzt sie durch eigene Gedanken – eine thematische Aktualisierung gelingt ihm dabei nicht.

Sodann: Gerechtigkeit bildet für Platon primär ein individualethisches Thema, das institutionenethische Problem der bestmöglichen Polis kommt erst indirekt ins Spiel, nämlich angesichts der Frage, ob sich die persönliche Orientierung an Gerechtigkeit für den Gerechten «bezahlt» mache. Um die Konstruktion der idealen Stadt – «kallipolis» – zu verstehen, muss man sie also auf Platons Ethik zurückbeziehen; sie hat letztlich mit der Frage zu tun, wie ein Individuum und eine soziale Gemeinschaft jeweils in einer optimalen psychischen Verfassung («Wohlgeordnetheit») leben können. Doch statt diese nicht gerade modernitätstauglichen Aspekte zu berücksichtigen, verfällt Badiou in ein ungebremstes utopisches Politisieren und skizziert einen kommunistischen Idealstaat. Hier streicht er viele (heute tatsächlich unhaltbare) platonische Überzeugungen einfach durch: etwa die der «edlen Lüge», durch die die soziale Schichtzugehörigkeit jedes Individuums festgeschrieben werden soll, oder das Philosophenkönigtum, das Badiou durch ein allgemeines Philosophentum ersetzt: Alle sind wir Philosophen.

So verständlich dieser Antiplatonismus auch sein mag, es ist schon gravierend, dass Badious Sokrates damit einen Standpunkt vertritt, den Platon seinen Protagoras im gleichnamigen Dialog verkünden lässt – und dabei zweifelsfrei ablehnt: die These von der politischen Kompetenz aller Bürger. Für Platon gründet sich Politik auf Expertenwissen. Das scheint uns falsch, gefährlich und überdies schwer nachvollziehbar zu sein, sicher. Aber niemand zwingt uns ja, platonischen Gedanken einen heute überzeugenden Sinn zu verleihen.

Störend an Badious Nacherzählung ist des Weiteren, dass die gesamte Metaphysik aus ihr kurzerhand gestrichen ist. Die platonische Ideen-Ontologie und Zwei-Welten-Lehre wird ersetzt durch eine schlichte Medienkritik. Dabei wird der Bildgehalt des Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnisses so modifiziert, dass die für Platon defizienten Modi des Seins und des Wissens sich einfach in Gesellschafts- und Bewusstseinszustände verwandeln, die von der bösen kapitalistischen Medienwelt verdunkelt sind. Nur der Philosoph, der in Badious Version des Gleichnisses vom Staatsschiff – inkonsistenterweise – dann doch wieder als platonischer Politikexperte erscheint, verfügt über eine Identität und ein Wissen, die es erlauben, diese Zusammenhänge aufzudecken.

Diese Passagen (Kapitel 10 bis 12) sind zweifellos die schwächsten und enttäuschendsten. Aber auch der Rest bezieht seinen möglichen Reiz primär aus einem literarischen Spiel, das keinen erkennbaren philosophischen Sinn hat. Das Unternehmen, mit Platon über dessen Probleme zu diskutieren oder über solche, die ihm und uns gemeinsam sind, ist gescheitert. Zugegeben, man weiss hinterher etwas mehr über Badious politische Überzeugungen. Aber die argumentative Kraft, die das Original, unerachtet der vertretenen politischen Ansichten, zum Klassiker macht, wird nicht erschlossen.

Oberflächlichkeit

Ein wesentlicher Aspekt der platonischen Dramaturgie besteht darin, dass die Dialogteilnehmer jeweils relativ zu einem bestimmten Verständnisniveau geschildert werden. Eben das leisten die Rahmenpartien der Dialoge durch die Präsentation eines Settings, einer bestimmten sozialen Konstellation. Dies verleiht dem eigentlichen Inhalt des Dialogs samt der ihn philosophisch tragenden Argumentationsstruktur stets eine charakteristische Indirektheit, während die vordergründige Gesprächsform häufig so lebendig und «direkt» wirkt. Was Platon aber zu verstehen geben will, ist wohl, dass nur dieser argumentative Gehalt philosophisch zählt – sonst nichts. Ihm soll der Leser nach der Lektüre unabhängig vom Dialogszenario weiter nachgehen. Dass nun ein Interpret oder Übersetzer gerade den Gesprächsstil aufgreift und spielerisch abwandelt, modernisiert oder parodiert, aber von Platons philosophischen Überzeugungen nichts teilt und auch deren argumentative Architektur ignoriert, wäre dem antiken Philosophen sicherlich als ein Missverständnis erschienen, das von Oberflächlichkeit zeugt.

Alain Badiou: Platons «Staat». Dialog in einem Prolog, sechzehn Kapiteln und einem Epilog. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. Diaphanes, Zürich, Berlin 2013. 388 S., Fr. 40.90.