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Statistik und Wirklichkeit Illusion Mittelschicht: Ab wann ist man arm?

Armut: Ab wann ist man arm?
Armut: Ab wann ist man arm?
© tommaso79/gettyimages
Mittelschicht - das gaukelt eine finanzielle Zugehörigkeit in der Mitte der Gesellschaft vor. Betrachtet man die Einkommen realistisch, zeigt sich: Viele, die zur Mittelschicht gezählt werden, sind eigentlich arm.

An was denken Sie, wenn Sie an Armut denken? An abgestellten Strom, an karges Essen vom Discounter, an unaufgeräumte, dunkel-muffige Wohnungen? An abgetrage Kleidung, an geflickte  Handschuhe? Zugegeben, das sind abgegriffene Klischees, die wohl eher aus einer Erzählung von Charles Dickens stammen. Doch da dieses Schubladendenken nur noch wenig mit der Realität zu tun hat, stellt sich die Frage: Wann ist man arm?

Wie sich Armut berechnet

Armut errechnet sich statistisch in Deutschland durch einen Prozentsatz des Medianeinkommens. Dabei wird die Armutsrisikogrenze und die Armutsgrenze unterschieden. Wer 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung hat, ist von Armut bedroht. Bei 50 Prozent ist man offiziell arm. Ein Single-Haushalt, der weniger als 892 Euro pro Monat zur Verfügung hat, gilt als arm. Bei Familien mit zwei Kindern sind 1872 Euro die Grenze zur Armut, so der Paritätische Wohlfahrtsverband. Damit gilt aber auch: Wer mehr Geld hat, gilt offiziell nicht als arm.

Denn die Mittelschicht wird groß gerechnet. Wenn man zwischen 60 und 200 Prozent des Medianeinkommens verdient, zählt man zur mittleren Einkommensschicht. Konkret bedeutet das, dass ein Single, der zwischen 985 Euro und 4095 Euro zur Verfügung hat, in diese Gruppe gehört, so das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Bei einer Familie mit einem Kind verfügt die Mittelschicht zwischen 1770 Euro 7370 Euro im Monat. Hier zeigt sich: Die Spanne ist enorm. Und unrealistisch. Ein Single kann sein monatliches Nettoeinkommen vervierfachen - und würde weiterhin zur Mittelschicht zählen. Als Alleinstehender sind 985 Euro pro Monat extrem wenig. Doch auch wer etwas mehr zur Verfügung hat, muss gerade in den Städten Deutschlands für alles mehr zahlen. Hier zeigt sich: Armut beginnt früher. Wer regelmäßig die Stromrechnung nicht bezahlen kann und sich ein Paar neuer Schuhe vom Munde abspart, ist deutlich näher an der Armutsgrenze als an der Mittelschicht.

Lebenshaltungskosten in Städten

Einkommen muss schließlich im Zusammenhang mit den Ausgaben gesehen werden. Das Kreditportal Vexcash hat die Lebenshaltungskosten aus zehn Städten in Deutschland verglichen. Durchschnittlich geben Deutschlands Stadt-Singles rund 1600 Euro monatlich für Wohnen, Energie, Nahrung, Verkehrsmittel, Kleidung und Freizeit aus. Einige Städte sind deutlich teuer wie München, Stuttgart oder Frankfurt, wo monatlich rund 2300 Euro ausgegeben werden. Berliner und Leipziger geben durchschnittlich weniger als 1400 Euro pro Monat aus. 

Ob nun günstige oder teure Großstadt: Für Menschen mit geringem oder gar keinem Einkommen sind Deutschlands Städte ein kaum zu finanzierendes Pflaster. Die hohen Mieten, die vergleichsweise größeren Ausgaben für Mobilität und auch die satteren Preise in Restaurants und bei der Freizeitgestaltung treiben die monatlichen Kosten. 

"Reich" ist ebenso ein schwammiger Begriff

Frankfurt oder München sind teure Städte, klar. Aber an dem Beispiel zeigt sich auch schnell, dass der Begriff "reich" genauso wenig greift wie "arm". Laut dem Armuts-und Reichtumsbericht der Bundesregierung beginnt Reichtum bei Singles bei einem monatlichen Netto von etwa 3100 Euro. Bei Paaren liegt der Wert etwas höher bei mindestens 4600 Euro. Das IW setzt die Reichtumswerte etwas höher an: 4091 Euro für Singles, 6145 Euro für Paare. Wer als Arzt, Lehrer, Angestellter in höherer Position arbeitet und der Partner ähnlich gut verdient, wird diese Grenze fix erreichen. Ingenieur und Grundschullehrerin - sind das jetzt wirklich reiche Menschen?

Vermögende, die sich für arm halten

Das Groteske: Wer über viel Geld verfügt, nimmt sich selbst gar nicht als vermögend wahr. So berichtet Judith Niehues,  Volkswirtin und Verteilungsexpertin, der "Zeit", dass es einen großen Unterschied zwischen realer Einkommensverteilung,und gefühlter Einkommensverteilung gibt. So wurden international Menschen befragt. Wer  ein Auto besitzt, eine Wohnung und noch eine weitere Immobilie, gehört schon zum elitären Kreis der Vermögenden. In Deutschland sind das sechs Prozent der Gesamtbevölkerung. Doch fragt man diese Menschen, ordnen sie sich in die Mittelschicht ein, fast 60 Prozent zählten sich sogar zur ärmeren Hälfte.

Vermögende, die sich für arm halten, eine Mittelschicht, die an den Lebenskosten zerschellt und eine Armutgrenze, die einen erst offiziell als arm anerkennt, wenn man schon längst verarmt ist: Armut und Reichtum scheinen vor allem Zuschreibung und unrealistische Rechengröße zu sein. Laut einer Erhebung der EU waren in Deutschland im Jahr 2015 rund 20 Prozent - also mehr als 16 Millionen Menschen - von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Kinderarmutsquote lag 2016 bei rund 19 Prozent. In Berlin wächst heute jedes dritte Kind mit Hartz-IV-Leistungen auf.

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