Demonstranten in Minsk
AP/Dmitri Lovetsky
Weißrussland

Für Opposition gibt es „kein Zurück mehr“

Die Opposition in Weißrussland will angesichts der tagelangen Massenproteste auch die Streiks in der Ex-Sowjetrepublik ausweiten. Der Ausstand in allen wichtigen Staatsbetrieben solle so den Machtapparat zum Aufgeben zwingen, sagte Maria Moros, Wahlkampfleiterin der Oppositionellen Swetlana Tichanowskaja.

„Wir machen der scheidenden Macht begreiflich, dass es kein Zurück geben wird“, so Moros in einer Videobotschaft. Seit mehr als einer Woche gehen landesweit Menschen auf die Straßen und fordern den Rücktritt von Langzeitpräsident Alexander Lukaschenko. Menschen in vielen wichtigen Betrieben legten bereits ihre Arbeit nieder.

Der wirtschaftliche Schaden, der durch die Streiks entstehe, treffe vor allem den Machtapparat, sagte die Aktivistin Moros. „Sie verstehen nur diese Sprache.“ Die Machtelite benötige das Geld für ihr eigenes Wohlbefinden und auch für die Einsatzkräfte bei den Protesten. Arbeitern, die Angst um ihre Existenz haben, sicherte die Opposition über einen Solidaritätsfonds finanzielle Hilfe zu.

Die Betriebe gelten als elementar für das Funktionieren des Staates. Experten gehen davon aus, dass der Staatschef über die Arbeitsniederlegungen nach 26 Jahren an der Macht am schnellsten zum Aufgeben gedrängt werden kann.

Proteste in Minsk
AP/Sergei Grits
Tausende gehen täglich auf die Straße – nicht nur in Minsk, sondern auch in anderen Städten

Koordinierungsrat hofft auf Rückkehr von Tichanowskaja

Die Opposition will das Land mit einem Koordinierungsrat aus der Krise führen – am Dienstag wurde das Gremium vorgestellt. Es gehe dabei nicht um eine gewaltsame Machtübernahme, sondern um einen friedlichen Machttransfer und darum, in der Gesellschaft Einigkeit zu erzielen, sagte Olga Kowalkowa vom Oppositionsstab bei einer Pressekonferenz in Minsk. „Der Koordinierungsrat ist im Einklang mit der Verfassung.“ Das aus sieben Personen bestehende Präsidium müsse noch gewählt werden. Die erste Sitzung soll an diesem Mittwoch sein.

Lukaschenko hatte zuvor den Initiatoren mit „Maßnahmen“ gedroht und behauptet, es handle sich bei dem Gremium um einen Versuch, die Macht an sich zu reißen. Das Oppositionsgremium hofft indes auf eine baldige Rückkehr der Präsidentenkandidatin Tichanowskaja in ihre Heimat. „Ihr droht hier nichts mehr“, sagte Kowalkowa vom Oppositionsstab. Die 37-Jährige war aus Angst um ihre Kinder und um ihre eigene Sicherheit ins EU-Land Litauen geflüchtet.

Lukaschenko: Armee im Westen in Gefechtsbereitschaft

Auch versetzte Lukaschenko die Armee an der Westgrenze seines Landes in volle Gefechtsbereitschaft. Die zuständigen Einheiten seien nun bereit, ihren Verpflichtungen nachzukommen, sagte der Präsident bei einer Sitzung des Sicherheitsrates in Minsk laut Staatsagentur Belta.

„Wir haben heute nicht nur innen, sondern auch außen Probleme“, so Lukaschenko. Er hatte bereits am Wochenende die Verlegung von Fallschirmjägern nach Grodno im Westen des Landes angeordnet. Er begründete das mit der angeblich angespannten Sicherheitslage dort. Zudem hatte er behauptet, NATO-Truppen hielten sich nicht weit von der Grenze entfernt auf. Das Militärbündnis hatte das zurückgewiesen.

„Hau ab“-Sprechchöre

Montagabend gingen erneut Tausende Menschen gegen Lukaschenko auf die Straße. Mindestens 5.000 Menschen versammelten sich bei einer Oppositionskundgebung in der Hauptstadt Minsk. Immer wieder forderten sie Lukaschenko mit dem Sprechchor „Hau ab“ zum Rücktritt auf.

Vor einer Haftanstalt in Minsk forderten die Demonstrantinnen und Demonstranten die Freilassung politischer Gefangener und riefen die Namen von Inhaftierten. Zudem demonstrierten sie ihre Unterstützung für den im Laufe des Tages entlassenen Theaterchef Pawel Latuschko. Der Ex-Kulturminister hatte zuvor Neuwahlen gefordert. Medienberichten zufolge verließen nach seiner Entlassung mehrere Mitglieder aus Solidarität das Theaterensemble.

Von Arbeitern niedergeschrien

Im Laufe des Montags hatte es im ganzen Land Protestaktionen gegeben, vielerorts wurde gestreikt. Beim Besuch einer staatlichen Fabrik wurde der Machthaber von Arbeitern niedergeschrien. Die Oppositionskandidatin Tichanowskaja hatte ihrerseits aus dem Exil ihre Bereitschaft erklärt, die Führung des Landes zu übernehmen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel dankte indes Litauen für die Aufnahme Tichanowskajas.

Alexander Lukashenko
APA/AFP/Belta/Nikolay Petrov
Auch ein Auftritt in einer staatlichen Fabrik verlief zunächst nicht so wie von Lukaschenko geplant

Lukaschenko stellt Bedingung

Lukaschenko ist indes nach eigenen Worten zu weitgehenden Zugeständnissen bereit. Die Nachrichtenagentur RIA berichtete, Lukaschenko stimme Neuwahlen zu, sobald eine neue Verfassung in Kraft sei. Zuvor hatte der Staatschef das vehement abgelehnt. Lukaschenko versucht offenbar, mit einer Mischung aus Härte, Zugeständnissen und einem In-die-Länge-Ziehen die Zügel in der Hand zu behalten oder sich zumindest einen erst längerfristigen Abgang zu sichern.

Weißrussland befindet sich ähnlich wie die Ukraine geopolitisch an der Nahtstelle zwischen der EU bzw. der NATO und Russland. Das hat Lukaschenko jahrelang geschickt für sich genutzt. Die Beziehungen von EU und NATO mit Russland sind seit Jahren schwer belastet. Moskau, das vor allem der NATO Expansionsgelüste unterstellt, sieht in Weißrussland einen entscheidenden Puffer.

Kreml warnt vor Einmischung aus dem Ausland

Am Dienstag warnte der Kreml vor Einmischung „in innere Angelegenheiten“ Weißrusslands vom Ausland aus. Die Lage könnte weiter eskalieren, wenn es entsprechende Versuche gebe, teilte der Kreml nach einem Telefonat von Präsident Wladimir Putin mit Merkel mit.

Ein militärisches Eingreifen des Kreml ähnlich wie in der Ukraine gilt in Weißrussland aber als eher unwahrscheinlich. Das Gros der weißrussischen Bevölkerung ist für gute Beziehungen zu Moskau – anders als in der diesbezüglich gespaltenen Ukraine. Tatsächlich betonte Tichanowskajas Mitstreiterin Maria Kolesnikowa am Dienstag gegenüber dem kremlkritischen russischen Radiosender Echo Moskau, dass die Opposition keinen Bruch mit Russland anstrebe. Alle Vereinbarungen sollten eingehalten werden. Moskau sei ein wichtiger Partner. „Wir verstehen und schätzen das.“

Sondergipfel am Mittwoch

Aufgrund der jüngsten Entwicklungen berät die EU am Mittwoch auf einem kurzfristig anberaumten Sondergipfel zur Lage in Weißrussland. Die Regierungschefinnen und -chefs werden dabei nach einer gemeinsamen Linie suchen und wohl Moskau vor einem Eingreifen warnen.

Botschafter in Slowakei zurückgetreten

Ein Signal kam unterdessen am Dienstag aus der Slowakei: Der dortige weißrussische Botschafter, der sich zuletzt mit der Opposition in seiner Heimat solidarisiert hatte, reichte seinen Rücktritt ein. Das berichtete die slowakische Nachrichtenagentur TASR unter Berufung auf das weißrussische Nachrichtenportal Tut.by. Dem Portal gegenüber sprach Botschafter Igor Leschtschenja davon, sein Rücktritt sei „ein logischer Schritt“, nachdem er sich gegen Lukaschenko gestellt habe, von dem er ernannt worden sei.

Die Proteste gegen die Führung in Minsk waren ausgebrochen, nachdem Lukaschenko nach einer von Manipulationsvorwürfen überschatteten Wahl dennoch zum Sieger erklärt worden war. Bei den Demonstrationen wurden mindestens zwei Menschen getötet, mehr als 150 verletzt und rund 7.000 festgenommen. Die meisten von ihnen sind jedoch wieder auf freien Fuß. Es sind die größten Proteste, die das Land in seiner Geschichte je erlebte.