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Körperhygiene: Schmutz ist relativ

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Gerhard Leber / imago images

Eine Kulturgeschichte der Körperhygiene Sich waschen ist historisch völlig überschätzt

Porentief rein – muss das sein? Wie Menschen sich pflegen, hängt von Moden, Normen und Gewohnheiten ab. Längs durch die Geschichte und zuletzt durch Corona zeigt sich: Sauberkeit ist Ansichtssache.

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Der Schlendrian ist der kleine Bruder der Verwahrlosung. Wenn ihn nicht Normen, Paragrafen oder tadelnde Gatten zügeln, lässt sich der Mensch gern gehen. Und er lässt die Kosmetikindustrie darben: Wegen Corona brach der Absatz von Körperpflegeprodukten zwischen März 2020 und März 2021 ein. Das Marktforschungsunternehmen Nielsen ermittelte, dass in Deutschland zehn Prozent weniger Shampoo verkauft wurden; bei Haarfestiger waren es 16, bei Gel knapp 20 Prozent. Und weil die Damen Mundschutz trugen: minus 35 Prozent bei Lippenstiften.

Ähnliche Verlustmeldungen anderswo: Seit der Pandemie verzichten laut Marktforscher YouGov 17 Prozent der Briten aufs tägliche Brausebad. Und bei Twitter und Co. outen sich nach den Schlabberlookfreunden und BH-Verweigerinnen die Duschabstinenzler. Ins Homeoffice kam man auch leicht müffelnd, merkt ja keiner. Wo soll das noch hinführen?

Vielleicht zu einem Neustart. Nicht das erste Mal in der Menschheitsgeschichte würde eine Krise unser Hygieneverhalten umkrempeln. Neue Moden und Normen folgten aus Seuchen, Eroberungskriegen und Völkerwanderungen – oder einfach aus dem Handel mit fernen Zivilisationen. Mal fand man Gefallen an den fremden Sitten, mal blieb es beim Entsetzen.

Schmutz ist relativ. Jede Epoche, jede Zivilisation setzt ihre eigenen Hygienestandards und zieht die der anderen, nun ja, gern in den Dreck. Die antiken, Nil-vergötternden Ägypter blickten herab auf die Griechen, weil die sich in stehendem Wasser reinigten – in Wannen. Die Römer klauten den Griechen deren Wannenkultur und trieben sie in ihren Thermen zum Exzess. Tagelang gaben sie sich in Badepalästen dem Saunen, Saufen und Sex hin. Das Säubern im alten Rom war eine gesellige Sache, wie in Japan, Finnland oder der Türkei heute. Modernen Amerikanern wiederum wäre das Bad in der Menge ein Graus.

Diese Christen: »Sie waschen sich nie«

Wie Menschen sich reinigen und was sie für sauber halten: Ansichtssache. Selten beruht es auf rationalen oder gar wissenschaftlichen Erkenntnissen. Viel mehr zählen Irrtümer und Vorurteile, Konventionen und vor allem Konfessionen. Weniges hat die westliche Hygiene so geprägt wie der christliche Glaube – oder eben nicht geprägt.

Jesus sprach von der Reinheit der Seele. Von der Reinheit des Körpers sagte er nichts. Das hatte Folgen. Alle großen Religionen kennen Reinigungsrituale: Muslime waschen sich vor dem Freitagsgebet Gesicht, Hände und Füße. Juden folgen etwa zum Sabbat komplizierten Reinheitsgeboten, Hindus baden im – verdreckten – Ganges, buddhistische Mönche starten putzend in den Tag.

Und die frühen Christen? Über die Abendländler staunte man im Morgenland. »Sie waschen sich nie, weil ihnen bei ihrer Geburt hässliche Männer in schwarzen Gewändern Wasser über den Kopf schütten«, beobachtet ein arabischer Gärtner im Literaturklassiker »Tausendundeine Nacht«. »Begleitet von seltsamen Gesten, befreit sie das für den Rest ihres Lebens vom Waschen.«

Christliche Prediger schlurften zerlumpt und verlaust durchs Frühmittelalter und priesen die inneren Werte. »Ein sauberer Körper und ein sauberes Kleid bedeuten eine unsaubere Seele«, belehrte die heilige Paula von Rom (347-404) ihre Nonnen. Wenn sie eine Kirche betreten, tippen gläubige Christen kurz ins Weihwasser, und bei der Taufe wird längst nur noch die Stirn eines Babys benetzt, statt es unterzutauchen wie einst.

Körperpflege war in Bädern nur eine Option

Doch Annehmlichkeiten besiegen bisweilen den Glauben. Einst zogen die Kreuzfahrer aus, um Jerusalem vor den Ungläubigen zu retten – und ausgerechnet sie trugen deren Sitten zurück ins Abendland: als Hamam. Gern holte man sich im Mittelalter solchen arabischen Luxus ins europäische Haus und badete in Heißwassertrögen. Die unteren Stände besuchten öffentliche Badehäuser, Ortsnamen wie Baden oder Bath zeugen davon. Dienstherren zahlten dem Personal zunächst ein Badegeld, das Trinkgeld kam erst später auf.

Doch ums Waschen ging es in den Anstalten bald nur am Rande. Den Römern gleich wurde dort gegessen, gesoffen, gespielt, gesungen – stets gern unbekleidet. »Alle, die Liebe machen wollen, die heiraten wollen oder sich anderem Vergnügen hingeben, sie alle kommen hierher«, schrieb 1414 der Florentiner Schriftsteller Gianfrancesco Poggio Bracciolini über das schweizerische Baden.

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Ganz so lustig-lasterhaft ging es da schon nicht mehr zu. Denn seit 1348 zog die Pest durch Europa, brachte eitrige Beulen, Verderbnis und Tod. Aus dem öffentlichen Leben zog man sich ins Heim zurück und mied das Badehaus – schon weil die Pest als Strafe Gottes für diesen Sündenpfuhl galt. Nun folgten »die beiden dreckigsten Jahrhunderte in der Geschichte Europas«, schreibt Katherine Ashenburg in »The Dirt on Clean«, einer Hygienehistorie der Menschheit.

Stinktücher als Statussymbol

Im Zuge der bedrohlichen Pest verbreitete sich in ganz Europa auch Nonsens wie dieser: Verstopfte Poren halten die Körpersäfte »im Gleichgewicht« und schützen vor eindringenden Krankheiten. Einen Forscher lässt Patrick Süskind in seinem Roman »Das Parfum« die »Fluidum-Letale-Theorie« entwickeln, der zufolge die Erde schädliche Gase ausstößt. Und wie konnte man diese Gefahr bannen? Schweiß und Staub sollten die Poren verstopfen, oder man verrieb teure Öle auf der Haut – keinesfalls jedoch porentief reinigendes Wasser, schon gar nicht bei Hofe.

Vom 16. bis 18. Jahrhundert liefen Monarchen so übel riechend durch ihre Schlösser wie ihre leibeigenen Bauern über die Äcker. Die englische Königin Elisabeth I. (1533-1603) wusch sich immerhin einmal im Monat, »ob ich es nötig habe oder nicht«. Ein neues Hilfsmittel ersetzte das Poren öffnende Bad: Das Leinenhemd, direkt auf der Haut getragen, sollte Schweiß und Schmutz absorbieren. Manche trugen es ungewaschen, solange es hielt.

Bald galten die Stinktücher als Statussymbol, auf Porträts dieser Zeit lugt weißes Leinen aus Ärmeln und Kragen vornehmer Damen und Herren hervor. Wer das Geld hatte, begegnete dieser olfaktorischen Zumutung mit Parfum und Puder. Europas Mief macht Jean-Baptiste Grenouille in »Das Parfum« zum wahnsinnigen Duftkreateur und dann zum Mörder.

Inzwischen lebten immer mehr Menschen in Städten, auf deren Gassen alles landete: Schlachtabfälle, Gammelgemüse, der Inhalt der Nachttöpfe – so wie in weiten Teilen der Welt heute noch. Durch all den Dreck liefen Hühner, Schweine, Ziegen. Mit der aufkommenden Kanalisation setzte sich die Erkenntnis durch, dass Wasser vielleicht doch nicht so schlecht ist für Gesundheit und Wohlbefinden.

Auch bei manchen Füßen / würde man's begrüßen

So kehrte das Waschen im späten 18. Jahrhundert zurück nach Europa. Allerdings möglichst kalt. Denn die Lehre von Englands Landadel lautete nunmehr: Wenn Dreck die Poren verstopft, kann Kohlendioxid nicht dem Körper entweichen. Zum Beweis dienten Experimente mit geteerten Pferden, die elendig verreckten. Was also konnte besser der Gesundheit dienen, als in Flüsse und Quellen zu tauchen? Für viktorianische Briten war es Ausdruck von Vitalität und Virilität, ihr Weltreich glaubten sie dieser morgendlichen Selbstkasteiung zu verdanken.

Derweil führte der Wiener Arzt Ignaz Semmelweis (1818-1865) das verbreitete Kindbettfieber auf mangelnde Hygiene bei den Ärzten zurück. Damals wurden weder Instrumente noch Hände gereinigt, selbst nach Leichensektionen nicht. Semmelweis gab den Medizinern auf, sich die Hände zu waschen; die Müttersterblichkeit sank drastisch. Indes glaubte ihm zunächst niemand, seine Kollegen wollten nicht wahrhaben, dass sie es waren, die Infektionen übertrugen.

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Auch Regierungen mussten immer wieder rigide durchgreifen, um wissenschaftliche Erkenntnisse »unters Volk« zu bringen. In den USA erwirkte das die Massenimmigration. Um 1900 waren von New Yorks dreieinhalb Millionen Einwohnern knapp 40 Prozent Einwanderer. Auch in Philadelphia oder Boston pferchten sich die Ankömmlinge in primitive Quartiere, regelmäßig brachen Pocken und Typhus aus. Das einzige Wasser, das katholische Iren benutzten, sei Weihwasser, spottete man.

Duschen als »zivilisierende Macht gegen die unzivilisierten Europäer«

Aus den dreckigen Gestalten der Mietskasernen sollten gute, saubere Amerikaner werden. Täglich mussten sich 8000 Einwanderer auf Ellis Island unter eine Dusche stellen – für viele das erste »Regenbad« ihres Lebens. Das Bad, befand ein Chicagoer Stadtpolitiker, sei die »einzige zivilisierende Macht, die etwas gegen die unzivilisierten Europäer« ausrichten könne.

Bald kam den Saubermännern die Werbung zu Hilfe. Der erste TV-Spot überhaupt pries Seife an, schreibt Virginia Smith in ihrer Hygienegeschichte »Clean«. Die nachmittäglichen Seifenopern, benannt nach den Werbepausen für Waschmittel, machten aus dem Sauberkeitsfimmel der Amerikaner eine Obsession.

Jahrzehnte vor Corona kam mit dem Waschzwang die Dauerangst vor germs, vor Bakterien. Schon lange gibt es in den USA spezielle Gurte zu kaufen, die einen davor bewahren, die Halteschlaufen in Bussen anzufassen, ebenso kann man im Supermarkt Manschetten auf den bazillenverseuchten Einkaufswagengriff legen. Doch längst ist der Zusammenhang zwischen Hygienehysterie und Allergien bekannt: In Picobello-Haushalten entwickeln Kinder öfter Allergien als auf dem Bauernhof in natürlichem Schmutz.

Selbst in den heute so reinlichen USA lässt sich ein Sinneswandel beobachten. Laut »New York Times« finden mehr und mehr Amerikaner, seltener zu duschen, sei besser für Haut und Umwelt. Solange alle weiter fleißig Hände waschen, ist das ja vielleicht ein neuer gesunder Kompromiss.