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AfD nennt sich "bürgerlich" Das ist Bürgerbeleidigung

AfD-Leute inszenieren sich nach ihren Wahlerfolgen als "Vertreter des Bürgertums". Dabei stehen sie für das genaue Gegenteil. Warum wir den Begriff nicht kampflos preisgeben dürfen.
Gelbe Jagdhunde auf grünem Stoff: Die Lieblingskrawatte von Alexander Gauland

Gelbe Jagdhunde auf grünem Stoff: Die Lieblingskrawatte von Alexander Gauland

Foto: Markus Schreiber/ AP

Wenn vom Bürgertum, von Bürgerlichkeit die Rede ist, starten wilde Assoziationen: Man denkt an Kleiderordnung und Benimmregeln, an Jägerzäune und gutbürgerliche Küche. Walter Kempowski nannte sein Buch "Tadellöser & Wolff", in dem die Geschichte seiner Rostocker Familie geschildert wird, einen "bürgerlichen Roman", und sicher ist Loriot der Inbegriff bürgerlichen Humors.

Jetzt preist sich die AfD als bürgerliche Opposition, Alexander Gauland nennt seine Leute die "Vertreter des Bürgertums in diesem Land", auch wenn der Brandenburger Spitzenkandidat Andreas Kalbitz sein halbes Leben in rechtsextremen Kreisen verbracht hat.

Der Begriff: Bürger als Ehrentitel

Historisch sagt das Adjektiv bürgerlich aus, dass etwas nicht zum Adel, zum Klerus oder zu Arbeitern und Bauern gehört - Kategorien, die heute nur noch begrenzte Informationen vermitteln. Der Begriff des Bürgers hat sich immer gewandelt, in letzter Zeit ist er eher positiv belegt. Als Bürgerin, als Bürger darf und soll man sich um die Belange des Gemeinwesens kümmern, sich engagieren.

Über Jahrhunderte bezog sich solch ein Status auf eine Stadt. Das Stadtbürgerrecht im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation war teuer und an viele Voraussetzungen gebunden, etwa die eheliche Geburt, die ehrbare Lebensführung und die Fähigkeit, an der Verteidigung mitzuwirken. Dazu hatte man vielleicht eine Lanze zu Hause, einen Spieß - der Ursprung des noch heute gebräuchlichen Schimpfworts Spießer.

In der französischen Revolution wurde das Bürgerrecht plötzlich ganz anders verstanden - alle Männer waren Bürger der Nation, der Citoyen wurde die allgemeine Anrede. Bürger war nun ein politischer Ehrentitel, der auch verpflichtete. In diesem Sinne sind aber alle Parteien bürgerlich, weil sie sich ja an Wahlbürgerinnen und -bürger wenden.

Die klassische Geschichte: Bürger als Teil der Gemeinde

Bevor man sich im Labyrinth der Assoziationen aus Perlenketten und Stoffservietten verirrt, kann man auf eine klassische Geschichte zurückgreifen, die wie keine andere die Vorstellung davon geprägt hat, was bürgerliche Weltanschauung ist.

Herodot erzählt vom Besuch des weisen Solon bei dem legendär reichen König Krösus. Der lässt dem Gast alle Reichtümer der Palastanlage zeigen und stellt ihm dann eine Frage, nämlich wen er, der weit gereiste und weise Solon, für den glücklichsten Menschen halte. Er stellte die Frage in der Absicht, selbst genannt zu werden.

Solon aber hielt sich an die Sache und weigerte sich zunächst, einen Namen zu nennen, denn man könne vor dem Tod nicht beurteilen, ob jemand ein glückliches Leben gehabt habe. Weiter gedrängt, nannte er schließlich Tellos von Athen - einen völligen Nobody. Sein Glück bestand darin, führt Solon aus, als respektierter Bürger in einer Stadt gelebt zu haben, eine Familie gegründet und Kinder großgezogen zu haben und schließlich im Kampf um die Verteidigung der Stadt ehrenvoll gefallen zu sein.

Bürgerlichkeit, so Herodots einschlägiges Urteil, erweist sich im Kontrast zur Despotie immensen Reichtums. Bewegungen, die von Multimillionären angeführt werden oder den schwerreichen russischen Präsidenten verehren, sind nicht bürgerlich. Donald Trump führt kein bürgerliches Leben, Putin tut es auch nicht. Beide eifern Krösus nach - Bewegungen und Parteien ihres Spektrums sind daher nicht bürgerlich.

Weder Macht noch Gold beeinflussen das bürgerliche Urteil, im Gegenteil. Darum waren die Faschisten, Nationalsozialisten, Stalinisten und Maoisten nicht bürgerlich: In diesen Bewegungen war Macht alles, die Ideologie oder Weltanschauung nur Mittel zum Zweck des Machterhalts. Bürgerlich hingegen ist ein Leben in einer Gemeinde oder Gemeinschaft, also das Miteinander und die Achtung darauf, was die Nachbarn von dir halten - in solch einer Gesellschaft strebt keiner nach einem Monopol an Macht oder Reichtum.

Mit der Antwort macht Solon sich unabhängig von der Erwartung des mächtigen Königs. Er hielt sich an die Sache - vielleicht das wesentliche Merkmal des bürgerlichen Diskurses. Man soll sich um ein unabhängiges, sachliches Urteil, um die Wahrheit bemühen, unabhängig davon, was der Machthaber - in der Monarchie der König, in der Demokratie das Volk - erwartet.

Die Gegenwart: Populisten sind nicht bürgerlich

Darum kann eine populistische Partei nie bürgerlich sein: Ihre Rhetorik, beispielsweise die Warnungen vor Überbevölkerung, dem Untergang des Abendlandes oder die These vom drohenden großen Bevölkerungsaustausch - all das dient allein dem Zweck, die Zuhörerinnen und Zuhörer emotional aufzuwühlen.

Denselben Zweck verfolgt die symbolische Überhöhung einzelner Verbrechen oder Unglücke zu einer Welle von Messerangriffen: Affekte schüren ist niemals bürgerlich - die Mäßigung der Affekte, die Differenzierung und Sachlichkeit ist bürgerlich.

Solon ergeht sich nicht in Lobpreisungen des ohnehin schon hochgelobten Königs, er sucht sich aber auch nicht den allerärmsten Menschen, um dessen Bedürfnislosigkeit zu preisen und Krösus damit zu schockieren. Es geht um die diskursive Beschreibung der Mitte - und um nachprüfbare Urteile. Solon hat sich den Bürger nicht ausgedacht, nutzt dessen Leben, um seine bürgerliche Weltanschauung zur Debatte zu stellen und zu empfehlen.

Das Leben des guten Tellos stand, mit dem Engagement für Familie und Gemeinschaft, im Zeichen der Kontinuität. Insofern kann es nicht bürgerlich sein, aus bürgerlichen Verhältnissen heraus eine Wende vollziehen zu wollen, die Revolution anzuzetteln oder Menschen auszuschließen - Gemeinsinn und Mäßigung sind kennzeichnend für eine bürgerliche Weltanschauung.

Dasselbe gilt für die Toleranz: Solon ist zu Gast bei Krösus, versucht ihn im Dialog zu informieren und aufzuklären - er übertreibt es aber damit nicht. Es ist nicht bürgerlich, anderen die eigene Weltanschauung aufzunötigen. So wie das Herrscherlob einem bürgerlichen Habitus widerspricht, so gilt das erst recht für das Selbstlob: Solon hat nicht sich selbst, den berühmten weisen Gesetzgeber Athens, als glücklichen Menschen bezeichnet, sondern eben einen stinknormalen Bürger, der vom Hocker gefallen wäre, hätte er gehört, wie er einem der reichsten und mächtigsten Männer seiner Zeit als Exempel genannt wird.

Es ist unbürgerlich, sich selbst zu loben - und sei es als bürgerlich.