Gendern und gerechte Sprache: Erlöse uns von der Bösen!

Gelten Bürgerrechte nur für Männer? Und warum hat Marx seine Zuhörer nicht mit «Volksgenossinnen und Volksgenossen» angesprochen? Überlegungen zu einigen sprachtheoretischen Verirrungen der Gegenwart.

Stefan Stirnemann 101 Kommentare
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Dürfen Semmelknödel nur aus einer Semmel bestehen? Ja, sagte Karl Valentin, sonst müssten sie Semmelnknödeln heissen. Den Knödeln in der Schale dieser Frau ist es vermutlich egal, wozu sie verarbeitet werden.

Dürfen Semmelknödel nur aus einer Semmel bestehen? Ja, sagte Karl Valentin, sonst müssten sie Semmelnknödeln heissen. Den Knödeln in der Schale dieser Frau ist es vermutlich egal, wozu sie verarbeitet werden.

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Friedrich Rückert, als Dichter und Übersetzer doppelt gesegnet, lässt im Gedicht «Die Sprache und ihre Lehrer» unsere Sprache einem Lehrer begegnen, einem von denen, die solche sprachliche Meisterschaft erreicht haben, dass sie die Sprache meistern können und vom Meister zum Meisterer aufsteigen. Die Sprache ist so freundlich, eine Weile mit ihm zu gehen, aber auf die Vorschriften, die er ihr macht, hört sie nicht: «Die Sprache sprach: Mein guter Mann, Was geht denn dein System mich an?»

Nach der sogenannten Reform der Rechtschreibung blüht uns eine neue amtliche Wohltat, diesmal im Zeichen der gerechten Sprache.

Was ist Sprache? Doch das, woran alle mitsprechen und mitschreiben. Ihre lebendige Ordnung entsteht, indem jeder für sich das Ziel verfolgt, verstanden zu werden. So bilden sich Formen und Schreibweisen, sie bilden und wandeln sich, und das gilt auch für die Bedeutungen; sie werden nicht von einer Zentrale festgelegt.

«Flüchtling» – wirklich abschätzig?

Sprachregelungen haben ihren Platz in Diktaturen, wobei jede Diktatur auf Hilfe angewiesen ist: Sie braucht Leute, die bereit sind, Befehle zu zischen, und Leute, die Männchen machen, wenn sie es zischen hören. Im Dienste der Gerechtigkeit gelten heute Bildungen wie Lehrling und Flüchtling als verwerflich; jeder -ling ist ein Widerling, und weil der gute Mensch keinem diese Schmach antun soll, werden solche Wörter erst angeprangert, dann von Amts wegen ersetzt. Der lebensfrohe Lehrling wird zum und zur bleichen Lernenden.

Vor sechs Jahren bestimmte die Gesellschaft für deutsche Sprache Flüchtling als Wort des Jahres, schrieb dazu, dieses Wort klinge für sprachsensible Ohren «tendenziell abschätzig», und verglich es mit dem Eindringling («negativ konnotiert»), dem Prüfling und dem Lehrling («deutlich passive Komponente»). In Wahrheit sind das sprachdumme Ohren, die sich, weil ihre Inhaber zu wenig lesen, in Alarmampeln verwandelt haben und rot aufleuchten, wenn ein Staubkorn vorüberweht.

Vor fast zweihundert Jahren hat Karl Ferdinand Becker, einer der Gründer der deutschen Sprachwissenschaft, in seiner «Deutschen Grammatik» diesen Typ der Wortbildung beschrieben. Er hat «Personennamen» vorgefunden, wie Fremdling, Häuptling, Flüchtling, Zögling, und unterscheidet von ihnen Wörter mit dem «Nebenbegriff des Verächtlichen»: Höfling, Witzling, Dichterling. Wer mit der Sprache vertraut ist, kennt solche Unterscheidungen. Wer die Unterscheidungen über den Haufen wirft, um an ihre Stelle ein künstliches System zu setzen, gehört zu den Sprachmeisterern, die immer wieder kommen und zum Glück immer wieder gehen.

Den Schaden allerdings lassen sie zurück. Ihre grösste Sorge widmen die Meisterer zurzeit dem sprachlichen Unrecht im Zusammenleben der Geschlechter; sie glauben, dass Formen wie der Macher, der Offizier, der Bürger nur auf Männer passen und dass deswegen immer auch die Ableitung auf -in bereitgehalten werden muss. Dass das nicht stimmt, lehrt eine Fahrt im ICE nach Hamburg.

Die Frau – ein Macher?

Dort, wo man mehr bezahlt, aber auch grösseren Anspruch auf Stille hat, sitzt eine Frau, die lauthals mit aller Welt telefoniert, offensichtlich um in dieser Welt Geschäfte zu machen. Zwischendurch berichtet sie zur Erholung (der eigenen, nicht der Mitreisenden) einer Freundin, was sie gerade tut, und ruft aus voller Überzeugung und Kehle: «Ich bin ein Macher!» Und damit hat sie recht; der Macher ist der, der etwas tut, und dies ohne Bezug zum körperlichen Geschlecht.

Nach dem Untergang des «Dritten Reiches» schrieb Hannah Arendt ihrem einstigen Lehrer Karl Jaspers: «Seitdem ich in Amerika bin, also seit 1941, bin ich eine Art freier Schriftsteller geworden, irgendetwas zwischen einem Historiker und einem politischen Publizisten.» Über die «Deutschland-Frage» habe sie geschrieben, als es unmöglich wurde, zu schweigen: «gerade wenn man Jude ist».

Auch ein Gang ins Kino belehrt über den allgemeinen Sinn des sogenannten männlichen Artikels: Im Film «Matrix» muss sich der Held Neo in tödliche Gefahr begeben, und die Heldin Trinity will ihn begleiten. Als Neo das zurückweist, setzt sich Trinity durch, indem sie sagt, sie sei der ranghöchste Offizier («the ranking officer»). Als «ranghöchste Offizierin», wie wahrscheinlich heute untertitelt würde, hätte sie keine unanfechtbare Befehlsgewalt; Neo könnte im Rang über ihr stehen. Der allgemeine Begriff ist nötig, und dieser allgemeine Begriff ist der Begriff mit dem Artikel «der». Er ist, genau betrachtet, sogar der schwächere Begriff, da er nicht eindeutig ist. Offizier kann ein Mann oder eine Frau sein, Offizierin nur die Frau.

Geschlecht und Leistung

Die politische Grundfrage in diesem Zusammenhang lautet, ob Bürgerrechte nur für Männer gelten, so dass noch Bürgerinnenrechte nötig sind. Schlagen wir bei Karl Valentin und Liesl Karlstadt nach, wie man zusammengesetzte Wörter peinlich genau nimmt! Valentin verficht die Meinung, dass der Semmelknödel nur aus einer Semmel bestehe und dass die Mehrzahl – da man Semmelknödeln nur aus mehreren Semmeln kneten könne, sie würden sonst «so klein wie Mottenkugeln» – Semmelnknödeln heissen müsse. Wo ist dieser gerechte Begriff zu betonen? Valentin hält das erste n für den wichtigsten Laut. Der Gedankenbruch führt zum Zungenbrecher, und heute kann man darüber rätseln, wie man den Zuhörer(n)*innen alles Gute wünscht.

Verbürgt das krampfhafte Denken ans Geschlecht die gute Gesinnung? Dann gehört Karl Marx zu den Ungerechten («Proletarier aller Länder!»), Adolf Hitler mit seinen «Volksgenossinnen und Volksgenossen» zu den Gerechten. Und wo bleiben jeweils die Kinder? Und was ist mit all den Zwischen- und Nebengeschlechtern, die zu unterscheiden sind?

Der Apostel Paulus stiess in Athen auf einen Altar, der «dem unbekannten Gotte» geweiht war; die frommen Athener wollten keine fromme Schuldigkeit versäumen. Um sich ihrerseits nicht zu versündigen, müssten die Sprachmeisterer heute immer noch eine Klausel zum unbekannten Geschlecht einfügen. Wem tue ich einen Dienst, wenn ich behaupte, es käme aufs Geschlecht an und nicht auf das, was einer leistet?

Als man in fernen Ländern sogenannte Eingeborene entdeckte, schuf man, um zu zeigen, dass es unter ihnen auch ganz annehmbare Leute gibt, die Vorstellung des edlen Wilden. Dieselbe Art von Titel ist jener der starken Frau; leicht wird er zum Schulterklopfen. Herablassung zeugt von schlechtem Stil.

Der stilbewusste Grimmelshausen, Sprachmeister des 17. Jahrhunderts, stellte im Spass neben das Wort jedermänniglich die Bildung jederweiberlich. In unserer Zeit werden solche Wortwitze bierernst breitgetreten.

Begonnen hat es im Jahr 2006 mit dem Schweizer Schülerduden, der reihenweise gerechte Wörter in die Welt brachte: Schmierfinkin, jederfrau, Massenmörderin. Nun führt der grosse Duden diese Aufgabe fort, und alle sollen wir uns in seine engen und schiefen Schulbänklein zwängen («Der Duden heisst die Bösewichtin willkommen», NZZ 17. 2. 21). Brauche ich ein Wörterbuch, wenn es mir einfällt, eine Ableitung auf -in zu schreiben?

Die Sprachrevolution

Wer findet die gerechteste Form? Die Sprache kennt Säuglinge, Wohltäter, Bundesräte. Karl Valentin und Grimmelshausen empfehlen gemeinsam die Saugenden, Wohltuenden, Bundesratenden. Bei den Letztgenannten liesse sich, ab und zu mit Recht, ans Herumraten denken. Papageno schliesslich singt neu: «Ein Männchen oder Weibchen wünscht Papageno sich!» Wer fühlt sich noch ausgeschlossen?

Gottfried Keller schrieb im «Grünen Heinrich» von «Regierungspersonen». Dass dieses Wort damals Männer meinte und dass es heute für Frauen und Männer steht, das liegt an der Wirklichkeit, nicht am Wort. Es gibt zwei Typen von Mensch: Der eine will die Welt ändern, der andere schont seine Kräfte und regelt die Sprache.

Harmlos gehe ich im Wald meines Weges, da lärmt im Gebüsch eine Amsel los und flieht flügelschlagend. Sie wähnt sich in Gefahr, und mit ihrem Zetern macht sie mich zur Vogelscheuche. Die Amsel ist das Wappentier derer, die überall die grosse Kränkung wittern, beispielsweise eine böse männliche Form, die durch die weibliche aufgewogen werden muss.

Welches Wort aber und welche Form in welchen Zusammenhang passt, das ist eine Frage der Genauigkeit und Höflichkeit, also des Stils, die sich ohne Befehl klären lässt. Wer das anders sieht, die/der/das hoffe auf das Bundesamt für Wohlanstand. Es wird ungerechte Wörter auswechseln und giftige Bücher verbrennen.

Gut ist der Mensch, wenn man ihm befiehlt, es zu sein, und das beste Gute wird, wie wir wissen, nur durch Amtsverfügung Wirklichkeit.

Stefan Stirnemann ist klassischer Philologe und Gründungsmitglied der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK).

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Kurt Weiss

Das sind lesenswerte und heitere Überlegungen zu den sprachlichen Auswüchsen in einer Epoche, die eigentlich grössere Probleme zu debattieren hätte.  Der Autor hat verstanden, dass die beste Verteidigung gegen die Dummheiten des Genderns im Humor liegt, indem er diese überflüssige Mode der Lächerlichkeit preisgibt. Dasselbe Rezept sollte auch vermehrt zur Abwehr von "woke" und "cancel culture" angewendet werden. NB: Sollte demnächst die NZZ dem Zeitgeist erliegen und das Blatt in "Neue Zürcher*innen Zeitung" umtaufen, würde mein Abonnement umgehend gecancelt.

M. R.

Ich verstehe nicht, wie es kommen konnte, dass plötzlich niemand mehr weiss, wie die deutsche Grammatik funktioniert. Und dass die Wörter "gerecht" gemacht werden müssen. Die Linguistik, die diesen "turn" initiiert hat, ist die feministische, welche besagt, dass die Personenbezeichnungen, die männlich sind, nur Männer meinen. Dahinter steht ein bewusstes Umdeuten und Umerziehen, eine forcierte Anpassung an ein angestrebtes Menschenbild. Für mich sind diese Sprachmanipulationen autoritär, übergriffig, stossend. Es ist stossend, wenn jeder Satz auf die Geschlechterebene gesetzt und pausenlos das biologische Geschlecht in den Vordergrund gerückt wird. Dies ist falsch und irreführend und sexualisiert die Sprache.  Wer hat dazu legitimiert?  Wer hat wem je einen solchen Auftrag zur Umdeutung der deutschen Sprache gegeben?  Ich halte mich an die korrekte und verständliche deutsche Grammatik, die inklusiv ist, was eigentlich alle wissen, und lasse mir kein verkrampftes Gendersternchen an den Hut setzen.