Ruinen schaffen ohne Waffen? Schockierende Bundeswehr-Bestandsaufnahme

Ein Gastbeitrag von Dr. Peter Seidel

Sönke Neitzels Bundeswehrbuch und die Defizite der Berliner Führung

Die Bundeswehr hat nicht nur Flugzeuge, die nicht fliegen, Panzer, die nicht schießen, und Schiffe, die nicht fahren können. Sie hat auch eine politische Führung, die ihr gerne mal pauschal ein „Haltungsproblem“ vorwirft: Aufhänger für solche Verdikte sind meist rechtsradikale oder rechtsextremistische Vorfälle, ihr makabrer Höhepunkt: Die Entfernung eines Bildes von Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) durch die Bundeswehrführungsakademie – er war in Wehrmachtsuniform abgebildet!

Der Hintergrund des Ganzen: seit langem ungelöste Fragen über Sinn, Ausrichtung und Tradition deutscher Streitkräfte. Also mangelnde oder inkompetente Führung? Diskreditierung und Delegitimierung als Reformstrategie? Eine „aufgebauschte Affäre“? Oder schon „Exorzismus“, begleitet von „Razzien wegen einer vermeintlich verirrten Traditionsbildung“, wie Sönke Neitzel meint, einziger Professor für Militärgeschichte in Deutschland, der darüber ein gut recherchiertes und spannendes Buch geschrieben hat, dessen martialischer Titel „Deutsche Krieger“ allerdings nur annähernd den Inhalt seiner „Militärgeschichte vom Kaiserreich zur Berliner Republik“ wiedergibt. Politisch brisant ist es vor allem wegen seiner schonungslosen Analyse des heutigen Zustandes der Bundeswehr im Schlussteil des Buches. Das zentrale Thema dort: Die von der politischen Führung in Berlin nach dem Damaskuserlebnis des Afghanistankrieges – wie vom Teufel das Weihwasser – gescheute ungeliebte und unbeantwortete Frage, ob die Bundeswehr denn nun zur Verteidigung oder auf internationale Sozialarbeit (Neitzel: „global social worker“) ausgerichtet sein soll.

In seinen historischen Kapiteln bietet das Buch eine pointierte Bestandsaufnahme der Historie deutscher Streitkräfte seit der Reichsgründung vor 150 Jahren, die erklärtermaßen auch den Zeitraum des Buches absteckt, damit allerdings zugleich auch sein wesentliches Manko aufzeigt: Kann man deutsche Militärgeschichte ohne die Befreiungskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also ohne die preußischen Reformer, ohne Clausewitz, Scharnhorst, Gneisenau, Boyen, Blücher, Yorck, Kleist, Bülow, Lützow usw. überhaupt schreiben? Man kann es nicht und das Kapitel über das Deutsche Kaiserreich ist auch deshalb das blasseste von allen! Weil es so entscheidende Grundlagen deutschen Militärwesens (nicht nur im Kaiserreich) ausblendet.

Interessanter wird es dann schon im Kapitel über die Weimarer Republik, wobei Neitzel hier der etablierten Auffassung der meisten Historiker widerspricht, die Reichswehr sei eben kein „Staat im Staate“ gewesen. Auch das Kapitel über die Wehrmacht wartet mit bemerkenswerten Hinweisen zu Erfolgen, Verbrechen und Defiziten auf, etwa dem, diese sei im Vergleich zum kaiserlichen Heer weitaus weniger lernfähig gewesen und hätte dies auch bis zur Kapitulation nicht geändert. Für die DDR-Armee findet er die markante Einschätzung „außen preußisch – innen sowjetisch“ und die Schilderung der Entstehung der Bundeswehr ist durchweg solide und aufschlussreich.


Seine Brisanz, seine aktuelle Bedeutung, bezieht das Buch aber wie angedeutet nicht aus diesen Geschichtskapiteln, sondern aus seinen letzten fünfzig Seiten, einer schonungslosen Darstellung des Zustandes der Bundeswehr, des Bundesverteidigungsministeriums, der politischen und militärischen Führung und der Auswirkungen auf Nato und EU. Der „Offenbarungseid“ dafür sei der Kriegseinsatz in Afghanistan gewesen, ohne Plan, ohne Strategie und damit auch ohne Exit-Vorstellung. Verteidigungspolitisch ist Deutschland demnach ein gescheiterter Staat, eine Reformruine. Die ständigen Strukturreformen bei der Bundeswehr hätten „erheblich“ dazu beigetragen, „der Armee das Rückgrat zu brechen“. Sie sei „zur Bündnisverteidigung nicht mehr in der Lage“.

Dies liege nicht nur an fehlenden oder nicht funktionierenden Waffensystemen, sondern vor allem am Unwillen der führenden Politiker in Berlin, Deutschland sicherheitspolitisch fit für die Zukunft zu machen: „Bei den NATO-Alliierten wird die Bundeswehr längst verspottet“ – und das weniger wegen fehlendem oder nicht einsatzbereitem Großgerät, sondern weil man aus Soldaten zu einem erheblichen Teil Staatsbeamte mit geregelter Arbeitszeit und reduzierten Anforderungen und Leistungen gemacht hat. Legt sich dann aber etwa einer der wenigen noch existierenden Kampfverbände ein Palmensymbol zu, ist die Führung schnell auf der Palme. Schließlich hatte auch Hitlers Afrikakorps Palmen als Symbol! Dazu Neitzel: „Die Traditionsdebatte ist nur ein Beispiel dafür, in welchem Maße Teile der politischen und militärischen Führung in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren den Kontakt zu den Kampftruppen verloren haben.“ Urlaub unter Palmen soll den Soldaten aber noch erlaubt sein …

In seinen wichtigsten Teilen ist Neitzels Buch auch die Bestandsaufnahme einer Berliner Politkultur, die weder von Militär noch von Sicherheit etwas wissen will und deshalb auch mit militärischer Tradition nichts im Sinn hat. Die sich nicht von Notwendigkeiten, „sondern von der Innenpolitik“ bestimmen lässt. Sein Fazit: „Kritiker werden sich als Nächstes die Männer des 20. Juli und die Gründergeneration der Bundeswehr vornehmen. (…) Das Verteidigungsministerium jedenfalls hat bislang noch jede traditionspolitische Haltelinie nach kurzem Rückzugsgefecht aufgegeben.“ Das Buch ist somit auch ein Zeitdokument heutiger deutscher Befindlichkeit, das mehr über aktuelle deutsche Zustände offenbart als manche Gesellschaftsanalyse.

Allerdings: In seiner Analyse ist Neitzel brillant, in seiner aktuellen Kritik pointiert, im Aufzeigen historisch wertvoller deutscher Traditionen aber recht zaghaft. Hier stellt Neitzel mehr Fragen als Antworten in den Raum. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Geschichte der deutschen Armee von Herbert Rosinski parallel liest, eines nun wahrlich unverdächtigen Autors, der vor den Nazis geflüchtet und dessen Buch erst Jahrzehnte später in der Bundesrepublik aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt wurde. Rosinski gibt fundierte Antworten auf Fragen, die Neitzel Jahrzehnte später stellt, so etwa zu den für Deutschland grundlegenden preußischen Reformen oder zum „Führungsdenken in der deutschen Armee“.

Also keine Frage, ob es einen „german way of war“ (Neitzel) gebe! Natürlich gibt es den, auch heute noch weltweit beachtet, und Neitzel kommt auch nicht daran vorbei, ihn anzusprechen. Schließlich spielte und spielt die Mittellage Deutschlands in Europa traditionell und auch heute noch immer eine, wenn auch derzeit reduzierte, geostrategische Rolle! Aber so richtig getraut hat er sich hier wohl nicht wollen. Deshalb stellt er einst für Rosinski noch Selbstverständliches fraglich dar und sei es auch nur, weil es inzwischen fraglich gemacht wurde. Vergleiche etwa von Bundeswehreinheiten mit „tribal cultures“ von Apatschen sind einfach grotesk. Wie groß müssen die befürchteten Widerstände sein, wenn selbst ein in der Analyse so mutiger Autor wie Neitzel meint, beim Aufzeigen positiver Beispiele passen zu müssen!

Hieß die Devise einst im Kalten Krieg, kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen, lautet diese heute offensichtlich, nicht kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen. Neitzel: „Was soll ein Verband zur Geiselbefreiung, der in 24 Jahren noch nie eine Geisel befreit hat, weil die Bundesrepublik im Zweifelsfall Lösegeld zahlt?“ Oder zur mangelhaften Übung deutscher Eurofighter-Piloten: „Wer wäre im Ernstfall wohl zuerst eingesetzt worden, die Briten oder die Deutschen?“ Man kann auch fragen: Was soll ein Eurokorps, das in dreißig Jahren noch nie als Kampfverband eingesetzt wurde, weil die zwei, drei Regierungen sich nicht einigen können? Weil die Berliner Führung keine Einsätze will? Und wie soll das dann bei einer EU-Armee aller 27 Mitgliedsstaaten funktionieren? Alles nur symbolische Politik des “mehr Europa“? Ungeachtet aller Sonntagsreden zeigt sich hier beispielhaft, warum „die EU ineffizient und unkoordiniert sei“ und dass sich daran wohl auch „in Zukunft wohl wenig ändern“ dürfte. Und zwar nicht zuletzt, weil die deutsche Bundeswehr „als Motor einer europäischen Verteidigung ausfalle“. Dies sei auch so gewollt: Die Führung in Berlin wolle sich aus Konflikten, insbesondere solchen militärischer Art, „um jeden Preis heraushalten“.

In Europa gilt somit: Die fette Henne und den gallische Hahn trennen längst Welten! Wie die Wirtschaften driften auch die politischen Kulturen weiter auseinander, gerade im militärischen Bereich. Die deutsch-französische Achse verrostet, sie leidet längst unter Unwuchten: Appeasement oder Selbstbehauptung, Ablass oder Subsidien – die Liste der so verschiedenen Pawlowschen Reaktionen in Deutschland und Frankreich ließe sich problemlos verlängern. Hier außenpolitischer Autismus, dort strategische Kultur. Und das wird auf nicht absehbare Zeit auch so bleiben, ja, sich noch verschärfen. Denn, so Neitzel, „im Kanzleramt ist keinerlei Interesse zu erkennen, sich mit Fehlern der Vergangenheit zu befassen“.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

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Hans-Peter Schwarz,Von Adenauer zu Merkel, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2018, 736 Seiten, 50 Euro 

Dr. Peter Seidel, Public-Affairs-Berater und Autor, Frankfurt/Main

 

 

 

 

 

Bild: Justin Moeser/Shutterstock

Text: Gast

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