Das Bild war naheliegend. Nachdem der ehemalige SPD-Hoffnungsträger Martin Schulz erst den SPD-Vorsitz hingeworfen und dann mit seinem Ziel, Außenminister zu werden, Schiffbruch erlitten hatte, drängte sich der Begriff praktisch auf: Die von ihm designierte Nachfolgerin Andrea Nahles sei die „Trümmerfrau der SPD“.
Richtig ist, dass die einst so stolze Sozialdemokratische Partei derzeit einer Ruine nicht unähnlich ist. Ganz gleich, ob man Nahles das notwendige Aufbauwerk zutraut oder nicht, ist es jedoch aus gleich mehreren Gründen ziemlich vermessen, sie in einen Zusammenhang mit den echten Trümmerfrauen der Nachkriegszeit zu stellen. Denn zumindest war Nahles, Spitzenfunktionärin der SPD seit 1995, am jüngsten Niedergang ihrer Partei wesentlich beteiligt. Eine auch nur annähernd ähnliche Rolle spielte keine Frau auf dem Weg, der Deutschlands Städte während des Zweiten Weltkrieges in Trümmer sinken ließ.
Auch wenn das Wort „Trümmerfrauen“ in Deutschland weithin bekannt ist, besteht Uneinigkeit darüber, was sie denn wirklich geleistet haben. Zum Beispiel grüne Lokalpolitiker in München und manche Genderhistorikerinnen versuchten, den positiven Mythos der „Trümmerfrauen“ zu zerstören.
Ihrer Ansicht nach seien es vorwiegend NS-belastete Männer gewesen, die das erste Aufbauwerk geleistet hätten. Eine andere These lautet, nur winzige Teile der weiblichen Bevölkerung hätten als Trümmerfrauen geschuftet. Drittens seien die bekannten Fotos meistens gestellt.
Letzteres ist nicht ganz falsch, wie die äußerst eindrucksvollen Aufnahmen zeigen, die der Leipziger Karl Heinz Mai zum Beispiel im Jahr 1949 zwischen der Nord- und der Humboldtstraße, vom Stadtzentrum nur einen Steinwurf nach Norden entfernt, gemacht hat. Tatsächlich posieren da Frauen für den doppelt beinamputierten Fotografen in seinem Rollstuhl. Sie schauen in sein Objektiv. Niemand käme auf die Idee, dass es sich um Schnappschüsse handelte.
Doch das bedeutet nicht, dass die darauf zu sehenden Frauen keine Trümmerfrauen gewesen wären – im Gegenteil: Unzählige andere Aufnahmen zeigen, dass zu einem ganz wesentlichen Teil Frauen die Arbeit der Schuttbeseitigung leisteten. Diese Bilder sind nur nicht ganz so eindrucksvoll wie die Porträts, die zum Beispiel Mai gemacht hat, deshalb sieht man sie seltener.
Auch die anderen Versuche, das Narrativ von den Trümmerfrauen zu zerstören, führen in die Irre. So schrieb die Historikerin Leonie Treber in ihrer Doktorarbeit, Frauen hätten bei der Schuttbeseitigung in den deutschen Städten nur eine untergeordnete Rolle gespielt.
Ihre Methode: Sie berechnete unter anderem, welcher Anteil der weiblichen Bevölkerung an der offiziellen Trümmerbeseitigung beteiligt war. Selbst in Berlin, wo immerhin rund 60.000 Frauen zur Räumung des Kriegsschuttes eingesetzt wurden und bis zur Erschöpfung arbeiteten, habe es sich laut Treber nur um fünf Prozent der weiblichen Bevölkerung gehandelt, also kein Massenphänomen. In der britischen Zone seien sogar nur 0,3 Prozent der Frauen zum Einsatz gekommen.
Diese Berechnung mag mathematisch korrekt sein – inhaltlich führt sie jedoch in die Irre. Denn man darf nicht nur auf die offiziell für die Trümmerbeseitigung dienstverpflichteten Frauen schauen. Millionen Mütter in Deutschland leisteten im Kleinen Aufbauarbeit, indem sie für ihre Kinder und sich halbwegs bewohnbare Quartiere improvisierten. Diese Tätigkeiten gehören zum Bild der „Trümmerfrau“ ebenso wie das Beladen und Schieben von Schmalspurwaggons und das sprichwörtliche Steinklopfen, bei dem der Putz von Ziegeln zerstörter Gebäude entfernt wurde.
Außerdem waren es schon deshalb Frauen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Hauptlast der Schutträumung zu leisten hatten, weil es schlicht zu wenige Männer gab. Zu dieser Zeit saßen mehr als elf Millionen deutsche Soldaten zwischen 18 und 50 Jahren in Kriegsgefangenschaft. Weitere 5,3 Millionen Männer waren gefallen oder blieben dauerhaft vermisst. Zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln der männlichen Bevölkerung Deutschlands, die vom Alter her zu schwerer körperlicher Arbeit in der Lage waren, standen also nicht zur Verfügung. Hinzu kamen die Kriegsversehrten wie der Fotograf Karl Heinz Mai.
Seine eindrucksvollen Bilder, die erstmals anderthalb Jahrzehnte nach seinem frühen Tod mit nur 44 Jahren 1964 in einer Ausstellung zu sehen waren, verdienen eine Neuentdeckung. Sie sind ein, trotz mehrerer Fotobücher und Ausstellungen, bislang zu wenig beachteter Schatz – es lohnt sich, sie zu entdecken.
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