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»Durch Verfälschung zur Heiligen«

Eine neue Märtyrerin soll vom Versagen der Kirche in der NS-Zeit ablenken *
aus DER SPIEGEL 18/1987

Das Andenken an die Ordensschwester Edith Stein, Jahrgang 1891, steht in der katholischen Kirche seit Wochen in hohem Kurs. Im Kölner Dom predigte der Dominikaner Rudolf Stertenbrink sechs Sonntage lang über ihr Leben. Auch in Dutzenden von Schulen, in Kindergärten und Bildungsstätten wurde der Klosterfrau schon gedacht.

Das Dominikanerinnenkloster zu Speyer erhielt ihren Namen, und Kölns Erzbischof Joseph Kardinal Höffner feierte sie als »Schicksalsgefährtin unserer Menschlichkeit«. Er widmete ihr einen Hirtenbrief, der in 800 Kirchen seiner Diözese verlesen wurde und mittlerweile in 170000 Exemplaren verbreitet ist.

Am 1. Mai werden mehr als 60000 Menschen dabeisein, wenn die Ordensschwester, die 1942 als Häftling Nummer 44074 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden ist, im Müngersdorfer Stadion zu Köln vom Papst seliggesprochen wird. Fortan dürfen Katholiken sie und ihr Bild, verschönt mit einem Strahlenkranz ums Haupt, öffentlich anrufen und verehren.

Dem Papst-Publikum wird weitgehend verborgen bleiben, was Theologen und Historiker seit geraumer Zeit beschäftigt: der Verdacht, daß Edith Stein als Märtyrerin reklamiert wird, um von einer historischen Schuld der katholischen Kirche abzulenken - Seligsprechung als Alibi.

Die promovierte Klosterfrau mußte sterben, weil sie als konvertierte Jüdin von jener Kirche nicht errettet werden konnte, in deren Obhut sie sich begeben hatte - einer lauen Kirche, die sich, bis auf wenige mutige Repräsentanten, zum NS-Terrorregime ausschwieg und dieses Schweigen im nachhinein auch noch »im Interesse der Leidenden« geübt haben wollte, zur »Verhütung des größeren Übels«. Der Historiker Friedrich Heer sieht darin ein »gigantisches Verdeckungsmanöver«.

In diese Art amtskirchlicher Vergangenheitsbewältigung reiht sich am 1. Mai auch der Ritus über dem Kölner Fußballrasen ein.

»Unter Verschweigung oder Verfälschung der biographischen Fakten« Werde die Ordensfrau »zur Heiligen aufgebaut«, kritisiert die Kölner Edith-Stein-Expertin Inge Moossen, 76, in einer bislang unveröffentlichten Biographie. Denn die Kirche und ihre Bischöfe wollten »vor der Öffentlichkeit nicht als mitschuldig erscheinen am Tode Edith Steins«.

Mit der Seligsprechung der Nonne riskiert die Kirche nicht nur, der Manipulation verdächtigt zu werden. Sie gefährdet zugleich den katholisch-jüdischen Dialog, der erst ein paar Jahrzehnte alt ist. Es sei schon »peinlich«, sagt der jüdische Publizist Pinchas Lapide, wenn der »Katholizismus sie als Märtyrerin« beanspruche »angesichts der Millionen von Juden und Jüdinnen, die genau wie sie unfreiwillig in den Gastod gehen mußten«. Lieber solle Rom, so Lapide, »darüber nachdenken, warum es überhaupt zu ihrer Ermordung kommen konnte«.

Die Jüdin Edith Stein, Schülerin und eine Zeitlang Assistentin des Philosophen Edmund Husserl, war 1922 im Alter von 30 Jahren zum katholischen Glauben konvertiert.

Verstand und Gewissen gab sie damit nicht preis: Als 1933 katholische Kirchenführer und Theologen sich mit dem NS-Regime zu arrangieren begannen und beispielsweise Triers Bischof Franz Rudolf Bornewasser erklärte, niemand dürfe »je die Regierung... im Stich lassen«, erhob Edith Stein ihre Stimme:

Ostern 1933, wenige Monate vor ihrem Eintritt ins Kölner Kloster der Karmelitinnen, erbat sie bei Papst Pius XI. eine Privataudienz, »um eine Enzyklika gegen den Antisemitismus anzuregen«, wie der Kirchenhistoriker Georg Denzler herausfand. Pius ließ ihr den apostolischen Segen übermitteln,"etwas anderes ist nicht erfolgt«, schrieb sie später in einem Aufsatz. Von alledem ist nicht die Rede in Kardinal Höffners Hirtenbrief zur Seligsprechung.

Mitte März 1937 gab der Vatikan die Enzyklika »Mit brennender Sorge« heraus. Diese Schrift gilt der Kirche heute zwar als »Generalabrechnung des Papstes mit dem Nationalsozialismus und als unmißverständliche Verurteilung« der Rassenpolitik Hitlers, wie Münchens Kardinal Friedrich Wetter emphatisch erläutert. Aber nicht ein einziges Mal taucht darin das Wort Jude auf. Die NS-Massenmorde blieben bis 1945 ein Tabuthema für Rom, obwohl der Vatikan, so der Historiker Gerhart Binder, »genau im Bilde« war.

Der Leidensweg der Edith Stein begann am 10. April 1938, als im Reich die Wahl und Volksabstimmung über den Anschluß Österreichs stattfand.

An diesem Tag kamen drei Männer der Kölner Wahlleitung mit einer Urne in den Karmel. In alphabetischer Reihenfolge mußten die Nonnen ihre Stimmen abgeben. Zum Schluß stellte der Schriftführer nach einem Blick in die Liste fest, »Dr. Edith Stein« habe »nicht gewählt«.

Was sich dann zutrug, hat die Karmel-Schwester Renata in einer Stein-Biographie beschrieben. Die Oberin, laut Renata: »Die ist nicht wahlberechtigt.« Der Wahlleiter: »Selbstverständlich, 91 geboren! Also auch wahlberechtigt.« Die Oberin, »mit eiserner Ruhe« (Renata): »Sie ist nichtarisch.«

Die Priorin hätte, so die Alternativ-Biographin Inge Moossen, sehr wohl eine Krankheit ihrer Mitschwester vorschieben können. Statt dessen aber habe sie Edith Stein an die Nazis »verraten«, um eine Wahlbeteiligung und damit eine sichere Neinstimme zu verhindern.

Denn am Abend zuvor hatte Edith Stein »mit großem Eifer« (Renata) gegen Hitler gewettert. Ein einziges Nein aber, glaubt Inge Moossen, »hätte die Aufhebung des Hauses bewirken können«.

Auch diese Geschehnisse erwähnt der Kölner Erzbischof Höffner in seinem Hirtenbrief nicht. Sein Prälat Jakob Schlafke hält die Wahl im Kloster nicht für eine »Schlüsselszene«. In die Unterlagen, die er für die Seligsprechung zusammenstellte, schrieb er die Version hinein, Edith Stein habe der Kommission ihre jüdische Herkunft offenbart - für Inge Moossen eine »fromme Lüge«.

Warum sie aufgebracht wurde, liegt auf der Hand: Der 10. April sollte den Beginn eines selbstauferlegten Martyriums markieren.

Edith Stein erkannte die Gefahr, in der sie von nun an schwebte. Sie trug sich mit Fluchtgedanken, wollte nach Palästina fand kein Gehör bei ihren Vorgesetzten. Acht Monate schwebte sie »in der Angst, täglich und stündlich von der Gestapo aus dem Kloster abgeführt zu werden« (Moossen). Dann, nach der Reichskristallnacht, durfte sie nach Holland ausreisen, in den Karmel von Echt nahe Roermond.

Dort hätte ihr nach drei Jahren das lebenslange Aufenthaltsrecht im Konvent zugestanden. Als sich die Oberin aber weigerte, in Rom die dafür erforderliche sogenannte Stabilität zu begehren, beantragten Edith Stein und ihre acht Jahre ältere Schwester Rosa, ebenfalls Konvertitin, die Emigration in die Vereinigten Staaten - ein verhängnisvoller Schritt.

Spätestens durch diesen Ausreiseantrag mußten die längst von den Nazis kontrollierten Behörden in Holland aufmerksam werden. Zwar nahm Edith Stein am 31. Dezember 1941 ihr Gesuch zurück und erkundete die Möglichkeit, in den schweizerischen Karmel Le Paquier, Kanton Fribourg, zu übersiedeln. Aber als von dort die Zusage kam, war es schon zu spät.

Als für den 15. Juli 1942 der erste Abtransport von Juden in den Osten festgelegt wurde, protestierten evangelische und katholische Amtsträger Hollands gemeinsam gegen die Judenverfolgungen und baten »dringend«, wie die Stein-Biographin Hilda Graef recherchiert hat, »wenigstens die Christen jüdischer Rasse von den Deportationen auszunehmen«.

Hitlers Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart zeigte sich bereitwillig - offenkundig, um weiteren Protest zu unterbinden. Er ordnete an, die vor Januar 1941 getauften Juden beider Konfessionen sollten nicht »weggeführt« werden. Gleichzeitig verlangte er, die gewährte Vergünstigung »nicht zu erwähnen, da sie vertraulichen Charakter trage« (Graef).

Nun aber, da im Interesse der Gefährdeten wirklich einmal Schweigen geboten gewesen wäre, legten die Kirchenfunktionäre den Trotz an den Tag, den sie sonst vermissen ließen.

Während sich fast alle protestantischen Kirchengemeinschaften dem Schweigediktat beugten, machte der katholische Episkopat Hollands von den Kanzeln herab das Zugeständnis des Reichskommissars öffentlich - für die Katholikin Edith Stein und ihresgleichen das Todesurteil.

In einem Vermerk des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) vom 30. Juli heißt es: »Nunmehr werden die sämtlichen katholischen Juden noch in dieser Woche abgeschoben.«

Edith und Rosa Stein kamen nach Auschwitz. Im Niederländischen Staatsanzeiger wurde ihr beider Todestag später auf den 9. August 1942 festgelegt.

Selbst dieser Zeitablauf der letzten Juli-Tage findet sich, trotz eindeutiger Aktenlage, in den öffentlichen Dokumenten der Amtskirche nur verstümmelt wieder. Höffners Hirtenbrief läßt die Zwei-Klassen-Einteilung der Juden außer acht und suggeriert, die Bischofskollegen hätten sich von Anfang an »schützend vor alle Juden« gestellt.

Und so liest sich bei Höffner, Edith Stein habe sterben müssen, »weil die nationalsozialistischen Machthaber sich an den katholischen Bischöfen rächen wollten die für die Rechte und die Würde jedes Menschen, auch des Juden, öffentlich eingetreten waren«.

Es ist von makabrer Ironie, daß katholische Bischöfe ausgerechnet dann das amtskirchliche Schweigen gegenüber NS-Greueltaten brachen, als es hätte Leben retten können.

Die Amtskirche mißbraucht den Fall Stein als Beispiel für die umgekehrte Argumentation: daß Schweigen, »ernstlich abgewogen und abgemessen im Interesse der Leidenden« (Pius XII.), mehr genutzt als geschadet habe.

Durch das Stillhalten sei verhindert worden, so Paul VI. in einer Replik auf Rolf Hochhuths Stück »Der Stellvertreter«, daß »auf die bereits gequälte Welt noch größeres Elend« herniederkam.

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