Der britische Verleger Lord Weidenfeld: Europa drohen gigantische Gefahren

Von: Von Lord Weidenfeld

Die Schuldenkrise hat die Europäische Union an ihre Grenzen gebracht: Wie kann Europa solche Krisen in Zukunft vermeiden? Experten und Politiker schreiben in BILD über Europas Zukunft. Heute: Lord George Weidenfeld, britischer Verleger und Mitglied des Oberhauses.

„Mit seinem Aufruf an ein einiges Europa, trotz Wirtschaftskrise zusammenzuhalten, hat Helmut Kohl, aus meiner Sicht der bedeutendste Staatsmann der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, sein politisches Testament hier kürzlich dargelegt.

Er sieht in der EU den Sieger im Kalten Krieg und den Weichensteller für eine demokratische Zukunft.

Heute, am Anfang eines neuen Jahrhunderts, steht Europa wiederum vor gigantischen Gefahren.

Die Kräfte, die uns gegenüberstehen und unsere demokratischen, politischen Institutionen bedrohen, sind von einem Fanatismus beseelt, der die Flammen einer unerbittlichen Religion und einer antiwestlichen Ideologie gegen gerade jene Ideale schürt, die uns in Europa zusammenhalten. Die extremen Islamisten meinen es ernst, wenn sie von dem Dschihad der Zukunft, der Rückeroberung eines verlorenen Imperiums sprechen.

Europa darf diese Tendenzen nicht von der Hand weisen.

Die Terroroffensive, wie sie sich am 11. September 2001 in New York abspielte, musste als Wendepunkt und grimme Mahnung gelten. Der Arabische Frühling war ein Aufstand der Entmächtigten, aber er wandelte sich in kürzester Zeit zu einer weiteren Periode politischer Unsicherheit und drohender Schreckensherrschaft radikaler Elemente. Drei Viertel der Wählerschaft Ägyptens suchten ihr Heil in radikalen, dem religiösen Fanatismus zugeneigten Parteien.

An den Flammenherden im Nahen Osten und den Krisenherden Afghanistan, Pakistan und Iran gibt es genügend Möglichkeiten schrecklicher Ausbrüche. Wenn es zum Beispiel Iran gelänge, trotz Drohungen des Westens Atomwaffen zu erzeugen, würde die ganze Nachbarschaft in Unruhe geraten und sich Vernichtungswaffen aller Art in fieberhafter Eile verschaffen wollen.

Europa muss zusammenhalten. Auch in einer friedlichen Welt ändern sich die Proportionen von Macht und Einfluss. Ein uneiniges Europa, entfremdet vom großen atlantischen Partner USA, muss mit wirtschaftlichem Abstieg und politischem und sozialem Niedergang rechnen.

Die künftige Zusammenarbeit Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens ist von großer Bedeutung. England wird weiter außerhalb der Eurozone bleiben und wahrscheinlich die Bande mit Brüssel lockern, sich jedoch weiterhin solidarisch mit Europa verbunden fühlen. Sollte der Sozialist François Hollande den Konservativen Sarkozy im Mai als nächsten Präsidenten Frankreichs ablösen, werden grundlegende Änderungen in Frankreichs Wirtschafts- und Europapolitik zu erwarten sein.

Deutschland bleibt die Leitungsrolle in Europa nicht erspart.

Die finanzielle Neuordnung der Eurozone muss den Ausschluss des einen oder anderen Mitgliedsstaats verkraften können, ohne dass wesentliche Sparten einer gemeinsamen Europapolitik langfristig gefährdet sind. Die Zukunft erfordert eine enge Zusammenarbeit der Regierungen, Integrität und Schlagkraft der Medien – und vor allem eine reifere, sich der Lage bewussten Bevölkerung. Europas Völker haben Vernichtungskriege, tyrannische Herrschaften und materielle Nöte miterlebt.

Ein Wille zur Einheit und zur Verteidigung einer freien Gesellschaftsordnung müsste und könnte die lauernden Gefahren eines tragischen Niedergangs entscheidend abwenden.

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