Von wahren und falschen Märtyrern

Am 26. Dezember gedenken Christen des Heiligen Stephanus, der wegen seiner Überzeugung gesteinigt und so zum Märtyrer wurde. Durch den islamistischen Terror erlebt der Begriff des Märtyrers gewissermaßen Hochkonjunktur. Aber können Mörder Märtyrer sein?

Er gilt als der erste christliche Märtyrer: der Heilige Stephanus. Von ihm wird in der Apostelgeschichte berichtet: Er war einer der ersten sieben Diakone der Jerusalemer Urgemeinde und für karitative Aufgaben zuständig. So kümmerte er sich etwa um Witwen. Doch im Neuen Testament ist nicht sein Leben als Diakon, sondern sein Sterben als Märtyrer hervorgehoben.

Als er sich wegen falscher Anschuldigungen vor dem höchsten jüdischen Gremium, dem Hohen Rat (Sanhedrin), verantworten muss, hält er eine glühende Verteidigungsrede. Stephanus, der Blasphemie beschuldigt, lässt in seiner Rede die Geschichte Israels Revue passieren und bezichtigt darin die Juden selbst, den Gesetzen der Thora untreu geworden zu sein, und letztlich auch des Prophetenmordes: „Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt?“

Vergebung für Peiniger

Stephanus wird in weiterer Folge gesteinigt, so erzählt es das Neue Testament. Er wird als der erste Märtyrer des Christentums verehrt, weil er für seine religiösen Überzeugungen in den Tod ging. Auch rief er angesichts seiner Ermordung Gott um Vergebung für seine Verfolger an – eine Szene, die an die Passion Jesu erinnert, der ebenfalls sterbend für seine Peiniger um Vergebung gebeten hatte. Dieses Motiv begegnet auch in anderen frühchristlichen Märtyrererzählungen.

Heiliger Stephanus, Gemälde von Alessandro Moretto

Public Domain

Der Heilige Stephanus gilt als erster christlicher Märtyrer

„Dieser Vergebungsruf macht deutlich, dass für die Semantik des Martyriums die Gewaltlosigkeit ausschlaggebend ist. Zum christlichen Martyrium gehört nicht die Erwiderung, sondern das Erdulden und Erleiden von Gewalt“, sagte der Theologe Jan-Heiner Tück im Gespräch mit religion.ORF.at. Er lehrt am Institut für Systematische Theologie der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien.

Stark im Glauben

Der Begriff des Märtyrers stammt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt Zeuge. Märtyrer werden daher auch als Blutzeugen bezeichnet. Auch wenn es bereits in der jüdischen Tradition Menschen gegeben hat, die um der Heiligung des Gottesnamens willen in den Tod gegangen sind und auch die Leidensgeschichte des Stephanus als Martyrium angesehen wird, so ist begriffsgeschichtlich die Bezeichnung Märtyrer erstmals in der vorkonstantinischen Zeit der Kirche, nämlich 156 n. Chr., aufgekommen. Bischof Polykarp von Smyrna wurde als Märtyrer angeführt, weil er sich den Kultvorschriften des römischen Kaisers widersetzte, was mit seiner Hinrichtung endete.

Jan-Heiner Tück

Kathbild/Franz Josef Rupprecht

Theologe Jan-Heiner Tück

„Das Christentum war in den ersten drei Jahrhunderten eine verfolgte Religion. Es gab von römischen Kaisern die Vorschrift, am öffentlichen Kult zum Wohl des Staates teilzunehmen, frühe Christen haben sich dem widersetzt“, sagte Tück. Sie wurden als Atheisten bezeichnet, als Unruhestifter und Feinde des Römischen Reiches erachtet und waren Repressalien ausgesetzt. Im Ernstfall nahmen Christen die Todesstrafe auf sich - wie Bischof Polykarp. Ähnlich wie Stephanus soll auch er kurz vor seinem Tod für seine Peiniger gebetet haben. Er verstand sein Martyrium offensichtlich als Akt der Nachfolge Christi, erklärte der Theologe Tück.

Christen töten Christen

Menschen, die stark im Glauben waren, deswegen Gewalt erleiden mussten und trotzdem gewaltlos agierten - so könnte man Märtyrer nach christlichem Verständnis definieren. Doch die Geschichte des Christentums ist zweifelsohne keine gewaltlose, wie Kreuzzüge und Konfessionskriege zeigen. Auch gab es theologisch fragwürdige Instrumentalisierungen des Märtyrermotivs. So kämpften in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhundert Katholiken gegen Protestanten, also Christen gegen Christen – und die Opfer, die in ihrem Einsatz für den „wahren Glauben“ starben, wurden nicht selten als Märtyrer deklariert. Man ging durchaus davon aus, dass sie im Krieg ewige Seligkeit erlangen würden, sagte Tück.

Buchhinweis

Jan-Heiner Tück: Sterben für Gott – Töten für Gott? Religion, Martyrium und Gewalt. Herder-Verlag, 272 Seiten, 20,60 Euro.

Doch an dieser Praxis habe es innerhalb der Kirche immer auch Kritik gegeben, denn das Neue Testament zeige klar, dass die Gewaltlosigkeit zentral für das Verständnis des Martyriums ist. Ein Märtyrer könne nach christlichem Verständnis niemand sein, der Gewalt mit Gegengewalt beantwortet, auch nicht, um dadurch vermeintlich Gutes zu tun. Der Begriff der Liebe stehe im Zentrum des Christentums, das sei an der Gründergestalt Jesus ablesbar, der nicht nur das Gebot der Feindesliebe gepredigt, sondern auch bis in den Tod hinein bezeugt habe, sagte Tück. Wenngleich die Oper der Konfessionskriege jeweils von katholischer und protestantischer Seite verehrt wurden, sei heute klar: „Sie haben nicht den Status von offiziellen Märtyrern.“

Mörder und Märtyrer?

Es ist laut Tück ebenso verfehlt wie zynisch, islamistische Selbstmordattentäter als Märtyrer zu bezeichnen. Gewalt im Namen Gottes sei Blasphemie. Außerdem würden jene Opfer ein weiteres Mal entwürdigt, „die von den Attentätern oft gerade wegen ihrer abweichenden religiösen Überzeugungen als Zielscheibe heimtückischer Anschläge gewählt würden“. Nach Meinung Tücks sei es daher „pervers“, im Zusammenhang mit Selbstmordattentätern von Märtyrern zu sprechen.

Anders sehen das freilich die Terroristen selbst, die sich und ihresgleichen als Krieger Gottes und Märtyrer betrachten. Sie stützen sich auf eine höchst selektive Lesart des Koran, in dem sich neben Stellen, die Gewalt gegen „Ungläubige“ zu legitimieren scheinen, auch gegenläufige, gewaltkritische Aussagen finden. Dabei ist das Konzept des Martyriums im Islam eine komplexe Angelegenheit, wie Tück erklärte.

Belohnung durch Gott

Die Vorstellung dessen, was ein „Schahid“, also ein Märtyrer, sei, habe sich im Islam im Laufe der Zeit verändert, so der Theologe: „In Mekka, am Anfang der islamischen Gemeinschaft, wurden vereinzelt Anhänger von der polytheistischen Mehrheitsgesellschaft verfolgt. Es gab Muslime, die Leiden hinnehmen mussten.“

Tück im Ö1-Interview

Das Ö1-Interview mit Jan-Heiner Tück in der Sendung „Logos - Theologie und Leben“ zum Nachhören.

Im frühen Stadium des Islam habe es daher eine gewisse Nähe zum christlichen Begriff des Märtyrers gegeben. Das Verständnis habe sich geändert, als der Prophet Mohammed beschloss, über die Mittel des Wortes hinaus auch Kampfhandlungen zuzulassen, und diejenigen, die im Kampf für Allah zu Tode kamen, als Schahid bezeichnet wurden. Hier liegt eine klare Differenz zwischen dem christlichen und dem muslimischen Märtyrerverständnis.

Auch wenn die Jenseitsvorstellungen unterschiedlich ausgemalt werden, kommen christliches und islamisches Verständnis des Martyriums in der Hoffnung auf ein ewiges Leben überein, sagte Tück. Davon zeugt auch die Bitte des Heiligen Stephanus kurz vor seinem Tod. Der von Steinen getroffene Diakon rief: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“

Clara Akinyosoye, religion.ORF.at

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