DIE ZEIT: Haben Sie es manchmal bereut, eine Person des öffentlichen Interesses geworden zu sein?

Christian Drosten: Ja, ganz klar. Ich erlebe zum Teil richtigen Hass. Erst kürzlich, hier in Berlin. Ich gehe an einer Passantengruppe vorbei. Da ruft mir jemand "Nürnberg 2.0" hinterher. Ich habe mich nicht umgedreht. Und ich glaube trotz solcher Vorfälle, dass es einen Nutzen hatte, sich an die Öffentlichkeit zu wenden.

ZEIT: Sie sprechen von Ihrem Podcast?

Drosten: Beispielsweise. Die Bevölkerung zu informieren, das war für mich eine bewusste Entscheidung. Ich habe lange an Coronaviren gearbeitet. Wenn man sich wirklich mit einem Thema auskennt, kann man nicht nur die wissenschaftlichen Arbeiten anderer lesen, sondern die Situation aus eigener Berufserfahrung einschätzen. Dieses Einschätzungsvermögen musste ich einfach zur Verfügung stellen.

ZEIT: Es gibt Christian Drosten auf T-Shirts gedruckt und als Räuchermännchen geschnitzt, Drosten-Masken und Drosten-Tassen. Bei allen Anfeindungen – haben Sie sich je vorstellen können, so kultisch verehrt zu werden?

Drosten: Das nehme ich so nicht wahr. Viele Leute erkennen mich mittlerweile beim Einkaufen oder auf der Straße, und das ist – vorsichtig formuliert – nicht immer eine entspannte Situation.

ZEIT: Millionen Menschen hören Ihnen zu, beim Autofahren, beim Bügeln. War Ihnen das Potenzial des Mediums Podcast von vornherein klar?

Drosten: Darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Für mich war entscheidend, dass das ein Format ist, in dem man frei und vor allem ungekürzt sprechen kann. Und es sollte öffentlich-rechtlich sein, für jeden jederzeit zugänglich. Ich bin ja auch ein öffentlich-rechtlicher Wissenschaftler. Mich zahlt der Steuerzahler.

ZEIT: Sie üben immer wieder Kritik an den Medien und deren Rolle in der Pandemie. In letzter Zeit ist Ihre Kritik noch lauter geworden – warum?

Drosten: Einzelne Medien in Deutschland haben – auch mit der Auswahl ihrer Quellen und Gäste – über Monate hinweg mit einer unverhohlenen Agenda der Bevölkerung suggeriert, dass die Gefahr gar nicht so groß ist. Dass die Maßnahmen einseitig und übertrieben sind. Dass man beispielsweise nur die Altersheime schützen muss, und dann kann der Rest der Gesellschaft einfach weitermachen wie bisher. Das hat die Politik damals echt verunsichert. Wie absurd gerade das Narrativ mit den Altersheimen ist, merkt man schon, wenn man sich klarmacht, dass nur ein kleiner Teil der besonders gefährdeten Alterskohorte überhaupt in Altenheimen lebt. Und dann gab es die ständigen Attacken auf einzelne Wissenschaftler. Damit meine ich jetzt gar nicht Julian Reichelt, die Bild-Zeitung und ihre Angriffe auf mich. Das wäre zu kurz gegriffen. Mir geht es um die generelle Atmosphäre, dieses ständige Raunen in den Berichten und Moderationen, die Untertöne.

ZEIT: Sind die Virologen denn völlig unschuldig an diesen Miss- und Untertönen in der Berichterstattung? Hat die große Aufmerksamkeit, die Sie plötzlich hatten, Ihnen als Zunft gutgetan?

Drosten: Wenn eine Fachdisziplin eine klare Botschaft hat, an der sich die Öffentlichkeit orientieren kann, dann ist das für das Fach gut. Wenn aber der eine dies sagt und der andere das, wenn dann der Eindruck entsteht, bei den Virologen kann man sich den herauspicken, der gerade passt, dann ist das für das Fach schlecht.

ZEIT: Das war ja zeitweilig so.

Drosten: Ja, klar, vor allem am Anfang. Mittlerweile haben sich die Positionen deutlich angenähert.

ZEIT: Wir haben den Erkenntnisprozess der Wissenschaft als Publikum live miterlebt – mit allen Hypothesen, Irrtümern und Korrekturen: Sind Türgriffe gefährlich? Schützen Masken, oder schützen sie nicht?

Drosten: Wie gesagt, das war am Anfang so. Nehmen wir die Masken. Zu Beginn der Pandemie waren schlicht nicht genügend Masken vorhanden, und die vorhandenen mussten für das medizinische Personal aufgespart werden. Es gab aus der allgemeinen Literatur über respiratorische Viren aber auch keine gute Evidenz für den Nutzen von Masken. Erst später gab es spezifische Daten zum Coronavirus, die zunehmend für einen Nutzen sprachen.

ZEIT: Für das Publikum ist das verwirrend.

Drosten: Dafür sind auch einzelne Medien mitverantwortlich. Sie haben den Wissenschaftlern vorgeworfen, mal sagen sie das, mal sagen sie etwas anderes. Dass zwischen den Aussagen vier Monate lagen und es in der Zwischenzeit neue wissenschaftliche Erkenntnisse gab, haben sie dabei verschwiegen.

ZEIT: Wo musste die Wissenschaft sich noch korrigieren?

Drosten: Dieses Narrativ von der sich beständig korrigierenden Wissenschaft ist übertrieben. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich nach zwei, drei Monaten meine Einschätzung zu den großen Grundthemen der Corona-Pandemie grundsätzlich ändern musste. Vielleicht mit Ausnahme der Virusvarianten, die auch mich überrascht haben.

ZEIT: Und der Streit in den Talkshows? Kommt die zweite Welle nun, oder kommt sie nicht?

Drosten: Das war keine Meinungsverschiedenheit innerhalb der Wissenschaft. Das Hauptfeld der Wissenschaftler wusste natürlich, dass im Winter 2020/21 die zweite Welle kommt. Daran gab es keinerlei Zweifel bei den relevanten Experten.