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BÜCHER Luft im Mund

Jacques Attali: »Die kannibalische Ordnung. Von der Magie zur Computermedizin«. Campus Verlag, Frankfurt und New York; 288 Seiten; 38 Mark.
aus DER SPIEGEL 33/1982

Mit schöner Regelmäßigkeit gelangt alle Jahre eine neue Metapher zur Erhellung gesellschaftlicher Beziehungen von den eleganten französischen Geistern in die eher trockenen deutschen Gelehrtenköpfe, spendet auch prompt ein wenig Licht und verschwindet wieder. Nach den Wunschmaschinen und den Rhizomen wird nun der Kannibalismus als Passepartout zur Sozialgeschichte. Von seiner Urzeit bis in die Moderne soll der Mensch ein Menschenfresser gewesen sein. So jedenfalls lautet die Diagnose, die Jacques Attali, Professor in Paris und derzeit Berater Mitterrands, der Gattung stellt.

Das Verspeisen von menschlichem Fleisch geschieht in verschiedenen Formen. Nur in einer sehr frühen Epoche wird es direkt praktiziert: als schmackhafte Zubereitung der Verwandten und Feinde, um sich vor Krankheit zu schützen oder deren Kräfte zu übernehmen. Spätere Zeitgenossen sublimieren dieses Verhalten, aus den Menschenopfern werden symbolische Opfer ("dies ist mein Fleisch"), die Kranken werden nicht mehr aufgefressen sondern isoliert, mit Pillen oder chirurgisch repariert, S.152 schließlich mit künstlichen Organen erneuert.

Von der Anthropophagie der Kariben-Bewohner, die Kolumbus so sehr erschraken, daß er diese Wilden zu Nicht-Menschen erklärte, bis zu den Organbanken der Neuzeit erkennt Attali immer nur neue »Hüter der kannibalischen Ordnung«. »Um den Tod leugnen zu können, muß der Kannibalismus die Gesundheit verschlingen; er muß aus dem Leben eine Ware machen, aus dem Menschen einen Roboter, der Roboter verschlingt, den kannibalischen Roboter.«

Das Buch liest sich streckenweise sehr spannend. Seltsam nur, daß einfach jede Epoche, die des Schamanentanzes, der Spalttablette oder des Leprosoriums, Ausdruck nur einer einzigen Ordnung gewesen sein soll. Das ist keineswegs immer einsichtig, einige Zeitläufe hätten, etwa als feudale oder kapitalistische Ordnungen, auch ohne kannibalistische Deutungen charakterisiert werden können. Da verschlingt die Metapher die radikalen Gedanken, und zurück bleibt nur etwas Luft im Mund.

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