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Diskussionen um Flüchtlingskostüm: Warum WW-II-Verkleidung okay ist

Foto: Johanna Heckeley/ dpa

Streit über Flüchtlingskostüm Empörung geht immer

Im Netz verbreitet sich mal wieder eine Welle der Erregung. Auslöser: ein Flüchtlingskostüm im Angebot von Amazon. Doch der angebliche Skandal ist gar keiner. Sondern ein Paradebeispiel für die Tücken unserer Netzkultur.

Die Diskussionen um Flüchtlinge halten Deutschland seit Wochen im Bann, sie werden inzwischen auch in den letzten Winkeln des weit verzweigten WWW erbittert geführt. Selbst in den Kundenrezensionen von Amazon.

"Kinder-Kostüm 'Flüchtling - 1./2. Weltkrieg' für Mädchen & Jungen - Faschingskostüm" - das ist der Artikel im Angebot von Amazon, der die Gemüter erzürnt. Für die Mädchen ein schlicht gemustertes Kleid in beige und braun, der Junge auf dem Bild trägt eine braune Pluderhose, ein dreckig weißes Baumwollhemd, darüber einen grauen Pullunder und die für die damalige Zeit typische Schiebermütze. Dazu zwei kleine Koffer für das Nötigste, die aber gehören nicht zum Angebot.

Die Klamotten sehen auf eine unscheinbare Art überzeugend aus, aber genau das scheint das Problem. Denn ein Gros der Rezensenten auf Amazon fühlt sich durch die Textilien offensichtlich brüskiert. Und zwar, das ist unschwer aus den Kommentaren herauszulesen, ohne die Kostüme bestellt oder ausprobiert zu haben.

Alles nur ein Scherz?

"Flucht und Vertreibung - traumatische Ereignisse, über die unsere Eltern bis heute kaum sprechen können. Und unsere Enkel sollen sich nun einen Spaß daraus machen?", heißt es da. Oder: "Bitte nehmen Sie den Artikel sofort aus dem Programm! Einfach voll daneben!". Oder: "Wie wär's denn mit 'Ertrunkener Flüchtling mit nasser Kleidung, Schwimmweste und Paddel' oder so? Makaber, grauslich und geschmacklos! Ihr seid widerlich!"

Ein, nun ja, Kunde, kann der ganzen Sache insofern etwas Positives abgewinnen, als dass dieses Kostüm eine "wunderbare Möglichkeit [ist], daran zu erinnern, dass wir auch mal Flüchtlinge waren".

Für einen kurzen Moment wirkt das ganze wie ein Scherz, unwillkürlich denkt man an einen Streich à la Böhmermann. Vor allem, wenn man eine der wenigen positiven Kundenrezensionen mit fünf Sternen liest: "Meine Kinder und ich sind absolut begeistert von den Kostümen. Wir haben beim Kinderfasching jede Menge Komplimente bekommen. Einfach jeder fand meine Kinder hinreißend, denn sie sahen wirklich aus, als hätten sie alles verloren, grausame Bombennächte hinter sich und seien vollkommen traumatisiert aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen worden. Einfach klasse. Um das Ganze abzurunden, musste mein Mann aber leider zu Hause bleiben und wir erzählten augenzwinkernd, dass er an der Front gefallen sei."

Und plötzlich ist das Wissen da - und alles ist anders

Es ist aber kein Scherz, und das ahnt man schon, wenn man sich die anderen Artikel des Anbieters Fancy Me anschaut oder die Empfehlungen für vergleichbare Artikel. Dort gibt es nämlich auch allerhand andere Kostüme aus dieser Zeit, von der Krankenschwester über den Soldaten bis hin zu sogenannten Evacuees - Menschen, die vor Bomben Schutz in Luftschutzkellern suchen, inklusive Gasmaske. Dazu allerhand Accessoires wie passende Helme, Trillerpfeifen, Kartenmaterial.

Alles eine gigantische Geschmacklosigkeit? Ein Skandal? Ein Riesenaufreger?

Nein, ganz und gar nicht. Im Falle des Kostüms hat sich nämlich immerhin ein Rezensent die Mühe gemacht, etwas genauer hinzugucken. "Der Ursprung dieser Kostüme ist England, wo es auch die meisten Abnehmer dafür gibt. In England gibt es sehr viele Tage in Grundschulen, die sich um historische Ereignisse drehen, zu denen sich dann die Kids passend kleiden sollen, um Geschichte besser erfahren zu können, dazu gehört auch tatsächlich ein "2. Weltkrieg Tag". Eltern sind diesbezüglich dankbar, dass sie dann solche Kostüme für die Kids einfach bestellen können."

In der Tat hat das Nachstellen von Geschichte in England eine lange Tradition und erfreut sich einer breiten Beleibtheit. In ganz Großbritannien spielen die Menschen an sogenannten "1940s Weekends" das Leben in den Vierzigerjahren nach. Und zwar in allen Facetten des Zivil- und Kriegslebens. Vereine hegen und pflegen zeitgenössische Autos, Flugzeuge, Kriegs- und anderes Gerät und reisen damit zu den Treffen an.

Ausflug zur "Blitz-School"

Auch in den Schulen ist diese Form der gelebten Geschichte populär. So wird - nur ein Beispiel - beim "World War II Evacuee Day School Trip" für Schulklassen Live-Geschichte angeboten, bei der die Kinder, als Evakuierte verkleidet, lernen, wie man sich im Luftschutzbunker aufhält, eine Gasmaske aufsetzt oder den berühmten Woolton Pie, eine in England weit verbreitete Kriegsmahlzeit, zubereitet.

Um diese Form des Unterrichts hat sich eine regelrechte Service-Industrie entwickelt. Anbieter wie "Blitz School" werben mit Rundum-Sorglos-Paketen für den aufregenden Anschauungsunterricht, den perfekten Schulausflug in den - zumindest gespielten - Zweiten Weltkrieg. Und ja: Der wirkt natürlich erst dann richtig überzeugend mit dem richtigen Kostüm.

So. Wie sehen Sie die Sache jetzt? Immer noch entrüstet, wie vermutlich zu Beginn dieses Artikels? Vermutlich eher nicht. Und wenn Sie hier angekommen und nicht nach Absatz zwei dieses Textes zu Amazon gegangen sind um dort direkt einen Empörungskommentar abzugeben: Glückwunsch.

Denn der Skandal um das Flüchtlingskostüm ist, wie Sie merken, gar keiner. Im Gegenteil: Er ist stattdessen ein guter Beleg für die unschöne Dynamik der Erregung im Internet. Erst denken, dann schreiben - diese Regel gilt oft nicht mehr. Es reicht, sich der Empörung anderer anzuschließen, auch wenn sie jeder Grundlage entbehrt. Den Anbieter der Kostüme hat der wohlmeinende Mob vorerst erlegt: Sämtliche WW-II-Verkleidungen wurden aus dem Angebot entfernt.

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