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Stockholm-Syndrom: Wenn Geiseln Bindungen zu Tätern entwickeln

Foto: ROLAND JANSSON/ AFP

Geiselnahme in Schweden Die Geburt des »Stockholm-Syndroms«

Wie können Geiseln Sympathie für ihre Peiniger entwickeln, sich gar in sie verlieben? Ein spektakulärer Banküberfall vor 50 Jahren gab einem psychologischen Phänomen seinen Namen, das bis heute umstritten ist.

Dieser Text erschien erstmals im August 2016 auf SPIEGEL.de und wurde leicht aktualisiert.

Am dritten Tag hat Jan-Erik Olsson eine Idee. In der Bank am Stockholmer Platz Norrmalmstorg sind vier Geiseln in seiner Gewalt, junge Menschen zwischen 21 und 31 Jahren. Mit dabei ist sein Kompagnon Clark Olofsson, den er kurz zuvor aus dem Gefängnis freigepresst hat.

Olsson zwingt die Geiseln zum Aufstehen und legt ihnen Schlingen um den Hals, die er an einem Schrank im Tresorraum befestigt. Dann nimmt er das Telefon und erklärt ruhig dem Einsatzleiter der Polizei: »Wenn ihr hier Gas reinlasst und die vier bewusstlos werden, bricht ihr Genick. Dann sind sie tot.«

Vier Tage später wird Kristin Enmark, 23, im Krankenhaus von Psychologen befragt. Tags zuvor war die Geiselnahme nach 131 Stunden zu Ende gegangen. Die erste Frage an Enmark lautet: »Sind Sie verliebt in Clark Olofsson?«

Es ist einer der bekanntesten Kriminalfälle der schwedischen Geschichte. Und zugleich Namensgeber eines psychologischen Phänomens: Das »Stockholm-Syndrom« steht seitdem dafür, dass Opfer von Geiselnahmen Verständnis oder gar Sympathien für die Täter entwickeln, mit ihnen kooperieren, sich bisweilen noch nach der Tat mit ihnen identifizieren.

Erste Liveberichte über eine Geiselnahme

Das Verbrechen beginnt am Morgen des 23. August 1973. Um zehn Uhr betritt ein Mann mit einer Maschinenpistole die Filiale der Svenska Kreditbanken, feuert eine Salve in die Decke und brüllt: »Die Party hat begonnen!« Zwei Polizisten stürmen in die Bank, der Mann schießt und verletzt einen der beiden. Danach lässt er 56 Menschen frei und behält drei Frauen und einen Mann – alle Angestellte der Bank – in seiner Gewalt. »Norrmalmstorgsdramat«, das Drama vom Norrmalmstorg, hat begonnen.

Geiselnahmen hatte es zuvor auch schon in Schweden gegeben, allerdings noch nie unter diesen Bedingungen: In Windeseile verbreitet sich die Nachricht, die ersten Medienvertreter treffen fast zeitgleich mit der Polizei ein. Zum ersten Mal wird über einen schwedischen Kriminalfall quasi live berichtet.

Der Mann mit der Waffe ist Jan-Erik Olsson, 32, wenige Wochen zuvor noch Häftling im Stockholmer Gefängnis. Seine Forderung: drei Millionen Kronen und die Freilassung von Clark Olofsson, seines ehemaligen Zellengenossen. Olsson verschanzt sich mit den vier Opfern, ruft das Büro von Ministerpräsident Olof Palme an und brüllt: »Wenn wir die Bank nicht verlassen können, werden die Geiseln sterben!«

Wie muss es Menschen ergehen, die als Geiseln vom Tode bedroht sind? Sie können ihrer eigenen Wahrnehmung kaum noch trauen und nicht einschätzen, was um sie herum und was draußen geschieht. Sie sind isoliert, verzweifelt, wollen überleben und eine gefährliche Eskalation vermeiden. In ihrer eigenen Ohnmacht erleben sie die Geiselnehmer als allmächtige Herren über Leben und Tod. Über Tage oder gar Wochen und Monate suchen sie nach einem Ausweg. Und entwickeln mitunter mehr Vertrauen zu den Tätern als zur Polizei.

Arnold Wieczorek, Einsatzpsychologe des LKA Baden-Württemberg, schrieb in einem Beitrag für das Magazin »Kriminalistik« von 2003: »Das Opfer ist in einer Situation, in welcher es schlagartig jede Kontrolle über sich und damit die eigene Existenz verloren hat.«

Sympathy for the devil

Am nächsten Tag wird Clark Olofsson zur Bank gebracht. Olsson meldet sich wieder bei der Polizei, fordert einen schnellen Fluchtwagen. Gegen Nachmittag klingelt erneut das Telefon von Olof Palme. Diesmal spricht eine der Geiseln – Kristin Enmark: »Palme, du enttäuschst mich sehr! Mein ganzes Leben lang war ich Sozialdemokratin, und jetzt schacherst du mit unserem Leben. Lasst uns doch einfach laufen. Ich habe keine Angst vor diesen Männern. Sie beschützen uns.«

Zeitungen und Fernsehsender verbreiten den Inhalt des Gesprächs und schildern detailreich den gesamten Verlauf des Dramas. Und ganz Schweden fragt sich, was nicht mit dieser Frau stimmt, die ihre Peiniger in Schutz nimmt.

»Um den Täter zu beschwichtigen, in dessen Macht es liegt, das Leben des Opfers zu beenden, wird jedes Opfer aus reinen Selbsterhaltungsgründen zunächst einmal alles tun, was der Täter verlangt«, so Arnold Wieczorek. Zum Täter eine Art persönliche Verbindung aufzubauen, um sich seine Gunst zu verdienen, sei ebenso normal, wie sich mit den Tätern gegen den vermeintlichen Aggressor zu verbünden.

In diesem Fall ist der scheinbare Gegner der Geiseln: die Stockholmer Polizei. Die begeht 1973 reihenweise taktische Fehler, was alle in der Bank nur noch mehr unter Druck setzt. Die psychische Belastung ist enorm.

»Sie machten es mir unmöglich, sie zu töten«

Am dritten Tag wird es zusehends dramatischer. Olsson und Olofsson haben sich mit ihren Geiseln in den Tresorraum zurückgezogen, die Polizei schließt von außen die Tür. Wasser- und Nahrungsvorräte sind schnell aufgebraucht, es ist dunkel, bald stinkt es nach Kot und Urin. Am Abend verbreitet das örtliche Radio den Polizeiplan, ein Loch in den Tresorraum zu bohren und die Insassen mit Gas zu betäuben. Jan-Erik Olsson hat das in den Nachrichten erfahren und legt seinen Geiseln die Schlingen um; Clark Olofsson versucht, sie zu beruhigen.

Kristin Enmark hat 2015 ein Buch über ihr Martyrium veröffentlicht (»Ich hatte das Stockholm-Syndrom«) und der schwedischen Zeitung »Norran« ein Interview gegeben. »Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde die Polizei zur Bedrohung«, sagte sie. »Die Geiselnehmer waren auf einmal die Guten in diesem Spiel. Wir verloren die Kontrolle.« Es ist der Moment, in dem »eine rational willkürlich erfolgende Verhaltensanpassung in ein nicht mehr willkürlich gesteuertes psychisches Syndrom übergeht«, wie es Psychologe Wieczorek beschreibt.

In den folgenden beiden Tagen bohrt die Polizei trotz der Drohungen weiter Löcher in den Tresorraum. Wasser dringt ein, Opfer und Täter können nur noch im Sitzen schlafen. Immerhin: Die Löcher sind groß genug, um Essen und Trinken durchzureichen. Und eine Kamera, die das berühmte Foto schießt, das auch über diesem Artikel zu sehen ist.

Am 28. August, Tag sechs, verliert Jan-Erik Olsson die Nerven. Er feuert in die Löcher an der Decke und verletzt einen der Beamten an der Hand. Die Geiseln bleiben unversehrt. Ihr Selbsterhaltungstrieb hat sie bislang vor Übergriffen bewahrt. Vor Gericht wird Olsson später sagen: »Sie machten es mir unmöglich, sie zu töten.« Gegen 21 Uhr strömt plötzlich Gas in den Innenraum und löst Panik aus. »Zum Teufel mit dem Gas«, brüllt Olsson, »wir ergeben uns!«

Beziehung zum Geiselgangster

Als die Polizei den Raum stürmt, um Olsson und Olofsson zu überwältigen, schreit Kristin Enmark: »Tut ihnen nicht weh, sie haben nichts getan!« Draußen, vor all den Kameras und Mikrofonen, ruft sie Olofsson nach: »Wir sehen uns wieder!« Alle Geiseln sind unverletzt. Die Geiselnahme ist beendet.

Nur nicht für die Geiseln. Ihr Verhalten, vor allem das von Enmark, ist anschließend Thema der schwedischen Öffentlichkeit. Der Stockholmer Polizeipsychologe Nils Bejerot prägt den Begriff »Stockholm-Syndrom«, die ungewöhnliche und verstörende Zuneigung der Geiseln zu den Geiselnehmern hat einen Namen, wie etwa im spektakulären Fall der entführten Millionenerbin Patty Hearst.

In den Tagen nach dem Ende des Dramas werden Enmark und ihre Leidensgenossen mehrfach von Psychologen und Therapeuten befragt. »Bloß wollten alle etwas über das ›Stockholm-Syndrom‹ wissen«, erinnert sich Enmark in ihrem Buch, »niemand kümmerte sich um unsere Bedürfnisse, niemand half uns.«

Für die Geiseln begann danach ein neues Leben, insbesondere für Kristin Enmark. Sie kündigte bei der Bank, studierte Soziologie, arbeitete in der Drogenhilfe und ist heute Psychotherapeutin. Zu Clark Olofsson hat sie bei der Geiselnahme tatsächlich eine besondere Beziehung aufgebaut. In ihrem Buch erzählt Enmark, dass sie in den Wochen und Monaten nach der Tat Kontakt zu Olofsson pflegte, ihn mehrfach im Gefängnis besuchte und sich sogar eine kurze Beziehung entwickelte. Bis heute besteht Briefkontakt.

Ein halbes Leben im Knast

Olofsson hatte schon vorher eine bemerkenswerte kriminelle Karriere mit Einbrüchen, Raubüberfällen, Drogendelikten. Von jeglicher Schuld an der Geiselnahme wurde er zwar freigesprochen, musste aber seine Reststrafe absitzen. Im März 1975 gelang ihm eine abenteuerliche Flucht, die erst ein Jahr später endete – nach zwei Banküberfällen, einer Geiselnahme, einem dreimonatigen Segeltörn durchs Mittelmeer und einer Bekanntschaft mit der Belgierin Marijke Demuynck. Die heiratete er am 12. August 1976 im Gefängnis.

Später folgten weitere Ausbrüche und Überfälle. 1991 nahm Olofsson in Belgien den Namen Daniel Demuynck an, derzeit ist er wieder hinter schwedischen Gardinen. Jan-Erik Olsson wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, saß davon acht Jahre ab, zog mit seiner Familie nach Thailand und lebt heute in Schweden. Er landete nie wieder im Gefängnis.

Das »Stockholm-Syndrom« wurde zu einem Synonym für sämtliche Situationen, in der ein Opfer Sympathien für seinen Peiniger entwickelt (selbst als Metapher im Sport) und verlor mit jeder neuen Verwendung seine eigentliche Bedeutung. Oft wird der Begriff eher küchenpsychologisch verwendet – als leichter verständliches Etikett für eine Reaktion, die schwer verständlich erscheint.

Der höchst komplexen psychopathologischen Ausnahmesituation, in der sich Opfer einer Geiselnahme befinden, wurde er ohnehin nie gerecht. Aber das Drama vom Norrmalmstorg war der Beginn einer psychologischen Neubetrachtung von Opfern eines Gewaltverbrechens.

Kristin Enmark beschäftigt sich auch Jahre nach der Geiselnahme weiter mit dem Thema. Sie kann gar nicht anders: »Seit 43 Jahren verarbeite ich, was damals geschehen ist. Aber überwunden habe ich es noch lange nicht«, sagte sie im 2015 im Interview mit »Norran«. »Nicht, weil ich als Geisel gehalten wurde, sondern weil man mir mit dem Stockholm-Syndrom lieber einen Stempel aufdrückte, statt wirklich zu verstehen, was damals eigentlich passierte.«

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