Johannes Rauch und August Wöginger
ORF.at/Peter Pfeiffer
Coronavirus

Impfpflicht wird abgeschafft

Im November des Vorjahres wurde sie angekündigt, im Februar ist sie ohne Sanktionen in Kraft getreten, im März wurde sie ausgesetzt und nun ist die Impfpflicht in Österreich Geschichte: Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) und ÖVP-Klubobmann August Wöginger haben die Entscheidung am Donnerstag verkündet. Mit den herrschenden Omikron-Varianten hätten sich die Regeln geändert, so Rauch. Es gehe aber auch darum, gesellschaftliche Gräben zuzuschütten und einen neuen Umgang mit dem Virus zu „leben“.

„Die Impfpflicht bringt niemanden zum Impfen“, so Rauch. Sie habe auch tiefe Gräben in Vereine, Betriebe und Familien gerissen. Derzeit ist die Maßnahme bis 31. August per Verordnung ausgesetzt. Die Impfpflicht sei unter anderen Voraussetzungen eingeführt worden, meinte Rauch.

Damals sei Delta die dominierende Variante gewesen, die für hohe Hospitalisierungsraten gesorgt habe. „Die Intensivstationen waren an der Grenze der Belastbarkeit.“ Auch er selbst habe die Impfpflicht damals befürwortet, sagte der Minister, „aber Omikron hat die Regeln verändert“.

Statement von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne)

Rauch erklärt, warum die Impfpflicht beendet wird.

„Gräben zuschütten und Brücken bauen“

Mit der neuen Variante sei die Wirksamkeit der Impfung gegen Ansteckungen reduziert worden. Auch grundsätzlich impfwillige Personen seien mittlerweile schwerer von der Notwendigkeit einer Auffrischung zu überzeugen, so Rauch. Österreich sei zudem das einzige Land, das derzeit noch eine Impfpflicht beschlossen habe, so der Gesundheitsminister. Die Debatten über die Impfpflicht hätten eine Schärfe angenommen, die weit über den Anlassfall hinausgegangen sei. Jetzt gehe es darum, „die Gräben zuzuschütten und Brücken zu bauen“.

Die Regierung wolle ein „Gesamtmaßnahmenpaket“ für ein „Leben mit Covid“ vorlegen, so Rauch. Es solle einen Schutz für Vulnerable bieten, gleichzeitig müsse man aus einem „Katastrophenmodus“ herauskommen – hin zu einer „Phase ‚Leben mit dem Virus’“. Die Wellen würden weitergehen, man müsse aber „raus aus der Eskalation der Worte“ und einen klaren, vernünftigen Umgang finden. Rauch verwies auch auf psychische Erkrankungen und Folgeerscheinungen der Pandemiebekämpfung, denen man stärker Augenmerk schenken müsse.

ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek kündigte für Ende August einen „gesamthafter Variantenplan“ über die geplanten CoV-Maßnahmen für das kommende Schuljahr an. Die Entwicklung über den Sommer könne derzeit noch nicht vorhergesagt werden – „es wäre daher nicht nur unseriös, sondern unmöglich, konkrete Aussagen über die Anfang September notwendigen Maßnahmen zu treffen“.

Wöginger: Beschluss Anfang Juli

Auch Wöginger verwies auf die milderen Verläufe der Omikron-Variante. Außerdem müsse man auf die Reaktion der Menschen schauen: Wenn der Staat etwas verpflichtend anordne, werde bei manchen der Schalter umgelegt. „Mit der Impfpflicht haben wir keine zusätzlichen Menschen zum Impfen gebracht.“ Ein Initiativantrag werde noch am Donnerstag im Nationalrat eingebracht, so Wöginger. Anfang Juli soll er beschlossen werden.

Nehammer: „Nicht die geeignete Maßnahme“

Am Rande des EU-Gipfels in Brüssel kommentierte auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) das Aus für die Impfpflicht. Es gab die „Einsicht, dass es nicht die geeignete Maßnahme war, um die Impfquote nach oben zu bekommen“, so Nehammer. Es gebe „eine Steigerung der Spaltung in der Gesellschaft“, so Nehammer, sein „Auftrag“ sei es, „die Gräben zuzuschütten“. Man müsse „die Emotionalisierung rausnehmen“, auch im Hinblick auf den Herbst, wo das Coronavirus „wieder ein viel größeres Thema sein wird.“

Experten zeigen Verständnis

Für Herwig Kollaritsch, der der vierköpfigen Impfpflicht-Expertenkommission angehört, fehlt die faktische Grundlage für eine allgemeine Impfpflicht. Das habe die Kommission auch in ihrem letzten Bericht Ende Mai festgehalten. Die Impfpflicht würde nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung treffen, der vierte Stich sei darin nicht abgebildet.

Die Impfung an sich sei weiterhin freilich extrem wichtig, um schwere Verläufe nach einer Coronavirus-Infektion zu verhindern, so Kollaritsch. Bei einer gesetzlichen Verpflichtung müsse man aber auch beachten, dass die Impfung für den Schutz vor einer Infektion angesichts der neuen Varianten nur noch eine geringe Bedeutung habe, und es schaue auch nicht so aus, als ob das Grundkriterium für die Impfpflicht – nämlich eine systemkritische Belastung oder Überlastung des Gesundheitssystems bei einer Infektionswelle – erfüllt wäre.

Überhaupt fände Kollaritsch es zeitgemäß, weniger über eine allgemeine Impfpflicht als über eine für bestimmte Gruppen nachzudenken. Davon unabhängig solle jeder und jede für sich selbst überlegen, wann eine Auffrischung sinnvoll ist. Personen mit Grunderkrankungen, sehr alte Menschen und jene, die im Alltag sehr viele Sozialkontakte haben, sollten laut Kollaritsch auf jeden Fall schon jetzt auf einen optimalen Impfschutz durch einen vierten Stich achten.

Impfung weiter „hocheffektiv“

Verständnis signalisierte auch der klinische Pharmakologe Markus Zeitlinger. Die Impfung sei aber weiter „hocheffektiv“. Er ortet gegenüber jener Zeit, zu der die Impfpflicht in Österreich erstmals diskutiert wurde, aktuell eine „insgesamt entspanntere Situation“. Für ihn bleibt die Impfpflicht außerdem weiter das „unangenehmste Mittel“, um Menschen zur Impfung zu bewegen.

Vor allem durch die Grundimmunität in weiten Bevölkerungsteilen durch Impfungen sowie durchgemachte Infektionen habe sich der Druck auf die Intensivstationen reduziert, wobei eine wieder stärkere Belastung der Normalpflege-Spitalsbetten bereits vor dem Herbst zu erwarten sei.

Für jene vermutlich hierzulande nur noch wenigen Menschen, die tatsächlich noch keine Impfung erhalten und keine Infektion durchgemacht haben, wäre aber „die Impfung nach wie vor extrem wichtig“. Insgesamt zu kurz in den Diskussionen komme weiter das Thema „Long Covid“, so Zeitlinger.

Kritik der Opposition

Das planlose Dahinstolpern der Regierung setze sich auch jetzt nahtlos fort, befand SPÖ-Gesundheitssprecher Philip Kucher. Er verlangte von der Koalition die Vorlage eines Alternativplans. Ähnlich NEOS-Klubvize Nikolaus Scherak: Das Ende der Impfpflicht mitten in der Sommerwelle zu verkünden passe zum völlig chaotischen Krisenmanagement von ÖVP und Grünen.

FPÖ-Chef Herbert Kickl sprach von einem wichtigen und richtigen Schritt. Nun müsse aber auch das Covid-Maßnahmengesetz fallen, um ein Comeback der G-Regeln zu verhindern.

Analyse von Hans Bürger (ORF)

Hans Bürger über das Ende der Impfpflicht.

Verkündung im November gleichzeitig mit Lockdown

Verkündet worden war die Impfpflicht auf einem Gipfel der Landeshauptleute am 19. November 2021. Der damalige Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) verkündeten sie im Beisein der Landeshauptleute gleichzeitig mit einem neuen Lockdown.

Damals war spekuliert worden, die Regierung wolle eine Art symbolischen Ausgleich für bereits Geimpfte schaffen: Auch sie sollten zwar in den neuen Lockdown müssen, würden aber damit „belohnt“, dass die Ungeimpften ihrem Beispiel folgen müssten.

An der konkreten Regelung wurde länger gearbeitet, man entschloss sich für einen Start mit Februar, mehrere Phasen für Sanktionen startend mit März und ein Expertengremium, das jeweils den Stand der Dinge erheben und dementsprechend Empfehlung zur Handhabe geben sollte.

Kommunikativer Bumerang

Doch die Impfpflicht entpuppte sich rasch vor allem als kommunikativer Bumerang: Eineinhalb Jahre hatte die gesamte Politik zuvor verkündet, es werde sicher keine Impfpflicht geben. Diese 180-Grad-Wende reihte sich als vielleicht größter in die Kette der kommunikativen Fehler ein, die das Vertrauen der Bevölkerung in die Coronavirus-Politik unterminierten.

Spätestens mit dem Auftauchen der ersten, zwar ansteckenderen, aber von zumeist deutlich milderen Verläufen begleiteten Omikron-Variante wurde die Impfpflicht schwierig zu argumentieren, zumal eine Ansteckung durch die oft als fixe Erlösung von der Pandemie propagierte Impfung deutlich seltener verhindert wurde.

Und so stellten recht rasch zuerst jene die Impfpflicht infrage, die sie eigentlich propagiert hatten: die Landeshauptleute, die etwa Sanktionen bei Verstößen nicht mehr unterstützen wollten. Anfang März setzte die Regierung die Impfpflicht nach einem Bericht der Expertenkommission aus. Die Pflicht sei bei der vorherrschenden (Omikron-)Variante nicht verhältnismäßig, sagte damals Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP).