Von P. Paolo Maria Siano*
Peter Stiegnitz (Budapest 1936 – Wien 2017), ein Jude, der die nationalsozialistische Verfolgung überlebte und 1956 im Zuge des Ungarischen Volksaufstandes nach Österreich auswanderte, war Schriftsteller, Soziologe, Ministerialbeamter des Bundespressedienstes im österreichischen Bundeskanzleramt und schließlich Gastprofessor an der Universität Budapest. 1970 wird Stiegnitz als Freimaurer in der Wiener Loge Humanitas initiiert, die der Großloge von Österreich (GLvÖ) angehört.
Er gehört noch weiteren Logen der Großloge an, darunter für 30 Jahre der Wiener Loge Zum rauhen Stein. Stiegnitz übt freimaurerische Ämter auch auf der Führungsebene der Großloge aus. Als Großkapitelmeister ist er 10 Jahre lang Oberhaupt des York Ritus, der mit dem Alten und Anerkannten Schottischen Ritus eines der Hochgrad-Systeme der Freimaurermeister der Großloge ist. Am 2. Februar 2017 hielt der Großmeister der Großloge von Österreich, Georg Semler, am Grab von „Bruder. ·.“ Stiegnitz in Anwesenheit von zahlreichen Freimaurern und Freimaurerinnen eine Trauerrede, in der er Stiegnitz als „einen Großen unseres Bundes“ bezeichnete, wie die sehr gut informierte Freimaurer-Internetseite Freimaurer-Wiki berichtet.
Großmeister Semler ist derselbe, der zusammen mit Msgr. Michael Heinrich Weninger, Priester des Erzbistums Wien und Mitglied des Päpstlichen Rates für den interreligiösen Dialog, dessen Buch in Wien vorstellte, das an der Päpstlichen Universität Gregoriana als Doktorarbeit approbiert wurde. Darin äußert Weninger die Hoffnung auf eine Versöhnung zwischen Kirche und Freimaurerei. Wie ich bereits am 27. Februar 2020 auf dieser Seite geschrieben habe, gehört Msgr. Weninger zur regulären österreichischen Freimaurerei, die mit der englischen Freimaurerei der Vereinigten Großloge von England (UGLE) verbunden ist.
Nun weise ich auf ein Buch hin, das uns das Wesen der heutigen österreichischen Freimaurerei näher sondieren läßt: „Gott ohne Kirche: Religion und Freimaurerei“, Edition Va Bene, Wien–Klosterneuburg 2003. Autor des Buches ist Peter Stiegnitz.
Im Vorwort lobt der damalige Großmeister der Großloge von Österreich, Michael Kraus, das Buch in Freimaurerbegriffen und definiert es als „einen wichtigen und bedeutenden Baustein“ (S. 9). Kraus erwähnt begeistert den nachkonziliaren Dialog zwischen Kardinal König und dem stellvertretenden Großmeister (später Ehrengroßmeister) der Großloge, Kurt Baresch (1921–2011). Freimaurer-Wiki teilt mit, daß Baresch ehemaliger SS-Offizier, Psychologe (ab 1948) und Freimaurer (ab 1961) war.
Es ist eine seltsame Vereinigung von Gegensätzen: In derselben Großloge finden wir einen Juden und einen ehemaligen SS-Offizier. Versöhnung und Vergebung?
Kehren wir zu Großmeister Kraus zurück, der zugibt, daß es im freimaurerischen Denken die kantische Aufklärung gibt (S. 10). Kraus erklärt, einer katholischen Familie anzugehören und äußert die Hoffnung auf Zusammenarbeit und Harmonie zwischen Freimaurerei und Kirche. Ebenso glaubt er, daß Stiegnitz‘ Buch Freimaurern und „Profanen“ helfen wird, den Weg vom Ballast zu befreien (S. 11). Wie wir sehen werden, ist der von Stiegnitz weggeworfene „Ballast“, von dem es sich zu befreien gilt, leider das gesamte christliche Dogma!
Stiegnitz lobt die Aufklärung (S. 18), beschuldigt den religiösen Monotheismus der Intoleranz gegenüber polytheistischen Kulten (S. 19) und schreibt der Religion, auch der christlich-katholischen, einen menschlichen und psychologischen Ursprung zu: Sie sei nur eine menschliche Selbst-Befreiung von jenen Bedürfnissen, die man nicht aus eigener Kraft bedienen könne (S. 32–33).
Für Freimaurer ist die Bibel ein ethisches Symbol. Sie ist nicht Geschichte, sondern eine Allegorie. Stiegnitz sagt, daß der Pantheismus den „laizistischen“ Freimaurern den Weg zu einer akzeptablen Religiosität bietet … Religiosität sei nur Selbsttherapie und der Große Baumeister des Universums ein Symbol der psycho-spirituellen Hierarchie (S. 34). Stiegnitz erklärt, daß die religiöse Welt der Freimaurerei im Gegensatz zu den Religionen „diesseitsorientiert“ ist (S. 42–43). Stiegnitz zeigt Sympathie für das kantische Denken (S. 50). Auch in Bezug auf die „christlichen“ oder Templer-Hochgrade gibt Stiegnitz an, daß die freimaurerischen Symbole keine religiöse, sondern eine ethische Bedeutung haben (S. 57). Stiegnitz schreibt klar, daß der Gott der monotheistischen Religionen nicht gut ist, nicht vergibt (wörtlich er „ist nicht gütig“), da er vor allem gerne bestraft. Als Beweis für diese Aussagen nennt Stiegnitz den Fall „Sodom und Gomorrha“ (S. 72). Stiegnitz lobt dagegen Heraklits Philosophie, daß Gott Harmonie aller Gegensätze sei („ohne Krieg gibt es keinen Frieden, ohne Nacht gibt es keinen Tag …“). Heraklit nennt Gott auch Logos oder universelle Vernunft. „In der freimaurerischen Philosophie wird die heraklitische Einheit der Gegensätze als Totalität verstanden“ (S. 81).
Stiegnitz mag auch Spinozas Denken. Stiegnitz weiß, daß Spinoza ein Pantheist ist, der glaubt, daß die Natur göttlich ist und Gott mit der Natur identifiziert. Stiegnitz erklärt, daß die freimaurerische Religiosität und Spinozas Philosophie den Bezug – oder Anrufung – auf eine unpersönliche Göttlichkeit gemeinsam haben („Hier erleben wir bereits entscheidende Ansätze maurerischer Religiosität: Anrufung eines nichtpersonifizierten Gottes“, S. 97) Wie die Freimaurerei legt auch Spinoza großen Wert auf Ethik. Stiegnitz gibt an, daß Spinoza wie die Freimaurer dachte und die Freimaurer wie Spinoza denken („Spinoza dachte freimaurerisch, Freimaurer denken spinozaisch“, S. 97).
Stiegnitz äußert schließlich auch Sympathie für das Denken von Ludwig Feuerbach (1804–1872), einem Hegelianer, Atheisten und Materialisten. Selbst Stiegnitz schreibt: „Das religiöse (Selbst-) Verständnis der Freimaurerei spiegelt sich vor allem in der Querverbindung der Theologie zur Philosophie im Sinne Ludwig Feuerbachs (1804–1872) wider“, (S. 118). Auch für Feuerbach hat die Religionsphilosophie keinen Platz im Himmel, aber hier unten, hier ist sie Theologie der Sinne (S. 118). In der Freimaurerei ist die religiöse und christliche Bindung (z. B. die „christlichen“ Hochgrade) weder dogmatisch noch konfessionell. Stiegnitz präsentiert Feuerbach als „Bruder ohne Schurz“ oder als Mann, der nicht in die Freimaurerei eingeweiht wurde, aber wie ein Freimaurer dachte.
Laut Stiegnitz steht Feuerbach der Freimaurerei auch darin nahe, wenn er das Christentum vom paulinischen „Jesuismus (Jesus) trennt und die Humanität von hier unten vorstellt (S. 118–119). Feuerbach kann die institutionelle und dogmatische Religion nicht ertragen. Später wird auch Sigmund Freud sagen, daß Religion die Illusion des Menschen sei (S. 119). Nach Stiegnitz folgt daraus, daß der Atheismus (insbesondere der marxistische) nicht im Gegensatz zur Religion entsteht, sondern im Gegensatz zum Klerikalismus.
Um dies zu beweisen, sagt Stiegnitz, daß es in orientalischen Überzeugungen wie dem Buddhismus und Hinduismus keinen Atheismus gebe (S. 129). Der junge Feuerbach habe eine Religion ohne Theologie vertreten, ein intimes und religiöses Bedürfnis nach einem Etwas, ohne an konfessionelle Lehren gebunden zu sein. So zeigt Stiegnitz, daß er diesen anthropozentrischen „Weg“ dem Göttlichen ohne Päpste und ohne Priester vorzieht. Diese Religiosität ohne Theologie und ohne Dogmen ist der Weg, der die Haltung der Freimaurerei gegenüber der Religion charakterisiert (S. 144). Stiegnitz beschreibt Feuerbachs Einstellung zur Religion als „frühfreimaurerisch“ (S. 144).
Zusammenfassend können wir auch angesichts des eindeutigen Anthropozentrismus und Immanentismus im Denken des Br.·. Stiegnitz (Oberhaupt der österreichischen „christlichen“ oder „Templer“-Freimaurerei des York Ritus), dessen Buch vom damaligen Großmeister der Großloge Michael Kraus gelobt wurde, den Optimismus des derzeitigen Großmeisters Semler und von Msgr. Weninger bezüglich einer echten Versöhnung zwischen der Kirche und der mit der UGLE verbundenen österreichischen Freimaurerei (GLvÖ) nicht teilen.
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Katholisches.info veröffentlichte von ihm:
- Der „Fall Weninger“ – Ex-Diplomat, Priester, Kurialer, Freimaurer
Die Freimaurerei erklärt von einem Großmeister - Den Anklopfenden erwarten beim Freimaurerbund Initiation und Gnosis
- Baron Yves Marsaudon – Ein Hochgradfreimaurer im Malteserorden
- Die Loge Quatuor Coronati, der Großmeister und ein Bettelbruder
- „Katholik, der Loge beitritt, ist exkommuniziert“ – Kirchenhistoriker Paolo Siano über Kirche und Freimaurerei
- Kurze Antwort an einen Großmeister der Freimaurerei
- War Karl Rahner Freimaurer?
Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons