Mindestens 497 Opfer im Erzbistum München: Missbrauchs-Gutachten – Papst Benedikt schwer belastet

++ Studie belegt: Priester und Diakone durften auch nach Vorwürfen weiterarbeiten ++ Vatikan will Untersuchung einsehen ++

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (94)

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (94)

Foto: Sven Hoppe/dpa
Von: Sören Haberlandt

„Bilanz des Schreckens“: Ein neues Gutachten zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche sorgt für Aufruhr!

Im Erzbistum von Reinhard Kardinal Marx (68, München und Freising) gab es seit 1945 laut externer Gutachter 497 Missbrauchs-Fälle – das sind mehr als sechs Fälle pro Jahr. Und: Die Kirche habe die Täter mehrfach weiterarbeiten lassen!

Unter den Beschuldigten: Papst Benedikt. Er habe in mehreren Fällen nichts unternommen.

Das am Donnerstag von der Münchner Anwaltskanzlei „Westphal Spilker Wastl“ (WSW) vorgestellte Gutachten hatte Missbrauchsfälle von 1945 bis 2019 untersucht. Die Details sind schockierend – und ein Hohn für die Opfer. Anwalt Dr. Ulrich Wastl nannte es: eine „Bilanz des Schreckens“.

Die Zahlen: 247 Opfer waren männlich, 182 Opfer weiblich – in 68 Fällen sei eine Zuordnung nicht möglich gewesen.

Männliche Kinder und Jugendliche: 60 Prozent der betroffenen Jungen waren zwischen acht und 14 Jahre alt. Damit bestätige sich, dass die Opfer sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche überwiegend männliche Kinder und Jugendliche gewesen seien. Rechtsanwalt Martin Pusch betonte, die Zahlen deckten nur das Hellfeld ab.

► Die Täter: Laut Gutachtern gibt es 235 mutmaßliche Täter – darunter 173 Priester und 9 Diakone.

► Die Kirche handelt nicht: 40 Kleriker seien ungeachtet ihrer Taten wieder in der Seelsorge tätig gewesen. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach „einschlägiger Verurteilung“, sagte Pusch. Insgesamt seien bei 43 Klerikern „gebotene Maßnahmen mit Sanktionscharakter“ unterblieben.

Papst Benedikt, damals Erzbischof Joseph Ratzinger, 1977

Papst Benedikt, damals Erzbischof Joseph Ratzinger, 1977

Foto: Hartmut Reeh/dpa

Papst Benedikt schwer belastet

Schwere Vorwürfe: Der emeritierte Papst Benedikt XVI. habe als Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger (1977 bis 1982) in vier Fällen nichts unternommen, teilten die Gutachter mit. In einer Stellungnahme bestritt Benedikt demnach seine Verantwortung „strikt“.

In zwei Fällen sei es um Kleriker gegangen, denen mehrere begangene und auch von staatlichen Gerichten attestierte Missbrauchstaten vorzuwerfen seien. Beide Priester seien in der Seelsorge tätig geblieben, kirchenrechtlich sei nichts unternommen worden. Ein Interesse an den Missbrauchsopfern sei bei Ratzinger „nicht erkennbar“ gewesen.

Die Gutachter sind mittlerweile auch überzeugt, dass Ratzinger Kenntnis von der Vorgeschichte des Priesters Peter H. hatte, der 1980 aus dem Bistum Essen nach München kam. H. war als Pädophiler verurteilt und beging später im Erzbistum München weitere Missbrauchstaten.

Die VertuschungMissbrauch und sexuelle Gewalt in der Kirche

Quelle: BILD

Auch Kardinal Marx werfen die Gutachter Untätigkeit im Missbrauchsskandal vor: Es sei ungeachtet einer Vielzahl von Meldungen nur in „verhältnismäßig geringer Zahl“ festzustellen, dass sich der Kardinal überhaupt unmittelbar mit Missbrauchsfällen befasst habe, sagte Rechtsanwalt Pusch.

Pusch sagte, Marx habe sich auf eine „moralische Verantwortung“ zurückgezogen und die direkte Verantwortung im Generalvikariat gesehen. Es sei fraglich, was, wenn nicht sexueller Missbrauch, Chefsache sei. Erst ab dem Jahr 2018 habe es bei Marx eine geänderte Haltung gegeben.

Kardinal Marx

Kardinal Marx

Foto: Lennart Preiss/dpa

► Ratzinger-Nachfolger Kardinal Friedrich Wetter (93) werden im Gutachten sogar 21 Fälle von Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch vorgeworfen. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch.

Kardinal Friedrich Wetter und Papst Benedikt im Jahr 2006

Kardinal Friedrich Wetter und Papst Benedikt im Jahr 2006

Foto: Matthias Schrader/dpa

„Wunsch, die Institution Kirche zu schützen“

Erschreckend: Die Kirche scheint nicht wirklich aus den Fehlern zu lernen!

Auch in jüngster Zeit habe kein „Paradigmenwechsel“ stattgefunden, hieß es. „Bis in die jüngste Vergangenheit und teils auch heute noch begegnen Geschädigte Hürden.“ Ein aktives Zugehen auf die Opfer gebe es nicht. Die „Wahrnehmung der Geschädigtenbelange“ sei „auch nach 2010 unzulänglich“. Pusch sieht ein „generelles Geheimhaltungsinteresse“ und den „Wunsch, die Institution Kirche zu schützen“.

Eigentlich sollte das 1700 Seiten starke Gutachten bereits im vergangenen Jahr erscheinen, die Veröffentlichung wurde aber wegen neuer Erkenntnisse auf Januar verschoben. Marx nahm nicht an der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens teil.

Er teilte am Donnerstagnachmittag mit, dass sein erster Gedanke „den Betroffenen sexuellen Missbrauchs“ durch kirchliche Mitarbeitende gelte, so der Kardinal. Dass sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche „nicht ernst genommen“ und Täter nicht zur Rechenschaft gezogen worden seien, wisse man seit Jahren – spätestens seit dem ersten Missbrauchsgutachten des Erzbistums aus dem Jahr 2010, sagte Marx.

► Als Erzbischof fühle er sich „mitverantwortlich für die Institution Kirche in den letzten Jahrzehnten“ und bitte als amtierender Erzbischof im Namen der Erzdiözese um Entschuldigung für das erfahrene Leid im Raum der Kirche.

Vatikan will Gutachten einsehen

Der Vatikan will in den kommenden Tagen detailliert auf das Missbrauchs-Gutachten blicken. Man werde es einsehen und könne dann angemessen die Details prüfen, erklärte der Sprecher des Heiligen Stuhls, Matteo Bruni, am Donnerstagnachmittag.

„Im Bekräftigen des Gefühls der Schande und der Reue für den von Geistlichen begangenen Missbrauch an Minderjährigen, sichert der Heilige Stuhl allen Opfern seine Nähe zu und bestätigt den eingeschlagenen Weg für den Schutz der Kleinsten, indem ihnen ein sicheres Umfeld garantiert wird“, hieß es weiter.

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