Die Gelegenheit war so unerwartet wie günstig. Niemand würde etwas dagegen haben, wenn als Reaktion auf ein politisches Attentat Strafen verschärft würden. Auch wenn das bedeutete, dass die formal abgeschaffte Todesstrafe wieder eingeführt würde. Da sie faktisch nie ausgesetzt, sondern stets beibehalten worden war, konnte man so ein Glaubwürdigkeitsproblem beseitigen. Im Grunde konnte den Bolschewiki im Spätsommer 1918 nichts Besseres passieren.
Am 30. August 1918 erschoss in Petrograd der junge Offiziersanwärter Leonid Kannegisser den Chef der örtlichen Tscheka, Moisei Uritsky. Am selben Freitag verließ Wladimir Lenin, der unbestrittene Kopf der Russischen Revolution, eine Moskauer Fabrik, in der er vor Arbeitern gesprochen hatte. Als er seinen bereitstehenden Wagen besteigen wollte, fielen mindestens zwei Schüsse. Lenin brach getroffen zusammen, überlebte aber.
Als Schützin festgenommen wurde die 28-jährige Fanny Kaplan, eine Anarchistin und Sozialrevolutionärin, die schon 1906 an zwei Bombenattentaten beteiligt gewesen war. Im Verhör, das der Zarenmörder und Moskauer Tscheka-Chef Jakow Jurowski seltsamerweise zusammen mit dem damaligen Staatsoberhaupt Jakow Swerdlow führte, soll Fanny Kaplan die Tat gestanden, sich aber geweigert haben zu verraten, woher sie die Waffe bekommen hatte. Zum Motiv gab sie nur an: „Ich hatte schon lange beschlossen, Lenin zu töten. Ich halte ihn für einen Verräter der Revolution.“ Zur Tat sei sie seit Februar 1918 entschlossen gewesen.
Die Tscheka machte kurzen Prozess: Fanny Kaplan wurde vier Tage nach den Schüssen auf Lenin ermordet, ihre Leiche „beseitigt“ statt begraben. Was genau Jurowskis Schergen mit den sterblichen Überresten getan haben, ist ungewiss – genau wie unklar bleibt, ob Fanny Kaplan überhaupt etwas mit dem Attentat zu tun hatte oder nur als Sündenbock diente.
Die Führung der Bolschewiki ließ zwar seit der Oktoberrevolution angebliche oder vermeintliche Feinde der Sowjetmacht erschießen, aber offiziell galt die Todesstrafe durch einen Beschluss des 2. Sowjetkongresses als abgeschafft. Jetzt sahen die Männer im Umfeld Lenins die Möglichkeit, diesen Beschluss ohne Gesichtsverlust aufzuheben.
Das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee, faktisch die oberste Regierungsbehörde in Sowjetrussland erließ eine „Mahnung“, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: „An alle Knechte der russländischen und alliierten Bourgeoisie: Sie werden gewarnt davor, dass für jedes Attentat auf Funktionäre der Sowjetmacht und Träger der Ideen der sozialistischen Revolution alle Konterrevolutionäre die Verantwortung tragen.“
Zwar waren sowohl Kannegisser als auch Kaplan keineswegs „Knechte der Bourgeoise“, doch das störte die Bolschewiki nicht: Wer sie bekämpfte, musste einfach ein Agent des Bürgertums sein. An die Warnung fügte das Exekutivkomitee deshalb eine klare Drohung an: „Auf den weißen Terror der Feinde der Arbeiter- und Bauernmacht werden die Arbeiter und Bauern mit einem roten Massenterror gegen die Bourgeoisie und ihre Agenten antworten.“
In Wirklichkeit hatte Lenin schon zwei Monate zuvor, Ende Juni 1918, einer totalen Entgrenzung der Gewalt das Wort geredet. Nach einem Attentat auf den Volkskommissar für Propaganda in Petrograd hatte Grigori Sinowjew, der oberste Bolschewik in Petrograd, eine Eskalation unterbunden und sich dafür eine Rüge von Lenin eingefangen: „Erst heute haben wir erfahren, dass die Arbeiter in Petrograd mit dem Massenterror antworten wollen und dass Sie sie davon abgehalten haben. Ich bin entschieden dagegen!“ Lenin forderte das Gegenteil: „Man muss deren Energie und den massenhaften Charakter des Terrors fördern.“
Felix Dserschinski, Gründer der Tscheka
Genau das tat jetzt die Tscheka unter ihrem Chef Felix Dserschinski. Der Rat der Volkskommissare hatte zuvor beschlossen: „In der augenblicklichen Situation ist es absolut lebensnotwendig, die Tscheka zu verstärken.“ Es gehe darum, die „Klassenfeinde der Sowjetrepublik in Konzentrationslagern zu isolieren und so die Republik gegen sie zu schützen“.
Am 5. September erging ein klarer Mordbefehl: „Jeder, der in weißgardistische Organisationen, in Verschwörungen, Aufstände und Erhebungen verwickelt (ist), ist auf der Stelle zu erschießen. Die Namen der Erschossenen mit Angabe des Erschießungsgrundes (sind) zu veröffentlichen.“
Noch am selben Tag wurden 29 vermeintliche „Konterrevolutionäre“ erschossen, darunter zwei ehemalige Minister; keiner von ihnen hatte irgendetwas mit den Attentaten vom 30. August 1918 zu tun gehabt. In den kommenden vier Wochen starben Tausende Gegner der Bolschewiki; ihr Vergehen war meistens, dass sie „konterrevolutionären Klassen“ angehört hatten. Darunter verstand die Tscheka Unternehmer und Großgrundbesitzer, aber auch Geistliche und Offiziere.
Das Prinzip des Roten Terrors verkündete Martyn Lazis, der zweite Mann der Tscheka. Er gab seinen Todesschwadronen den Auftrag: „Suchen Sie in der Akte nicht nach Beweistücken, ob der Angeklagte gegen den Sowjet mit Waffen oder in Worten rebellierte. Zuallererst müssen Sie fragen, welcher Klasse er angehört, welche Ausbildung er besitzt und was sein Beruf ist. Vor allem diese Fragen müssen über das Schicksal des Angeklagten entscheiden.“
Noch deutlicher wurde Lazis in einem Aufsatz, den er im November 1918 veröffentlichte: „Wir führen nicht Krieg gegen Einzelne. Wir vernichten die Bourgeoisie als Klasse.“ Die Russische Revolution, schon bis dahin sehr blutig, wurde nun zum mörderischen Orkan.
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