(Michael Bruder)
Schlägt man Seite 24 der Studienausgabe des Wachtturm vom 15. Februar 2009  auf, springt einem ein fettgeschriebener übergroßer Textauszug aus der Bibel ins Auge.

Diese sind es, die dem Lamm beständig folgen.”

In dem sich daran anfügenden Leittext wird derselbe Satz nochmal wiedergegeben und aus naheliegenden Gründen mit dem zweiten Teil des Satzes vervollständigt:

…ungeachtet wohin es geht.” (Offenbarung 14:4)

Dieser letzte Teil bedarf der besonderen Aufmerksamkeit. In den Absätzen 1-10 wird unter Verwendung zahlreicher Zirkelschlüsse, die ich noch nennen werde, das Motiv dafür vorbereitet, warum nichtgesalbte Zeugen Jehovas – der Teil, der nicht in den Himmel kommt – ihrer geistigen Führung, der „Sklavenklasse“ (bestehend aus 144.000 Personen) rückhaltlos vertrauen sollen.

Noch eine Anmerkung zum Begriff „Sklavenklasse“:

Die Zeugen Jehovas glauben an die Zweiklassen-Theorie. Diese besagt, dass nur 144.000 Personen in den Himmel kommen; dieser Teil der Zeugen Jehovas nennt sich selber die “Sklavenklasse”. Der andere Teil glaubt daran, dass er in Zukunft ewig auf der Erde in einem Paradies leben wird und nennt sich die „große Volksmenge“ oder die „anderen Schafe”. Sie beweisen ihr Vertrauen zu Gott Jehova und Jesus nur mittelbar, und zwar dadurch, dass sie der „Sklavenklasse“ vertrauen und ihr „beständig folgen, ungeachtet wohin [sie] geht“ (Off 14, 4). Der eigentliche nur von Männern besetzte geistige Führungsstab aber sitzt in der Weltzentrale in Brooklyn, New York. Als „leitende Körperschaft“, die sich ebenfalls zur „Sklavenklasse“ zählt, ist jedoch nur sie weisungsbefugt und erlässt Richtlinien, die weltweit für alle Zweigstellen und Versammlungen verbindlich sind. Hier in Brooklyn laufen alle Fäden zusammen, von der globalen geistigen Aufsicht durch die “leitende Körperschaft” bis zur weltweiten Verwaltung des Immobiliennetzes.

Kritik an der „leitenden Körperschaft“ ist gleichbedeutend mit einem Mangel an Vertrauen in Jehova und Jesus. Der Begriff des „Sklaven“ wird bei den Zeugen Jehovas in Wahrheit daher rein kognitiv immer mit der Führerfigur, der „leitenden Körperschaft“ in Brooklyn assoziiert. Die meisten der Zeugen Jehovas, die sich auch zu den „Gesalbten“ zählen (ca. 10.000 Personen), haben auf Entscheidungen der „leitenden Körperschaft“ keinen Einfluss.

Das Vertrauen der Anhänger der Zeugen Jehovas in ihre geistige Führung, den „geistgesalbten Christen“, in erster Linie aber in die „leitenden Körperschaft“, ist ungebrochen. Die geistige Aufsicht sagt von sich selber, sie sei der in der Bibel bezeichnete „treue und verständige Sklave“, der Jesus, dem „Lamm beständig [folgt]“. Er steht in direkter Kommunikation mit „Jehova Gott“ und Jesus Christus. Die übrigen Zeugen Jehovas, also der nichtgesalbte Großteil der Mitglieder, stehen nicht in diesem direkten kommunikativen wunderbaren Verhältnis zu Gott und Jesus. Das ist auch nicht möglich, da nur den „Geistgesalbten“ die Augen geöffnet werden, um die tiefen Geheimnisse der Bibel zu ergründen, wie sie von sich selber sagen. Nur sie bekommen direkt von Jehova den nötigen Aufschluss dazu. Der Artikel nennt „zwei Hauptgründe“, warum die „Sklavenklasse“ (gesalbte Christen) das Vertrauen der Nichtgesalbten verdient (Seite 24, Absatz 3):

  1. Jehova vertraut der Sklavenklasse.
  2. Jesus vertraut ebenfalls dem ‚Sklaven‘.

Sodann werden im Anschluss daran „Beweise“ dafür geliefert, dass dieses Verhältnis auch tatsächlich besteht. Die Argumente dafür enden jedoch fatalerweise in einen Zirkelschluss, d.h. das zu Beweisende(!) wird selbst zur Beweisgrundlage erhoben. Der sogenannte Beweis soll ein Bibeltext aus Psalm 32:8 sein, worin sich der „treue und verständige Sklave“ in hoher Selbstachtung als einzigen Adressaten sieht:

Ich werde dir Einsicht verleihen und dich unterweisen in dem Weg … Mein Auge auf dich richtend.”

Aus diesem Grund, so heißt es sinngemäß weiter, könne man sich „voll und ganz“ darauf verlassen, dass die Erklärung der Bibeltexte („geistige Speise“) die “wir geben”, immer richtig ist (Absatz 4). Jedes selbstständige Erarbeiten selbsthergeleiteten Bibelwissens bleibt den nichtgesalbten Zeugen Jehovas damit „erspart“. Ihnen bleibt nur die Verwertung dessen, was ihnen der „Gesalbte“ in gefilterter Form als Essensrest übrig lässt.

Die Selbstbeweihräucherung der „Sklavenklasse“ lässt die nichtgesalbten Zeugen Jehovas dagegen wie Aussätzige erscheinen. Sie blüht regelrecht auf in der Huldigung ihrer selbst. Jehova schenkt ihnen heiligen Geist. Der Beweis: Die Wirkung des Heiligen Geistes hat sie befähigt, dass „Königreich Gottes“ weltweit bekannt zu machen, was immer man unter „bekannt machen“ auch verstehen mag, als ob andere Religionen das nicht auch täten. Damit ist das Repertoire an Glanzleistungen längst nicht erschöpft. Der Wachtturm-Leser soll wissen, dass die weltweite Versorgung der Diener Jehovas „weitreichende Entscheidungen erfordert“ (Absatz 5). Was hat die „Sklavenklasse“ noch, was die übrigen nicht haben? Selbst Jesus Christus erblasst neben so einer selbstherrlichen Eigendarstellung des „treuen Sklaven“.

Die nun folgende Beschreibung wird zukunftsweisend in den metaphysischen Raum verlagert. Die Nichtgesalbten werden dann nicht mehr gebraucht und verbleiben auf der Erde, die sie in ein Paradies verwandeln werden. Das Vertrauen Jehovas zu ihnen ist einfach nicht groß genug, um auch noch für sie einen Platz im Himmel freizuhalten. Die Größe des Vertrauens Jehovas gegenüber dem „treuen Sklaven“ ist dagegen nur fassbar in der Beschreibung dessen, was sich im metaphysischen Bereich abspielen wird.

Er der „Sklave“ wird mit einem „vergänglichen Körper sterben“ und erhält im Gegenzug dazu einen „Organismus, der nicht verweslich ist und anscheinend über die Fähigkeit verfügt, sich selbst zu erhalten“. Eine Erklärung, warum gerade Geistgeschöpfe einen sich „selbst erhaltenden Organismus“ (Absatz 6) im biologischen Sinne bekommen, bleibt der Artikel seinen Lesern schuldig. Dabei stellt sich noch die Frage, wie der Verfasser des Artikels auf die Idee kommt, den biologischen Begriff „Organismus“ auf Geistgeschöpfe anzuwenden. Die Bibel gibt darüber keinen Aufschluss. Der lediglich die Wachtturminhalte reproduzierende nichtgesalbte Leser, wird geduldig auf die Antwort warten müssen, bis Jehova seinen Gesalbten weitere „Einsicht“ zukommen lässt.

Mit dem oben Beschriebenen ist das Ende der Fahnenstange glücklicherweise für den „Sklaven“ noch nicht erreicht. Eine große Hochzeit mit dem Lamm Jesus Christus steht noch an, während die übrigen Zeugen Jehovas immer weiter ins Abseits trudeln. Auch hier begegnet der aufmerksame Leser einem Zirkelschluss, der besagt, dass die dem „Sklaven“ bereits versprochene „Hochzeit des Lammes“ Jesus Christus, bei der besagter “Sklave” die „Braut“ sein soll, ein Beleg dafür sei, dass Gott den „gesalbten“ Zeugen Jehovas vertraut, weil diese wiederum, so glauben sie selber, „dem Lamm beständig folgen, ungeachtet wohin es geht“. Das klingt eher nach einer himmlischen Zwangsheirat.

In Absatz 8 wird nun der Versuch unternommen, das besondere Vertrauensverhältnis zu begründen, welches Jesus nur zu seinen Gesalbten pflegt. Es soll klar werden, dass Nichtgesalbte davon ausgenommen sind – mit Jesus also faktisch rein gar nichts zu tun haben. Entwickelt wird die Begründung über die Einführung einer Analogie der Bundesschließung Jesu mit den „11 Aposteln“ (Seite 26), die ebenfalls dem Kreise der 144 000 zuzurechnen sind. Außerdem hat diese elitäre Gruppe schwierige Prüfungen in dieser Welt durchlaufen, weshalb Jesus von ihnen sagte :

Ihr … seid es, die in meinen Prüfungen mit mir durchgehalten haben; und ich mache einen Bund mit euch, [...]“

So zitiert im Artikel. Als weiteren Beleg dafür, dass Jesus nur den Gesalbten der Zeugen Jehovas vertraut und niemanden aus einer anderen Religion, verweist der Artikel auf die weltweiten Immobilien (Absatz 9) der amerikanischen Wachtower Society, die er mit Rückgriff auf Matthäus 24:47 als Jesu „Habe“ bezeichnet: „Wer würde eine derart wertvolle ‚Habe‘ jemandem zur Verwaltung und Benutzung übergeben, dem er nicht vertraut?“, fragt der Absatz rhetorisch. Nun ja, wertvoll ist diese „Habe“ im wahrsten Sinne des Wortes, erbaut und hochgezogen von den überwiegend nichtgesalbten freiwilligen Helfern, die ihr Fachwissen und physische Kraft jahrzehntelang in das weltweite Immobiliennetz investiert haben, die „Habe“ Jesu, was jedoch nicht ausreichte, um ebenfalls in diesen erlesenen Kreis der Gesalbten aufgenommen zu werden.

„Ich werde bei euch sein alle Tage“

Jesus meinte damit alle Christen, die an ihn glauben ohne eine Zweiklassenteilung. In dem Artikel wird Jesus allerdings ordentlich über den Mund gefahren. Er sei nur bei seinen gesalbten Nachfolgern, nicht bei den Nichtgesalbten (Absatz 10). Was bleibt den Nichtgesalbten? Sofern sie auch heute nicht mal den Mut dazu aufbringen zu untersuchen, was die Bibel in Wirklichkeit dazu sagt, bleibt ihnen nur, den „treuen Sklaven“ blindlings zu vertrauen. Ein direktes Vertrauensverhältnis der Nichtgesalbten zu Jesus ist vom „Sklaven“ nicht erwünscht.

Es ist die vollständige Aufteilung des geistigen Raumes der beiden Klassen, in dem sich die Rahmenbedingungen manifestieren, und der festlegt, in welcher Form die Hinwendung der Nichtgesalbten zu Jesus zu erfolgen hat. Die Gesalbten bilden eine Art Enklavenkultur, die es unmöglich macht, sich mit den „Nichtgesalbten“ zu vermischen. Die Gesalbten bewegen sich innerhalb der linearen Zeit immer vorwärts, dass heißt, ihr Zustand ist irreversibel, und zwar seit der Bundschließung Jesu mit seinen Jüngern. Die Nichtgesalbten bewegen sich dagegen in einer profan zyklischen Zeit. Mit der Umwandlung ihrer Erde in ein Paradies werden sie gewissermaßen um 6.000 Jahre (Zeitrechnung der Zeugen Jehovas) in denselben Zustand zurückgeworfen, in dem sich Adam und Eva befanden, sofern man die Metapher des ersten Menschenpaares wörtlich nimmt. Gegenüber Adam und Eva hat sich ihre Lage somit nicht verbessert. Sie erleben ihre Zeit zyklisch, müssen also täglich ihren Gehorsam Gott gegenüber neu beweisen, um im Paradies verbleiben zu können. Die Gesalbten im Himmel müssen Gott und Jesus gar nichts beweisen, denn sie sind unsterblich. Die Wachtturmliteratur lässt das jedoch so nicht direkt durchblicken. In der Ausgabe vom 1.10.2006 ist zu lesen:

Würde man sich ein so wertvolles Geschenk — ewiges Leben — nicht sehr wünschen? Wer es erhalten möchte, muss loyal und gehorsam zum „König der Ewigkeit“ stehen. (Seite 6).

Der gläubige nichtgesalbte Zeuge Jehovas soll zyklisch in den adamischen „Urzustand“ zurückwandern. Er hat sich damit weder weiterentwickelt noch linear in der Zeit nach vorne bewegt. Man beachte, dass hier gesagt wird „wer es erhalten möchte[!]“ Im Klartext: Das „ewige Leben“ im irdischen Paradies steht unter Vorbehalt.

Was sagt derselbe Artikel über die „Gesalbten“? In überheblicher Selbstreflexion sagen sie von sich, sie werden „die gleiche Art der Auferstehung wie er [Jesus] haben“. Und nur „wer so auferweckt wird[!], dem kann der Tod nicht mehr beikommen“ (eckige Klammern von mir). Dass das auch tatsächlich so wörtlich gemeint ist, wird durch einen weiteren Satz erst richtig klar:

Diese göttliche Offenbarung ist wirklich bemerkenswert. Nicht einmal Engel, die Geistgeschöpfe sind, wurden unsterblich erschaffen. (ibid. Seite 6).

Da also das „ewige Leben“ der normalen Zeugen Jehovas im Paradies immer mit einem Unsicherheitsfaktor begleitet sein wird, sollte diese Gruppe den Sinn des Loskaufsopfers Jesu vorsichtshalber nochmal dahingehend hinterfragen, ob diese Lehre mit der Bibel wirklich harmoniert. Den Rückfall in die adamische Phase werden sie deswegen erleben, weil sie faktisch gar nicht Jesu Nachfolger sind; das sind nur die „Gesalbten“. Dass nur die Gesalbten sich ausschließlich als Jesu Nachfolger sehen und die „anderen Schafe“ davon ausgenommen sind, sagt der Absatz der hier behandelten Studienausgabe ganz deutlich:

Genauso wie die gesalbten Christen Jesus folgen, ganz gleich wohin er geht, möchten die Glieder der „großen Volksmenge“ mit dem ‚treuen und verständigen Sklaven‘ mitgehen. (Absatz 13)

Die Nichtgesalbten befinden sich immer in der Gefolgschaft der „Sklavenklasse“, aber nie in der von Jesus. Was bleibt ihnen da noch übrig, als nur noch maßlosen Gehorsam gegenüber der „Sklavenklasse“ zu bekunden, um wenigstens einen Teil des Segens Jesu abzubekommen, der noch übrigbleibt. In der nächsten Überschrift auf Seite 28 wird mit offenen Karten gespielt:

Gesegnet, weil man auf den ‚Sklaven‘ hört“

Nicht der Gehorsam gegenüber Jesus ist entscheidend, dafür umso mehr der Gehorsam gegenüber dem „Sklaven“. Von letzterem hängt vieles ab. Der „Sklave“ erwartet von seiner Gefolgschaft weder eine kritische Rückmeldung in Form von Leserrezensionen, noch ist erwünscht, dass sich Zeugen Jehovas in organisatorische Entscheidungen mit einbringen. Von ihnen wird nur erwartet, dass sie sich sinngemäß folgende Fragen stellen: Nehme ich die Erklärungen der Bibel dankbar an und setzte sie bereitwillig in meinem Leben um? Befolge ich gerne organisatorische Entscheidungen des Sklaven? (Seite 28).

Ich hatte am Anfang etwas über den Begriff des „Sklaven“ erwähnt und klar gemacht, dass er bei den Zeugen Jehovas in Wahrheit rein kognitiv in erster Linie immer mit der Führerfigur, der „leitenden Körperschaft“ in Brooklyn assoziiert wird. So will es die „leitende Körperschaft“ auch wirklich verstanden wissen. Im Absatz 17 wird daher nochmal scharf akzentuiert, wem in erster Linie der Gehorsam zu zollen ist. Der „treue und verständige Sklave“ wird vertreten durch eine sogenannte „leitende Körperschaft“. Ganz besonders ihnen, den Männern in Brooklyn, gegenüber sollen die Nichtgesalbten gehorsam sein‚ weil sie es in erster Linie sind, „die unter euch die Führung übernehmen“ (Hebräer 13:7) denn, so begründen sie selbstlobend, sie…

… sind wirklich “allezeit reichlich beschäftigt im Werk des Herrn” [...] Auf die Sklavenklasse zu hören erfordert somit von uns, die leitende Körperschaft uneingeschränkt zu unterstützen.

Der Gehorsam gegenüber der zentralen Führung erfüllt somit eine Doppelfunktion. Sie erfüllt den Gehorsamsanspruch Jehovas und Jesu zugleich. In Wirklichkeit wird Jesu Rolle dadurch herabgestuft. Im Ergebnis distanzieren sich die Zeugen Jehovas von Jesus Christus. Nun hören sie nicht mehr auf seine Stimme. Nur noch die Stimme des Sklaven sollen sie erkennen und darauf hören.

In Absatz 19 wird im ersten Satz gefragt:

Was erwartet die, die auf die Stimme des Sklaven gehört haben, in der Zukunft, [...]?

Mit diesem Anspruch kann sich der Sklave oder genauer gesagt, jene Männer, die die leitende Körperschaft bilden, jede lehrmäßige Achterbahnfahrt erlauben, die durch sämtliche Irrungen und Wirrungen des Lehrgebäudes führt, ohne jemals für ihre eigenen Ungereimtheiten geradestehen zu müssen. Es liegt an den Einzelnen in der Zeugen-Jehovas-Gemeinde, diese unbiblischen, ja fast schon jesusfeindlichen Auswüchse zu erkennen und sich zu entscheiden, ob er lieber Jesus direkt folgt oder einem Jesusvermittler in Gestalt einer sogenannten „Sklavenklasse“ nachhängen will, um so zum blinden Gehorsam verdammt zu bleiben.