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Kultur Deutsches Forschungsprojekt

Wie viel Wahrheit steckt im geheimnisvollen Koran?

Mohammed - Der Prophet des Islam (1) + (2) Mohammed - Der Prophet des Islam (1) + (2)
Der Prophet Mohammed mit seiner Frau
Quelle: picture-alliance / obs/arte
Das Heilige Buch des Islam wird entschlüsselt. Zwei deutsche Forschungsprojekte wollen völlig neue Erkenntnisse über die Entstehung des Koran und seine Bedeutung liefern. Die Fragen, die sie stellen, sind brisant: Ist das Buch des Islam göttliches Wort, christliche Häresie oder falsche Übersetzung?

Als der Engel kam, geriet der Prophet in Panik. Mohammed war allein, er hatte sich tagelang in einer Berghöhle versteckt, um nachzudenken, um Andacht zu halten, zu beten. Vielleicht suchte er nach der Wahrheit. Vielleicht spürte er die Nähe Gottes. Vielleicht wartete er auf ein Zeichen. Aber als der Engel kam, war es schrecklich.

Mohammed hörte erst nur seine Stimme: „Du bist der Gesandte Gottes!“ Nach diesen Worten brach der Prophet zusammen, er sank auf die Knie, rutschte auf dem Boden umher und überlegte kurz, ob er sich von der Klippe stürzen sollte. Doch dann zeigte sich der Engel und sprach von neuem. „Lies!“ – „Was soll ich lesen?“ Da packte ihn der Engel, er schüttelte ihn dreimal und rief: „Trag vor im Namen deines Herrn, der den Menschen schuf.“ Mohammed traten die Schweißperlen auf die Stirn, aber er gehorchte und begann laut vorzutragen, was der Engel ihm eingab. „Vortrag“ heißt auf Arabisch Qu'ran. In deutscher Schreibweise: Koran.

So stellt sich die muslimische Tradition die Berufung Mohammeds vor. Es soll die erste von vielen Offenbarungen gewesen sein, die dem Propheten zuteil wurden, in Mekka, später dann in Medina, zwischen 610 und 632, dem Todesjahr Mohammeds. Der Engel redete, Mohammed wiederholte seine Vorträge laut und gab die Worte dann an seine wachsende Gemeinde weiter. Aus einzelnen Sprüchen wurden ganze Suren, aus Suren später der Koran, das heilige Buch des Islam. War es so?

Zwei neue wissenschaftliche Projekte

Die moderne Islamwissenschaft versucht gerade, es herauszufinden. Derzeit laufen zwei deutsche Forschungsprojekte, die völlig neue Erkenntnisse über die Entstehung des Koran und seine Bedeutung liefern könnten. In Potsdam an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wird seit einem Jahr an der ersten vergleichenden Edition der wichtigsten Koranhandschriften aus den ersten Jahrhunderten der islamischen Zeitrechnung gearbeitet. Das Projekt heißt „Corpus Coranicum“. Es soll den Weg zu einer quellenkritischen Gesamtausgabe des Koran ebnen; die ersten Ergebnisse sollen Ende März vorliegen und dann so bald wie möglich im Internet veröffentlicht werden. Und der Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin von der Universität Erlangen-Nürnberg hat eine neue deutsche Übersetzung des Koran vorgelegt. Sie wird in der nächsten Woche auf der Leipziger Buchmesse präsentiert. Der Verlag C. H. Beck, einer der renommiertesten deutschen Wissenschaftsverlage, verspricht nichts weniger als die „erste philologisch und sprachlich überzeugende Übersetzung seit Jahrzehnten“.

Die Entstehung des Koran ist bisher viel schlechter erforscht als die der Bibel oder der Tora. Muslimische Gelehrte haben die Erzählungen von Mohammeds Offenbarungen Jahrhunderte lang als selbstverständlich vorausgesetzt und sich ihre Köpfe lieber über Auslegungsfragen zerbrochen. Westliche Forscher haben den Koran dagegen meist ignoriert, und wenn sie sich doch mit ihm beschäftigt haben, dann oft, um seine vermeintliche Minderwertigkeit gegenüber der christlichen Tradition zu beweisen.

Die Folge: Die Islamwissenschaft steht heute vor bedeutenden Problemen, die etwa die Erforschung des Alten und neuen Testaments längst überwunden hat: Ihr wichtigster Forschungsgegenstand, der Koran, ist textlich nicht gesichert, es gibt keine kritische Ausgabe des arabischen Originaltextes. Stattdessen sind bis zu 14 verschiedene Versionen in der islamischen Welt anerkannt, die sich in den Jahrhunderten nach Mohammed etabliert haben. Und: In vielen Ländern fehlen wissenschaftlich einwandfreie, gleichzeitig aber sprachlich angenehme Koranübersetzungen, trotz einiger Übersetzungen auch in Deutschland. Beide Probleme sollen nun gelöst werden.

Die Forscher stehen vor großen Herausforderungen, denn der Koran macht es ihnen nicht leicht. Die Meinungen darüber, was er eigentlich ist, gehen weit auseinander. Die einen sagen: Er ist das Wort Gottes, das Mohammed weitergegeben hat, und wer daran rüttelt, muss bestraft werden. Andere sagen: Mohammed hat aus christlichen und jüdischen Texten abgekupfert und daraus eine verwirrende Melange gemacht. Wieder andere sagen: Mohammed hatte mit dem Koran sowieso nichts zu tun, es waren seine Nachfolger, die nach dem Tod des Gemeindeführers einige liturgische Texte zusammengewerkelt und dann Allah in den Mund gelegt haben. Einige behaupten, Mohammed hat es nie gegeben.

Wie Mohammed den Koran empfing

Was man über die Entstehung des Koran sicher weiß, ist in etwa Folgendes: Zu Beginn des 7. Jahrhunderts lebte ein Kaufmann namens Mohammed in der Stadt Mekka im Südwesten der Arabischen Halbinsel. Um ihn herum lebten Beduinen, die viele heidnische Götter gleichzeitig verehrten, aber auch Juden und Christen. Im Alter von vielleicht 40 Jahren begann Mohammed, die Götzenbilder der Heiden abzulehnen. Er hatte von den Lehren der Buchbesitzer gehört (ob er lesen und schreiben konnte, ist umstritten), er kannte die arabischen Kulte und er hatte eigene Eingebungen. Mohammed ging an die Öffentlichkeit und erzählte von Allah, dem einen Gott, der die Erde erschaffen habe, der den Jüngsten Tag über die Welt kommen lassen und über die Toten zu Gericht sitzen werde. Die Zuhörer waren von solchen Aussichten wenig begeistert, einige wurden wütend und begannen, Mohammed zu bedrohen. Nach einer Weile musste der Prophet Mekka verlassen und mit seinen Getreuen ins etwa 400 Kilometer nördlich gelegene Medina fliehen. Diese „Ausreise“ (arabisch: „Hidschra“) wird auf das Jahr 622 datiert und markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung.

In den folgenden Jahren hatte Mohammed immer wieder Eingebungen, er bekehrte allmählich ganz Medina; seine Anhänger hörten seinen Sprüchen zu, sie lernten sie auswendig und erzählten sie sich gegenseitig weiter. Wahrscheinlich machten sie sich auch schon erste Notizen. Als er sich mächtig genug fühlte, begann Mohammed, bewaffnete Feldzüge in die benachbarten Regionen zu unternehmen. Zuletzt gelang ihm sogar die Einnahme seiner widerspenstigen Heimatstadt Mekka, ein wichtiger Prestigeerfolg für die junge Bewegung, denn in Mekka befand sich die geheimnisvolle Kaaba, die schon von den Heiden verehrt und nun zu einem Heiligtum Allahs umfunktioniert wurde. 632 starb Mohammed in Medina. Plötzlich und unerwartet.

Die Tücken der Überlieferung

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Für die junge Gemeinde war das eine Katastrophe. Die militärische Expansion machte zwar Fortschritte: Die beiden benachbarten Großmächte, Persien und Byzanz, hatten sich zuvor jahrzehntelang gegenseitig bekriegt und konnten den leidenschaftlichen Kriegern aus der Wüste kaum etwas entgegensetzen. Aber bei jeder Schlacht fielen Mohammed-Anhänger der ersten Stunde. Diejenigen, die den „Gepriesenen“ oder seinen engsten Kreis noch selbst gehört hatten, starben allmählich aus, und mit ihnen drohte auch das Wissen um Mohammeds Botschaft verloren zu gehen. Schon begannen die ersten, sich über verschiedene Sprüche und ihren Sinn zu streiten. Irgendwann muss einer der Mohammed-Nachfolger, der Kalifen, die Anweisung gegeben haben, alle Prophetensprüche zu sammeln, die mündlich und schriftlich im Umlauf waren, und sie als verbindendes und verbindliches Buch aufzuschreiben. Dies war die Geburtsstunde des Koran. Sie fiel wahrscheinlich, wie es die muslimische Tradition lehrt, in die Amtszeit des dritten Kalifen Uthman (644-656). Damals soll eine zentral verordnete Endredaktion des heiligen Textes entstanden sein; die kursierenden Sprüche des Propheten wurden zu 114 Suren zusammengestellt und nach Länge geordnet, beginnend mit der längsten Sure (Ausnahme ist die knappe Eröffnungssure). Die Musterbücher wurden dann in alle Teile des sich ausbreitenden arabischen Reiches geschickt und vervielfältigt, und damit war das Vermächtnis Mohammeds gespeichert. So weit, so gut.

Nun könnte man meinen: Wenn die moderne Forschung wissen will, wie der Ur-Koran einmal ausgesehen hat, so müsste sie nichts anderes tun, als diesen Text des Uthman aus den ältesten Handschriften zu rekonstruieren. Aber so einfach ist es nicht. Allah hat es gefallen, den Wissenschaftlern noch ein paar Fußangeln in den Weg zu legen. Sie sind der Hauptgrund dafür, dass eine kritische Edition des Koran bis heute nicht gelang – und zum Beispiel das Potsdamer Projekt „Corpus Coranicum“ auf 18 Jahre Arbeit ausgelegt ist.


Das eine Problem ist die Frage der Datierungen. Die handschriftliche Überlieferung ist zwar komfortabel, einige Exemplare gehen bis ins 10. Jahrhundert zurück – aber die Forscher können nur schwer schätzen, wie alt die verschiedenen Codices wirklich sind. Das erschwert die Entscheidung, welche Gestalt der ursprüngliche Text gehabt haben könnte. Untersuchungen der Handschriften mit der Radiokarbonmethode haben sich erstens als ungenau und zweitens als fehleranfällig erwiesen.


Ein noch größeres Problem aber stellt die altarabische Schrift dar: Selbst wenn ein Glückspilz in irgendeinem Erdloch das verschollene Handexemplar des Kalifen Uthman finden würde, wüsste man immer noch nicht, was genau Uthman und die Seinen oder gar Mohammed für den Wortlaut des Koran gehalten haben. Denn die arabische Schrift ist mehrdeutig: Erstens hält sie nur Konsonanten fest, nicht die Vokale. Vereinfacht ausgedrückt ist es so, als würde man im Deutschen die Konsonanten „LB“ notieren und der Leser hätte sich zu entscheiden, ob im entsprechenden Zusammenhang eher „Liebe“, „Laub“ oder „Lob“ gemeint ist. Außerdem sind selbst einige Schriftzeichen für die Konsonanten mehrdeutig. Ein und dasselbe Zeichen kann bis zu fünf verschiedene Konsonanten meinen. Um die Verwirrung in Grenzen zu halten, haben arabische Gelehrte irgendwann Sonderzeichen („diakritische Zeichen“) an die Buchstaben gemalt, um sie auseinanderzuhalten. Aber das ist ihnen erst ein paar Generationen später eingefallen, zu spät für den Uthman-Koran.

Es ist also das Wesen der ältesten Koranhandschriften, dass man sie nur mit Hilfe der mündlichen Überlieferung richtig verstehen kann. Nur die, die Mohammeds Worte noch im Ohr haben, von ihm selbst oder seinen Schülern, könnten die mehrdeutigen Handschriften zuverlässig lesen. Aber von denen kann man keinen mehr fragen.

Und doch wird genau das gerade versucht. An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Potsdam sichten sie gerade nicht nur die ältesten Handschriften, sondern auch die Kommentarliteratur: Zu allen Zeiten haben muslimische Gelehrte aufgeschrieben, wie man ihrer Meinung nach bestimmte Koranverse lesen muss – ob also an einer ganz bestimmten Stelle „Liebe“, „Lob“ oder „Laub“ gemeint ist. Und viele alte Kommentatoren berufen sich auf den engsten Kreis um Mohammed. Ihre Bücher bringen die mündliche Überlieferung wieder zum Sprechen.

Rätselhafte Handschriften

Der Arabist Michael Marx sitzt in seinem Potsdamer Büro, das zum Forschungsprojekt „Corpus Coranicum“ gehört. Er bietet Mokka in henkellosen Tässchen an, an der Wand hängt ein Hochglanzposter von der Hagia Sophia in Istanbul. In den Regalen stehen bunte Bücher mit arabischen Schriftzeichen auf den Rücken, rot, grün, golden. Im Nebenraum sitzen Assistenten und Hilfskräfte vor Computern und tippen spätantike Handschriften ab, an den Wänden hängen Fotokopien steinalter Codices mit arabischen Zeichen. Etwa 12 000 Fotos der zehn wichtigsten Koranhandschriften des 10. bis 12. Jahrhunderts werden hier ausgewertet, die Forscher schreiben die Verse der verschiedenen Handschriften zum Vergleich untereinander und stellen sie dann ins Internet. Eine Sisyphosarbeit, aber eine notwendige; nur wenn sie geleistet ist, kann in einem weiteren Schritt die beste, die authentische Version des Korantextes rekonstruiert werden, kann irgendwann eine kritische Ausgabe entstehen. Bisher haben sich die Potsdamer auf die Suren 18 bis 20 konzentriert, sie sollen in den nächsten Wochen als erster Textausschnitt des Corpus Coranicum veröffentlicht werden. Das ganze Projekt wird mindestens bis zum Jahr 2025 dauern.

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Michael Marx sagt, die Wissenschaft habe sich bislang kaum um Handschriften und die Rekonstruktion des Korantextes gekümmert, die muslimische sowieso nicht. „Aber die Textgestalt ist in den Anfängen sehr lebendig. Man sieht den Text relativer.“ Arabische Forscher interessieren sich sehr für das neue Projekt, sagt Marx. Sogar „Al Dschasira“ hat schon darüber berichtet. Aber es gibt auch kritische Stimmen. Wenn Marx Vorträge in der muslimischen Welt hält, will manchmal ein Zuhörer wissen, warum er es als Nicht-Muslim wagt, den Korantextes zu hinterfragen. „Ich spüre selten Ablehnung. Aber Skepsis.“

Diese Skepsis richtet sich allerdings weniger gegen die philologische Textkritik, die in Potsdam betrieben wird. Marx erforscht mit seinem Team nicht nur den Wortlaut des Koran – er will auch ermitteln, woher seine Gedanken stammen. Der Koran enthält massenweise Anspielungen auf jüdische und christliche Geschichten, Abraham, Isaak, Jesus, Maria, sie alle kommen auch im Koran vor, es gibt zahlreiche theologische Parallelen. Außerdem lassen sich Anklänge an altarabische Poesie nachweisen. Die Forscher des „Corpus Coranicum“ dokumentieren diese Parallelen für ihr Internet-Projekt. Vielen gefällt das nicht.

Weintrauben oder Jungfrauen?

Marx und sein Team dürfen nicht den Eindruck erwecken, den Koran zu relativieren. „Der Koran war etwas ganz Neues, Eigenständiges“, sagt Marx. „Er hat das Vorgefundene kommentiert und weiterentwickelt.“ Aber diese Differenzierung kann leicht überhört werden. Viele Muslime schätzen es nicht, wenn man ihr heiliges Buch nach Parallelen zu älteren Religionen absucht. Sie argwöhnen, dass man ihnen ihren Koran wegnehmen will. Dass man ihn zum Abklatsch christlicher und jüdischer Ideen umdeuten will, so wie es die kirchliche Islamkritik seit Dantes „Göttlicher Komödie“ immer wieder getan hat. Der Islam als christliche Häresie. Die Muslime als Ketzerverein, der nur deshalb zu einer neuen Religion werden konnte, weil Mohammed ein paar Bibelstellen in den falschen Hals bekommen hat.

Alles, was in diese Richtung weisen könnte, wird von vielen den Muslimen äußerst kritisch betrachtet und kann sogar Extremisten auf den Plan rufen. Mancher westliche Forscher veröffentlicht seine Erkenntnisse deshalb unter falschem Namen, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Der Libanese Samir Kassir forderte als einer der ersten muslimischen Gelehrten, den Koran vor dem Hintergrund der christlich-jüdischen Spätantike zu erforschen. Er wurde im Sommer 2005 in Beirut ermordet.

Tatsächlich gab es in jüngster Zeit immer wieder Versuche, dem Koran die Eigenständigkeit abzusprechen. Vor allem die angloamerikanische Forschung, aber auch manche deutsche Philologen halten die muslimische Vorstellung vom Wirken Mohammeds für vollständig erfunden – und suchen deshalb andere Wege, die Entstehung des Koran zu erforschen. So löste ein im Jahr 2000 erschienenes Buch mit dem Titel „Die syro-aramäische Lesart des Koran“ (Schiler Verlag, Berlin) eine regelrechte Hysterie aus, die „Luxenberg-Debatte“. Sein Verfasser, ein deutscher Gelehrter mit dem Pseudonym Christoph Luxenberg, glaubte, den verlorenen Schlüssel zum wahren Verständnis des Koran gefunden zu haben. Er nahm an, dass der Koran nur eine spätere Version eines ursprünglich christlichen Buches sei. Das alte Christenbuch sei in einer Mischung aus frühem Arabisch und Syrisch geschrieben gewesen. Dieses ist wiederum die letzte Form des Aramäischen, der Weltsprache des Vorderen Orients, die auch Jesus sprach.

Dieser angebliche „Ur-Koran“, von dem heute jede Spur fehlt, sei, so die These, später mehr schlecht als recht ins klassische Arabisch übersetzt worden, wobei es zu zahllosen Fehlern und Umdeutungen kam; diese verderbte Version sei das, was man heute als Koran verehre. Auf dieser Basis übersetzte Luxenberg viele Koranstellen neu, nämlich mit Hilfe des Aramäischen. Er behauptete, die berühmten Jungfrauen, die muslimische Märtyrer im Jenseits die Anstrengungen des Dschihad vergessen lassen, gebe es im Koran gar nicht. Es handele sich um einen Übersetzungsfehler, eigentlich sei an den betreffenden Stellen von „weißen Trauben“ die Rede. Aber an Luxenbergs Thesen gibt es erhebliche Zweifel. Auch die neue Übersetzung von Hartmut Bobzin folgt ihnen nicht.

Quelle der Spiritualität

Die Professorin Angelika Neuwirth von der Freien Universität Berlin, eine der international profiliertesten Islamforscher, sagt heute: „Die historisch-kritische Forschung ist in den letzten Jahren oft zu ideologischen Zwecken ausgenutzt worden.“ Forscher, die den Koran aus seiner historischen Verankerung reißen wollten, stünden sich selbst im Weg, sie arbeiteten nicht mehr ergebnisoffen – außerdem verbauten sie sich den dringend erforderlichen Austausch mit islamischen Gelehrten. Neuwirth und der Potsdamer Forscher Marx stehen für eine Mittelposition in der Koran-Wissenschaft: Textkritik ja, aber unter Berücksichtigung der muslimischen Tradition.

Neuwirth will den Koran als „dialogischen Text“ lesen: Mohammed habe in ständigem Austausch mit seinen Hörern die ihm eingegebenen Wahrheiten formuliert – seine Verkündigung sei also auch die Beantwortung von brennenden Fragen der Zeit, wie sie in der Gemeinde diskutiert wurden. Durch ständige Abgleichung des Verkündeten mit den Überzeugungen der Gemeinde seien viele Texte von Rezitation zu Rezitation verändert worden. So seien etwa die biblischen Geschichten im Koran je nach Verkündigungssituation neu ausgelegt worden. „Der Koran ist weitgehend eine Auslegung biblischer Texte, ähnlich wie die späten biblischen Bücher oder die Texte der Kirchenväter“, sagt Neuwirth. Deshalb sollten gerade die Europäer den Koran als Teil ihrer Kultur verstehen und ihn kennen lernen. Aber der Zugang sei erschwert, sagt Neuwirth: „Es gibt keine gute deutsche Übersetzung, die vollständig ist. Mit Bobzins Werk ist eine neue Situation eingetreten.“

Es gibt zwar eine ganze Reihen von jüngeren Übertragungen ins Deutsche, aber die meisten versuchen, einen möglichst korrekten Inhalt zu bieten, ohne auch auf die angenehme Lesbarkeit oder gar Rezitierbarkeit Rücksicht zu nehmen. Das gilt auch für die bisher maßgebliche deutsche Übersetzung des Tübinger Professors Rudi Paret von 1962. Deshalb hat der Orientalist Hartmut Bobzin von der Universität Erlangen in den vergangenen zehn Jahren an einer neuen Übersetzung gearbeitet, die auch die ästhetische Qualität des Textes spürbar machen soll: Mit Reimen, Versrhythmus und feierlicher Sprache. Als Textgrundlage dient Bobzin die am weitesten verbreitete der 14 muslimischen Koranlesarten, der sogenannte Kairiner Koran.

Bobzin sagt: „Der Koran kann eine Quelle der Spiritualität sein, auch für Nicht-Muslime.“ Und jede Generation brauche ihre eigene Übersetzung. „So etwas ist nie abgeschlossen. Es wird immer wieder neue Lösungen geben.“ Spätestens, wenn irgendwann tatsächlich eine kritische Textgrundlage auf Arabisch zur Verfügung steht.

Alle Rätsel, da sind sich die Philologen einig, werden sich aber auch dann nicht lösen lassen. Der Koran bleibt ein geheimnisvolles Buch, das haben schon die frühesten Gelehrten des Islam gewusst. Wenn ein alter Korankommentator an einem Vers verzweifelte und ihn auch nach langem Grübeln nicht entschlüsseln konnte, stellte er einfach alle Meinungen und Auslegungen nebeneinander, die er darüber gehört hatte. Und schrieb schließlich an den Rand: Allahu a'lam. Gott weiß es am besten.

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