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Tote in Kairo Gewaltorgie stürzt Ägypten in neues Chaos

Es sollte ein friedlicher Protest werden - und endete in einem Blutbad: In Kairo sind bei einer Kundgebung koptischer Christen mindestens 24 Menschen getötet worden, ein Armeefahrzeug überrollte Demonstranten. Ein halbes Jahr nach dem Sturz Mubaraks erlebt das Land einen neuen Ausbruch der Gewalt.
Von Viktoria Kleber
Tote in Kairo: Gewaltorgie stürzt Ägypten in neues Chaos

Tote in Kairo: Gewaltorgie stürzt Ägypten in neues Chaos

Foto: AMR ABDALLAH DALSH/ REUTERS

Hinter Kairo liegt eine Nacht des Schreckens: 24 Tote, mindestens 174 Verletzte - das ist die bittere Bilanz in den frühen Morgenstunden. Die Gewalt trifft Ägypten mit aller Wucht, nach dem Sturz von Präsident Mubarak hofften die Menschen eigentlich auf Freiheit und Frieden. Das alles scheint nun fraglich.

10.000 Christen und Muslime waren am Sonntagabend gemeinsam auf die Straße gegangen, um die Gewalt gegen Christen in Ägypten anzuprangern. Am Fernsehgebäude, nördlich vom Tahrir-Platz, wollten die Demonstranten zusammenkommen. Doch bereits auf dem Marsch dorthin von Schubra, einem Stadtteil in Kairo, wurden sie attackiert. "Steine wurden auf uns geworfen, Schüsse fielen", sagt Alfred Raouf, einer von ihnen. "Wir waren verunsichert." Das war erst der Anfang.

Vor dem Fernsehgebäude eskalierte die Situation. Das Militär und die Demonstranten stießen aufeinander. Wer die Auseinandersetzung initiierte, ist unklar. "Als wir ankamen, fing das Militär sofort an, mit Tränengas und Knüppeln auf uns zuzugehen", sagt Beshoy Fayez, ein Demonstrant. Andere Augenzeugen berichten, dass aus der Menge Steine auf die Armee geworfen wurde, ein Polizist eingekesselt und angegriffen wurde. "Wir waren nicht bewaffnet", sagt der Kopte Raouf, "wir demonstrierten gegen Gewalt." Es seien Schläger gewesen, die sich zwischen Muslime und Christen gemischt hätten, Unruhestifter. Da stimmen ihm die anderen zu.

Staatsfernsehen ruft Muslime zu Gewalt auf

Die Lage ist unübersichtlich - sicher ist bislang nur, dass das Militär heftig reagierte. Mit Tränengas und Schlagstöcken gingen Soldaten auf Demonstranten zu. Ein Armeefahrzeug stieß mehrmals mit hohem Tempo in die Menge - vorwärts, zurück, im Zickzack - und überfuhr zahlreiche Menschen. Das zeigen auch Fernsehbilder. Schüsse fielen, ob gezielt oder wahllos - da gehen die Meinungen auseinander. Demonstranten konnten Soldaten Waffen abnehmen und feuerten zurück, Armeefahrzeuge brannten.

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Ägypten: Nacht der Gewalt in Kairo

Foto: MOHAMMED HOSSAM/ AFP

Dann schaltete sich Channel 1, das Staatsfernsehen ein. Mit einem Aufruf an alle muslimischen Bürger, den Soldaten zur Seite zu eilen. Begründung: Christen würden randalieren und Soldaten töten. Ganz offensichtlich staatliche Hetze gegen die Kopten, ein Aufruf zu noch mehr Gewalt. Mit Messern und Knüppeln bewaffnet eilten islamistische Gruppen zum Fernsehgebäude und mischten sich unter die Menge.

Christen und Muslime, vereint gegen Gewalt, so begann der Abend. Er endete im Gefecht zwischen Christen und islamistischen Muslimen.

Auch christliche Geschäfte wurden nicht verschont. Über Twitter wird berichtet, dass vereinzelte Alkohol-Läden in der Innenstadt von Schlägern verwüstet wurden. Vor dem koptischen Krankenhaus sammelten sich Trupps und schlugen auf Autos ein.

Das Chaos ist zurück in Kairos Innenstadt, nur wenige Meter vom Tahrir-Platz entfernt. Dem Ort, an dem die ägyptische Revolution ihren Ausgangspunkt nahm. Dem Ort, der als Symbol für den gesamten Arabischen Frühling gilt.

Immer wieder hatte es in den vergangenen Monaten Auseinandersetzungen zwischen koptischen Christen und Muslimen gegeben. Zuletzt wurde im Süden Ägyptens, in der Region Assuan, ein Gotteshaus von Muslimen in Brand gesetzt. Die Armee griff nicht ein, beschütze die Kopten nicht.

Wer für die aktuelle Eskalation der Gewalt verantwortlich ist - ob Militär, alte Mubarak-Anhänger oder Schläger -, ist unklar. "Wer immer es war," sagt die Muslimin Rana Gaber, "uns Ägypter als Volk zu spalten, ist die dreckigste Karte, die hier gerade ausgespielt wird." Der Premierminister Essem Sharaf gibt auf Facebook "unsichtbaren Kräften" die Schuld, "die Feinde der Revolution sind und vom Chaos profitieren".

Vom Chaos wird nun vor allem der Militärrat profitieren - aus mehreren Gründen:

  • Parteien und Aktivisten forderten zuletzt die Abschaffung des Notstandsgesetzes, das dem Militär erlaubt, grundlos Zivilisten zu verhaften und sie vor das Militärgericht zu stellen. Zahlreiche Aktivisten und Demonstranten sind mit Hilfe des Gesetzes inhaftiert worden. Mit den Ereignissen vom Sonntag hat der Militärrat eine Begründung gefunden, das Notstandsgesetz in Kraft zu lassen.
  • Zudem wird die Auseinandersetzung zwischen Kopten und Muslimen die gesamte öffentliche Debatte in den kommenden Wochen bestimmen. Die für Ende November geplanten Parlamentswahlen und die Machtübergabe an demokratisch legitimierte Institutionen rücken damit in den Hintergrund. Der Militärrat hat beinahe freie Hand, die Macht länger selbst zu behalten.
  • Die Ausschreitungen von Sonntag zeigen der Masse der Ägypter, dass eine starke Hand vonnöten ist. Mit dem harten Einsatz kann das Militär beim einfachen Volk punkten.

Den koptischen Christen hingegen wird die blutige Nacht noch lange in Erinnerung bleiben. Ihnen steht in den kommenden Wochen eine schwere Zeit bevor. Wenn Soldaten zu Tode kommen, ist es einfach, die Masse gegen sie zu mobilisieren, das hat das Staatsfernsehen am Sonntag gezeigt. "Ich bin ein bisschen besorgt", sagt Alfred. Ob er sich heute aus dem Haus traut, das weiß er noch nicht. "Aber zum Glück habe ich muslimische Freunde, da finde ich immer Unterschlupf."

Muslimische Freunde, mit denen der Kopte Alfred Raouf gestern Abend gemeinsam losgezogen ist, um friedlich für ein gewaltfreies Ägypten zu demonstrieren. Er will gemeinsam mit ihnen auch zum nächsten Protest gehen. Für sie ist klar: Längst nicht alle Christen und Muslime in Ägypten lassen sich gegeneinander aufhetzen.