Eissings Gedanken, Texte Bücher
EissingsGedanken, Texte Bücher 

Tagebuch und Aufsätze

19.04.2020:
Vor einigen Wochen habe ich endlich die Bücher "Der Traum der roten Kammer oder die Geschichte vom Stein" durchgelesen. Der sechste Band endet auf Seite 4811: "Wenn der Kummer um die nutzlosen Worte der Erdichtung / wirklicher als das wahre Leben erscheinen, / bedenke, dass das Leben selbst nur ein Traum ist. / Und belächle nicht die Tränen des Lesers." Was ist Wirklichkeit und was sind Traumbilder? Die Corona-Krise macht es erforderlich, der Frage von (Alp-)Traum und Wirklichkeit genauer nachzugehen.

Textbüro Eissing

Kirschblüte in Köln

Die Corona-Krise als Epochengrenze

Deutungsmuster

Die Corona-Krise hat wie ein gewaltiger Tsunami die uns bekannten Bilder und Erzählstrukturen mit sich gerissen. Er­schreckend ist, mit welcher Leichtig­keit auch der Gottesdienst aus den Kirchen, Synagogen und Moscheen sich ver­scheuchen ließ. Nun aber sind die ersten großen Wellen über uns hinweggerollt. Und wie bei jedem Weltenende beginnen am Tag danach die Aufräum­arbeiten.

Das deutsche Gesundheitswesen hat dem Ansturm der Epidemie recht gut standgehalten. Wir gehören zu den Ländern mit einem überraschend milden Verlauf. Das liegt an den entschiedenen Maßnahmen der Regierung und der außergewöhnlichen Einsatz­bereitschaft aller Beteiligten, an Drei-Stunden-Schichten in den Laboren und all den vielen Initiativen, die gezeigt haben, dass unsere Gesellschaft in Krisenzeiten sehr wohl zusammenhalten kann. Ob allerdings die jetzt gezeigte Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens dazu führen wird, dass die bewährten Strukturen gestärkt werden oder ob sie umgekehrt genau deshalb zerschlagen werden, das wiederum hängt davon ab, wer oder was Corona überhaupt ist. Die folgenden Artikel und Gedanken sollen einzelnen Fragen nachgehen.

09.03.2024 Kopflos zu Ostern

Erschöpft wacht sie auf. Dabei ist die Nacht noch jung. Wer hat denn da, während sie schlief, aus ihrem Kopf geschöpft? Und wo ist er hin, der Schopf? Ach ja, richtig. Auf dem Kopf, der Schopf. Nur gut, dass sie nicht geschröpft aufwachte. Man stelle sich das einmal vor. Erschöpft also. Der Schopf auf dem Kopf – doch der Schöpfer?

 

Alles der Reihe nach: Erst wird nun der Schopf auf dem Kopf zum Zopf gebunden. Danach ist ihr Kopf wieder ganz frei. Ohne Vorsilbe und ohne Umlaut geht es ihm gleich besser. Das Sch und das Z sind quasi seine Geschwister. Mit ihnen versteht er sich gut. Aber diese Vorsilben! Sie fürchtet vor allem den Tag, an dem sie geköpft aufwachen wird. Kopflos. Erköpft?

Nein, das ist nicht komisch.

 

Gestern noch, da ging sie, die Nacht war noch jung, durch die Straßen der Stadt. Keinerlei Erschöpfung vorhanden, die ihr den Weg in den Schlaf gezeigt hätte. Vor einem Schaufenster blieb sie stehen. Geköpft war es. Das Kind. Eine Puppe nur. Eine Kinder-Schaufenster-Puppe ganz und gar kopflos. Die Schnittstelle blutleer. Eine kopflose Kindpuppe. Doch eine Puppe mit einem Lamm in den Händen. Das Lämmchen im Schoß, die Händchen in der Wolle des Lämmchens. Und wie zur Erklärung des schiefen Bildes hatte der Schaufensterersteller bunte Kapitälchen neben das Kindchen ohne Köpfchen gelegt. Das O glitzert gelb, das S glitzert rosa, das T glitzert mintgrün, das E glitzert wieder rot. Lila wiederum das R und grün das N.

Ostern

 

Zu Ostern also werden die Kinder geköpft und ins Fenster zur Schau gestellt. Vielleicht rührt ihre Erschöpfung aus diesem Bild. Alles durcheinander. Der Schlachter gegenüber übrigens, der hängt die Schweine wieder ins Fenster. Seitenweise. Zum Trocknen. Und zum Anschauen. Aber das führt vom Wege ab. Der Weg führt uns direkt nach Ostern hin. Vor Ostern steht das Kreuz. An Ostern ersteht er auf. Oder aufersteht er. Der Herr. Jedes Jahr wieder. Nachts übrigens, wenn sie, die Nacht, noch jung ist. Die Kinder aber – sie wurden doch geköpft anlässlich seiner Geburt. Das muss vor Weihnachten gewesen sein. Vielleicht war auch damals die Nacht jung. Aber vor allem waren es die Jungen, die geköpft wurden. Weil er, Herodes, ihn, den Herrn, der angekündigt war den Weisen, fürchtete.

 

Geköpftes Kind im Schaufenster. Kopflos mit Lämmchen. Zu Ostern.

Ringe, Range, Rose, Butter in die Dose, Schmalz in den Kasten, morgen wollen wir fasten. Übermorgen Lämmlein schlachten. Das soll sagen: Mäh!

Frohe Ostern oder Mäh?

 

Das Lämmlein jedenfalls gehört zu Ostern in den Topf. Vielleicht wird es dort ja getöpft. Nein, ganz sicher wird man sagen müssen: Das Lämmlein wird getopft. Ein Topf. Eintopf. Gut ist: Das Lämmlein wird keinesfalls gekröpft. Auch nicht, nachdem es geköpft wurde.

 

Die Taube – sie könnte allerdings das Lämmlein kröpfen. Doch die meisten Tauben sind Vegetarier. Nicht nur zu Ostern. Vielleicht ist der Friede deshalb mit ihr. Sie wird kein Lämmlein kröpfen. Und keiner Fliege ein Leid. Zufügen.

Aber der Friede – er ist ja auf und davon. Geflogen? Kein Osterfrieden. Wer nach ihm im Netz sucht, der findet den durchkreuzten Osterfrieden. Doch aus dieser Geschichte wollen wir gar nichts zu schöpfen beginnen. Nicht aus dem Netz, nicht aus dem Kreuzfeuer. Es ist nämlich gar nicht das Kreuz, das zu Ostern im Feuer verbrannt werden soll. Es war Judas, der vor Zeiten, das sind mehr als fünf Jahrzehnte, in Gestalt der Vogelscheuche ans Kreuz gekleidet, aufs Holz gesetzt oben auf dem Osterfeuer verbrannt wurde. Doch das Kind, das den Judas noch nicht kannte, hat geschrien wie am Spieß. Es hat gesehen, was es nicht sehen sollte: Dort im Feuer, da wurde ein Mensch verbrannt. Das Kind scheute fortan das Feuer – und ins Dorf kam dieser Judas, dieser Verräter, diese Vogelscheuche, nie wieder zurück. Kein Menschenopfer mehr zu Ostern.

 

Ostern im Feuer des Kreuzes. Das Osterkreuz im Feuer. Die Osterfeier durchkreuzt. Die Taube, sie hat sich am Lamm verschluckt. Ihr Kropf ist fassungslos. Hätte sie doch wenigstens nur am -chen sich erschöpft. Aber nein, das ganze Lamm hat sie verschluckt. Ohne Umlaut. Kein Friede den Menschen auf Erden. Auch nicht den Menschen seiner Gnade. Vielleicht wird es Zeit, die Taube zu köpfen. Sie wird sonst noch ersticken. Noch bevor der Herr ans Kreuz geschlagen wird.

 

Palmsonntag – das ist ihre Zeit. Während der Herr auf dem Esel einherreitet, bringt die Taube den Palmzweig im Fluge. Das ist zeitversetzt um Jahrhunderte – denn der Palmzweig ist das Zeichen der Rettung aus der Sintflut. Doch flugs – oder im Fluge – ist die Taube mit Palmzweig den Zeichnern zum Zeichen des Palmsonntags geworden. Friede den Menschen auf Erden.

Die Sintflut wird enden. Und zwar genau am Palmsonntag, wenn der Herr auf dem Esel einherreitet. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Während das Kind im Schaufenster kopflos noch immer das Lämmlein streichelt.

 

OSTERN. Marsch. Marsch.

 

Sie war erschöpft aufgewacht, hatte den Schopf zum Zopf gebunden – und so befreit war sie über die Wörter und die Bilder hergefallen. Sie hatte geschöpft aus den Gedanken, die hinter den Wörtern und Buchstaben sich versteckt gehalten hatten. Denn so ist es: Die Sprache ist Versteck und Verrat. Manchmal ist sie auch einfach nur verstockt.

 

Wer der Sprache und ihren Bildern aber seinerseits mit dem Stock zu Leibe rücken will, der wird ihrer nicht Herr. Nein, die Wörter muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, wenn man sie verstehen will. Nicht kopflos, nicht kropflos. Und dann muss man Acht geben. Man könnte sich schon an den Wörtern verschlucken. Um wie viel mehr, dann an den Bildern, die zu den Worten gehören!

 

Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.

Ach Aschenputtel, du kanntest sie noch. Die Tauben, die dem Lamm kein Härchen gekrümmt hätten. Den Frieden aber, den hast du nicht gekannt. Wahrscheinlich wirst du ihn auch nicht kennengelernt haben, als du zur Königin gekrönt worden warst. Warum sonst hat uns diese Geschichte noch niemand erzählt?

 

Putt, putt, putt mein Hühnchen, putt putt putt mein Hahn.

 

© Mechthild Eissing

 

Noch mehr zu lesen gibt es auf www.textbuero-eissing.de

27.08.2023 Eidechse

In einem kleinen Wassercontainer für Tomaten da lässt es sich leben, meint diese Eidechse. Sie gehört zu einer kleinen Familie, die seit drei Jahren in unserem Garten lebt.

Astrid

Astrid Ostendorf

* 28.12.1973

+ 08.10.2022

Unsere Schwester, Schwägerin und Tante ist gestern Nacht nach langem und zähem Kampf friedlich eingeschlafen. Möge der Herr ihrer Seele einen Engel zur Seite stellen, damit sie auf dem Weg zu IHM Schutz und sicheres Geleit an ihrer Seite weiß.

03.07.2022: Sehet die Lilien und die anderen Blumen auf dem Felde

26.05.2022: Blütenkäfer

23. Mai 2022: Garten - Blüten im Regen

Köln bei Nacht

Marcel Eissing

Septembertage

05.09.2021: Garten

10.08.2021 Trichterwinde

Die Trichterwinde

 

Jeden Tag ein kleines Stück weiter. Die Trichterwinde zieht sich am Seil empor, Stück für Stück. Gegen den Uhrzeigersinn sich drehend, nicht aufgebend und immer auf der Suche nach neuem Halt. Jeden Morgen fängt sie neu an. Strahlt die Welt mit ihren Blüten an. Schau  her, schau auf mein Blau, blau schimmernd und noch mal blau. Himmlisch. Nachmittags schwindet ihr die Kraft und abends kriecht sie müde, abgekämpft und gekrümpelt in sich zurück. Wieder ein schwerer Tag. Aber der Morgen. Der nächste Morgen kommt und die Trichterwinde glüht und strahlt, als wäre dieser Morgen der allererste.

 

„Steh auf und iss! Sonst ist der Weg zu weit für dich“, spricht der Engel zu Elija, der sich unter einen Ginsterbusch gelegt hat und aufgeben will. Nichts da. Weitergehen und weiter gehen. Tag für Tag und iß, denn der Weg ist lang. Vielleicht hört Elija da unter dem Ginsterbusch die Stimme einer Trichterwinde.

02.08.2021 Waldkapelle in Reken

Was hier aussieht, wie ein Gemälde aus der Worpsweder Künstlerkolonie ist ein malerisch bearbeitetes Foto aus Westfalen. In der Baumgruppe rechts verbirgt sich die letzte Station des Rekener Kreuzwegs, der schon im 18. Jahrhundert bezeugt ist. Auf halber Strecke die Eremitage. Eine kleine Kapelle im Wald, mindestens seit 1686 als Andachtsstätte bekannt. Mitsamt wundertätiger Quelle, die aber längst versiegt ist. Nichtsdesto oder auch gerade deswegen ist die kleine Kapelle immer noch ein Ort, an dem auch Menschen aus weiterer Entfernung ihr Kerzchen anzünden, um für ihre Anliegen zu bitten.

 

 

https://www.st-heinrich-reken.de/kontakt-einrichtungen/sehenswuerdigkeiten/waldkapelle-reken/

https://www.st-heinrich-reken.de/waldkapelle/

https://www.reken.de/Urlaub-Freizeit/Sehens-Erlebenswertes/Waldkapelle-Eremitage/

Garten im Juli 2021

Offener Brief an Erzbischof Reinhard Kardinal Marx

05.April 2021, Ostermontag

Kirschblüte im Schneetreiben

 

Tausend Schneeflocken tanzen in der Luft.
Grau und verhangen der Himmel.

Die Macht der Kälte ist wirklich, ist wahr, 

ein Schein wie von Ewigkeit.

 

Die kleine Kirschblüte trotzt der Kälte.

Sie weigert sich zu erstarren.
Hin- und hergerissen von Kälte und Wind
widerspricht sie dem Grimm der Macht:
nichts bleibt wie es ist.

 

Im Tod ist das Leben,
klein, zerbrechlich, als Knospe, als Blüte, als Hoffnung.
Unbeirrt kündet die Kirschblüte vom Wandel,
vom Leben und vom Ende der Kälte.

 

Ostermontag 2021, Köln

20.02.2021: Vorboten

17.01.2021: Krieler Dömchen im Schnee

10.01.2021 Toter Blitzer

Fassungslos, empört und wütend stehe ich am Straßenrand. Dieses Bild vor mir ist erschreckend. Da bildet sich im schlimmsten Fall ein Narrativ, das mich schmerzt und nicht gut ist.

Sinnlose und rohe Gewalt ist immer falsch und hier scheint sich jemand mutwillig an staatlichem Eigentum vergangen zu haben. Der geschändete Blitzer, zerschlagen und gedemütigt, steht am Straßenrand, ein Mahnmal, schlimmer, ein Narrativ-Mal.

Niemand hält an, niemand kümmert sich. Kein barmherziger Samariter. Dabei ist der Blitzer ein Guter. Er weckt den einschlafenden Fahrer rechtzeitig vor einer großen Kurve auf, macht ihn hell wach und erinnert ihn nur wenige Tage später mit einem Foto an diesen Akt der Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Gutwilliger geht es nicht, aber wie schon bei Jesaja, der Gute und Gerechte muss leiden, wird verhöhnt, geschlagen und ins Reich der Toten geschickt. Wir aber erwarten die Auferstehung als Blitzer, vielleicht aber auch als Mautsäule.

 

19.12.2020: Sonnenaufgang in Köln aus Richtung Widdersdorf

12.12.2020: Anpassung einer Weihnachtslesung

Es geschah aber in jenen Tagen,

dass Kaiser Augustus den Befehl erließ,

den ganzen Erdkreis vor einer Pandemie zu schützen,

indem er die Kontakte seiner Untertanen aufzeichnen ließ.

Diese Corona-Pandemie war die erste,

damals war Quirinus Statthalter von Syrien.

Da saß jeder in der Stadt fest, wo er sich gerade aufhielt.

Auch Josef aus Nazaret in Galiläa

saß bei seinen Verwandten in Bethlehem im Lockdown,

denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids.

Da saß er nun mit Maria, seiner Verlobten,

die ein Kind erwartete.

Es geschah, als sie dort im Lockdown steckten,

da erfüllten sich die Tage, dass sie gebären sollte,

und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen,

und nannte ihn ….

Coronus

 

Vielleicht helfen aber auch Bilder und Skulpturen:

 

http://thomas-rees.com/coronus/

14.11.2020: Novemberblüte

07.11.2020

31.10.2020: Gartenbilder

20.10.2020: Weiße Blüte in der Hagebuttenhecke

Weiße Blüte in der Hagebuttenhecke.

Wem zeigst du deine Pracht? Wir sind schon spät im Jahr. Den Bienen ist kalt. Sie haben ihre Waben gefüllt und sind bereit für den Winter. Du aber strahlst mich an. Du lachst. Du bist voller Hoffnung. Wer sieht deine Sehnsucht? Wer besucht dich?

 

Weiße Blüte in der Hagebuttenhecke.

Woher dein Stolz? Woher dein Mut? Woher nimmst du deine Kraft an einem so kalten Tag? Die Sonne will und kann dir nicht mehr helfen. Vorgesorgt hast du. Die roten Hagebutten neben dir, den Vögeln ein Genuss. Du bist klug.

 

Weiße Blüte in der Hagebuttenhecke.

Dein Mut und deine Schönheit. Ja, vielleicht kannst du den Winter für einen Moment stutzen und zögern lassen: „Wie kann diese kleine Blume nur so frech und stark sein? Was bildet sich diese Blüte nur ein?“ Aber dann wird der Winter doch stärker sein. Du aber weißt es: Im Frühjahr mit dem Kuckucksruf, dann bist du wieder da, strahlst und lachst uns an und singst Spottlieder über den Winter.

20.10.2020: Der wahrhaft rote Papenburger. Anmerkungen zu einem rotfleischigen Apfel

Im Sommer 2017 hat Valentin Geber drei eigenartige Apfelbäume auf dem Rasen an der Südseite des Gebäudes der Kreissparkasse in Papenburg entdeckt. Der Apfel selbst ist nicht nur außen rot, sondern auch das Fruchtfleisch ist rot durchsetzt. Der Saft ist lecker. Der Apfel selbst schmeckt, und auch die Dohlen unter den Bäumen scheinen dieser Ansicht zu sein. Die Apfelblüte im Frühjahr glänzt wunderschön rötlich.

 

Einen Roten Papenburg als Apfelsorte gibt es. Der Rote Papenburger wurde seit 1946 von der Gärtnerei Feiling verkauft. Ob sie selbst Urzüchter dieser Sorte ist, bleibt unklar. Die Landwirtschaftskammer Weser-Ems hat jedenfalls im Jahre 1950 den Roten Papenburg für das Emsland empfohlen, da der Baum nur wenig Ansprüche an Lage und Boden stellt und für den Hausgarten gut geeignet schien. Der Apfel war in späterer Zeit fast in Vergessenheit geraten, aber dann hat die Historisch-Ökologische Bildungsstätte von drei Bäumen zahlreiche Apfelbäume nachgezogen (Quelle: Werner Kleimann, Baumfreunde Papenburg e.V.) Der Rote Papenburger ist nur ein scheinbar roter, denn sein Fruchtfleisch ist weiß. Die Äpfel an der Südseite der Kreissparkasse aber haben rötliches Fruchtfleisch.

 

Der rote Apfel an der Kreissparkasse in Papenburg ordnet sich zunächst keiner der bekannten Sorten zu. Valentin Geber hat mit Hilfe des Buches „Bartha-Pichler, Brigitte; Brunner, Frits; Gersbach, Klaus; Zuber, Markus: Rosenapfel und Goldparmäne. 365 Apfelsorten – Botanik, Geschichte und Verwendung, Baden und München 2005, 2. Aufl. 2006“ eine Bestimmung versucht. Von den dort dokumentierten Sorten bietet sich vom äußeren Erscheinungsbild nur der Averdale an. Und unter dem Arbeitstitel „Averdale“ hat Valentin Geber dann auch den Apfel an der Kreissparkasse in den letzten drei Jahren bearbeitet: erste Setzlinge aufgepfropft oder Sämlinge gezogen.

 

Die Averdale-These hat aber Schwachpunkte. Viel ist über den Averdale nicht bekannt und dort, wo Bilder zu finden sind, fehlt das markanteste Zeichen des neuen „roten Papenburgers“ – sein rotes Fruchtfleisch. Für den Averdale hier eine Darstellung in der britischen National Fruit Collection: http://www.nationalfruitcollection.org.uk/full2.php?varid=273&&acc=1999003&&fruit=apple. Auch wenn in der National Fruit Collection vom Averdal die Rede ist und nicht vom Averdale, so scheint mir doch diese Sorte nicht passend.

 

Das wirklich markante Zeichen des Apfels an der Kreissparkasse ist sein rotes Fruchtfleisch. Selbst die Kerne sind rot. Eine entsprechende Suche nach „rot fleischigen Äpfeln“ liefert dann weiterführende Hinweise.

 

Zuerst möchte ich hier auf einen Beitrag auf der Website des Sängerhofes über rotfleischige Apfelsorten verweisen: https://www.gartenwebshop.eu/rotfleischige-apfelsorten/20180318/b-22.html. Die Fotos auf der Seite des Sängerhofes sind ansprechend und im Vergleich mit dem Papenburger Apfel dürften dann drei „Rote Monde“ neben der Papenburger Kreissparkasse residieren. Ein interessanter Hinweis auf dieser Seite verweist auf die Nutzung rötlicher Apfelsorten in Norddeutschland: Rote Äpfel wurden früher an den Weihnachtsbaum gehängt als Schmuck. Ich selbst habe in meiner Verwandtschaft noch genau einen Weihnachtsbaum vor Augen, der dieser Regel folgt.

 

In Sachen seltene Apfelsorten war auch die Göttinger Universität fleißig. Sie hat eine längere Liste seltener und auch rotfleischiger Apfelsorten veröffentlicht: https://www.uni-goettingen.de/de/document/download/9e6d41bbe88fa20f3ed47538a880fb9c.pdf/Obstsortenbeschreibung.pdf In der Göttinger Liste ist der „Rote Mond“ nur kurz erwähnt, andere ähnliche Sorten sind dort auch beschrieben. Die Göttinger Liste schließt mit der Feststellung: „Diese Sortenbeschreibung erhebt keinen Anspruch auf Richtigkeit und Vollständigkeit, da viele dieser Sorten sich nur in privaten Sammlungen befinden und bisher keiner Sichtung unterworfen wurden bzw. keinen Eingang in die Literatur gefunden haben.“

 

Der Göttinger Hinweis, dass viele rotfleischige Sorten nur in Privatsammlungen zu finden und nicht in die Literatur eingegangen sind, führt zurück zum Bestimmungsproblem und seinem geschichtlichen Hintergrund, zu dem aus Baden-Württemberg ein Beitrag vorliegt. Der Heimatverein Bad Schönborn hat einen kurzen Text zur Geschichte des „Roten Mondes“ auf seinen Seiten platziert (http://www.ahnu-bad-schoenborn.de/docs/2016/Roter_Mond.pdf), der die Problematik der Privatsammlungen von der politischen Seite anpackt.

 

Dem russischen Botaniker und Obstbaupionier Iwan W. Mitchurin (1855-1935) sei es durch Züchtungen mit Wildäpfeln gelungen, über 300 frostresistente Obstsorten für das kontinentale Klima zu züchten. Sein größter Erfolg waren rotfleischige Apfelsorten. „Alles begann mit der Kreuzung des Wildapfels „Malus niedzwetskyana“ und der Sorte „Antonovka“. Daraus entstand zuerst die Sorte „Jachontowoje“ (= Rubinovoje), aus der 1915/16 „Roter Standard“ und „Komsomolez“ hervorgingen.“ Zwar hatte in Baden-Würtemberg der Prof. Gustav Rupp versucht, den roten Apfel wegen seines hohen Gesundheitspotentials zu verbreiten, das aber sei an den politischen Restriktionen der NS-Zeit gescheitert und später dem Vergessen anheim gefallen. Obwohl gesund, kam der rote Apfel nicht nach Deutschland, sondern nur bis in einzelne Privatsammlungen.

 

Das bringt uns zurück zu unserer Ausgangsfrage: die drei rotfleischigen Apfelbäume an der Südseite der Kreissparkasse in Papenburg. Gärtner Feiling könnte sie Ende der 70er Jahre nach der Fertigstellung des Neubaus dort gesetzt haben. Feiling hatte mit seinem „roten Papenburger“ einen rötlichen Apfel mit weißem Fruchtfleisch. Hier aber an der Kreissparkasse setzt er drei Äpfel mit rotem Fruchtfleisch, also wahrhaft „rote“ Papenburger. Oder war Feiling doch nicht der Gärtner, der hier seine Handschrift hinterlassen hat?

 

Und hat nun die Geschichte vom rotfleischen Apfel in Papenburg einen tieferen Sinn oder gar eine Bedeutung im Hinblick auf die Corona-Krise? Martin Luther wird der Satz zugesprochen: "Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen". Diese positive und unerschrockene Grundhaltung passe gut zur protestantischen Theologie, lautet eine Deutung. Ich betrachte es von der pragmatischen Seite. Jeder Weltuntergang hat das Problem mit dem Tag danach: mühselige Aufräumarbeiten und die langsame Rückkehr zur Normalität des Lebens. Gegen den Heroismus der Krise und des Untergangs stemmt sich Luthers Satz. Vielleicht ist es eine gute Antwort auf Corona, Apfelbäumchen zu pflanzen und den rotfleischigen Apfel zu verbreiten – für den Tag danach.

01.08.2020: Sehet die Lilien auf dem Felde

05.08.2020: Gartenimpressionen

25.07.2020: Ist Markus Söder zu groß für Deutschland?

Artischocke im Garten

In der Corona-Krise hat Markus Söder eine starke Rolle gespielt, andere wiederum (NZZ) sprechen von einem Brüllaffen. Söder gibt das Bild des Großen und Starken her, der den ganzen Tag nur daran denkt, wie er Schaden von Deutschland abwehren und das Wohl des Volkes mehren kann. Nun verursachen die Maßnahmen gegen Corona ganz erhebliche wirtschaftliche Schäden, während der Verlauf der Epidemie durchaus nicht der angekündigten Katastrophe entspricht. An dieser Stelle beginnt meine Fragestellung.

 

Eine erste Antwort besteht darin, dass jede gute Strategie das Problem hat, dass – weil alles gut und geräuschlos verläuft – das Problem nicht sichtbar wird. Erst das Scheitern einer Strategie hinterlässt viele Scherben und damit eine deutliche Spur der Sichtbarkeit. Gute Strategie ist still und unsichtbar und das ist für Politik nur bedingt gut.

 

Die zweite Antwort auf die seltsame Diskrepanz zwischen den Lockdown-Maßnahmen und dem tatsächlichen Epidemieverlauf finde ich in dem chinesischen Roman „Die Reisen des Lao Can“, verfasst von Liu E, übersetzt von Hans Kühner, Shanghai Bildungsverlag für Fremdsprachen, 2017 (2 Bde).

 

Das Buch „Die Reisen des Lao Can“ entsteht zwischen 1903 und 1905. Lange blieb der wirkliche Autor Liu E hinter seinem Pseudonym verborgen. Geboren 1857, dann 1876 in der ersten Beamtenprüfung gescheitert, danach Studium der traditionellen Medizin. 1887 bis 1894 ist Liu E als Berater mit Wasserbaumaßnahmen und der Eindämmung des gelben Flusses beschäftigt. Danach wendet sich Liu E der freien Wirtschaft zu, ist Vermittler von Handelsgeschäften mit westlichen Firmen, was ihn in den Augen der kaiserlichen Behörden zunehmend verdächtig macht. Schließlich fällt er in Ungnade, wird 1908 sogar verhaftet und stirbt 1909 in der Verbannung in Xinjiang.

 

In philosophisch-religiöser Hinsicht steht Liu E seit 1882 der Taigu-Sekte nahe, die durch eigenwillige Ansichten auffällt, etwa dass Frauen gleichberechtigte Wesen seien oder dass es mehrere Wege zur Erkenntnis und damit auch mehrere legitime Weltanschauungen geben könne. Solche Auffassung sind uns bekannt und vertraut, aber in der Betrachtung über die Ursachen des Niedergangs des Kaiserreiches geht die Taigu-Sekte dann doch im Rückgriff auf den mingzeitlichen Denker Li Zhi einen Schritt weiter. Li Zhi hatte dreihundert Jahre vorher geschrieben:

 

„Sie wissen lediglich, dass korrupte Beamte das Staatswesen ruinieren können, aber Sie wissen nicht, dass vor allem der Edle das Staatswesen ruiniert. … Der Grund dafür ist, dass … der Edle keine Gewissensbisse in seinem Herzen hat, deshalb ist sein Wille noch stärker und seine Überzeugungen sind noch fester, und niemand kann ihn aufhalten. … Der Schaden, den korrupte Beamten anrichten, betrifft nur ihre (direkten) Untertanen, aber der Schaden, den unbestechliche Beamte anrichten, betrifft außerdem noch die kommenden Generationen.“ (S. 23).

 

Mit dieser Haltung kann Liu E schwerlich in den Staatsdienst eintreten. Seinen Romanheld lässt er daher als umherwandernden Arzt durch die Lande ziehen, er selbst versucht sich als Kaufmann und als Schriftsteller. Als Verfasser des Romans hat Liu E ein eindringliches Bild von der Lage des einfachen Volkes überliefert. Sein Roman gilt heute in China als einer von vier Klassikern der späten Qing-Zeit.

 

Im Roman begegnet der Protagonist Lao Can dem Gouverneur in Shandong, einem Law-and-Order-Mann, der mit harter Hand regiert und viele Menschenleben zu verantworten hat. Als Arzt und Gebildeter wird Lao Can zum Gespräch eingeladen. Der Gouverneur spricht „von der großen Aufgabe der Gewässerregulierung“ (S. 71) und Lao Can nimmt den Gesprächsfaden gerne auf. Nach einem einleitenden Lob über die Arbeit der Regierung spricht Lao Can:

 

„Was aber die Wasserregulierung betrifft, hat man mir gesagt, dass Sie sich lediglich von Jia Rangs „Drei Prinzipien“ leiten lassen und dem Grundsatz folgen, man dürfe dem Fluss kein Land streitig machen.“

 

Der Grundgedanke klingt nach heutiger ökologischer Lehre. Die Schrift von Jia Rang stammt allerdings aus der Zeit der Han-Dynastie, ist also antik. Lao Can fährt dann fort:

 

„Dass der Flusslauf schmal und deshalb der Wasserdurchfluss begrenzt ist“, antwortete Lao Can, „scheint nicht ausschlaggebend, denn dieser Umstand spielt nur während der paar Wochen eine Rolle, wo Hochwasser einsetzt. In der übrigen Zeit ist die Strömung schwach und der Schwemmsand kann sich umso leichter am Grund absetzen. Jia Rang, müssen Sie wissen, war ein guter Schriftsteller, doch praktische Erfahrung im Wasserbau besaß er nicht. Kaum hundert Jahre nach ihm kam ein gewisser Wang Jing. Seine Methode der Flussregulierung ist direkt von Yu dem Großen abgeleitet. Bei ihm stand das Eindämmen im Mittelpunkt, ganz in Einklang mit dem Satz aus den Klassikern: „Yu dämmte die Fluten ein.“ Das ist genau das Gegenteil von Jia Rangs Methoden. Nachdem Wang Jing die Verantwortung für die Regulierung der Flüsse übernommen hatte, ereigneten sich über tausend Jahre lange keine Hochwasserkatastrophen mehr. Pan Jixun aus der Ming-Zeit und Jin Wenxiang aus der jetzigen Dynastie haben beide mit kleinen Veränderungen Wang Jings Lehre übernommen, und beide konnten sich damit große Verdienst erwerben.“ (S. 71 f)

 

Im Grunde hat Lao Can hier die Skizze seiner Kritik schon vorgelegt: Der Theoretiker mit dem gut klingenden Konzept und die Praktiker, die erfolgreich die Dämme halten. Erst im zweiten Band auf den Seiten 333 bis 353 nimmt Lao Can die Kritik nun in Form einer konkreten Katastrophenbeschreibung wieder auf. Ausgangspunkt ist eine Art Pretty-Woman-Geschichte. Lao Can ist mit einem Freund ins Bordell. Die beiden jungen Frauen aber waren noch vor einem Jahr die Töchter eines wohlhabenden Bauern. Der Drang des Lao Can, die Frauen aus ihrer misslichen Lage zu befreien, liefert uns die Katastrophengeschichte, die in vieler Hinsicht wichtige Denkanstöße zur Bewertung der Corona-Krise liefern kann.

 

Die beiden Frauen erzählen von dem Untergang ihres Hauses. Der Gelbe Fluss tritt in der dortigen Gegend einmal im Jahr über die Ufer und der große Gouverneur will diese Unbotmäßigkeit nicht länger dulden. Ein berühmter Gelehrter aus dem Süden liefert das passende Deutungsmuster. Das Flussbett sei zu viel zu schmal. Die eng gefassten privaten Deiche müssten eingerissen werden, der Fluss müsse sich bis zu den weiter landeinwärts gelegenen staatlichen Deichen ausbreiten dürfen. Kurz, der Gelehrte präsentiert das Jia Rang Konzept, dem Fluss kein Land streitig zu machen.

 

Der Gouverneur ist überzeugt, hat aber noch Bedenken:

 

„Was soll dann mit all den Menschen geschehen, die innerhalb der großen Dämme leben? Die werden wir wohl mit Geld entschädigen und woanders ansiedeln müssen.“ (S. 333)

 

Die Berater des Gouverneurs weisen nun auf ein heikles politisches Problem hin:

„Das Volk darf davon auf keinen Fall etwas erfahren! Stellen Sie sich vor, das Flussbett zwischen den großen Dämmen ist fünf oder sechs li breit und sechshundert li lang, da wohnen mehr als hunderttausend Familien. Wenn sie von dem Plan Wind bekommen, dann werden Hunderttausende und mehr ihre Dämme verteidigen. Einreißen können wir sie dann kaum noch!“ (S. 333)

 

So kommt es dann zu dem pragmatischen und verhängnisvollen Plan der Regierung. Die staatlichen Deiche werden deutlich erhöht. Dadurch werden die Deiche „zum Fallbeil, durch das mehr als hunderttausend Menschen ums Leben“ kommen. In den ersten Tagen des sechsten Monats kommt die Flut. Die privaten Deiche brechen. Die Menschen ertrinken. Rettungsboote aber fehlen, denn die Regierung hat für die Lieferung von Brot- und Notrationen die Rettungsboote vorher beschlagnahmen lassen.

 

In der Beschreibung der Katastrophe spitzt Lao Can seinen Grundgedanken noch einmal zu, in dem er zwei Beamte gegen die Bedenken des Gouverneur antreten lässt:

 

„Wenn wir mit einem einmaligen Opfer ewigen Frieden erreichen können, … dann sollte es doch möglich sein, im Regierungshaushalt eine Summe als Entschädigung für die Leute vorzusehen, die ihren Grund und Boden verlassen müssen.“ (S. 347).

 

Das Happy-End der Pretty-Woman-Geschichte soll hier auch erwähnt werden. Lao Can befreit die beiden Frauen aus der Knechtschaft des Bordells und eine von beiden wird seine Nebenfrau.

 

Nun zur Summe des ganzen Buches.

 

Ich habe lange nach einem literarischen Muster gesucht, das hilft, die seltsame Diskrepanz zwischen den Lockdown-Maßnahmen und dem dazu keineswegs passenden Epidemieverlauf zu verstehen. Im Roman „Die Reisen des Lao Can“ findet sich die Beschreibung einer Überschwemmungskatastrophe, die erst durch das idealistisch geprägte Handeln der Regierung zur wirklichen Katastrophe wird. Für die Corona-Krise haben wir damit alle handelnden Personen des Dramas vereint:

 

  • Herrscher, die Großes leisten wollen und zu den Edlen gehören, also ohne Gewissenbisse zu handeln bereit sind.
  • Berater, die von tollen Konzepten reden, der praktischen Erfahrung leider ermangeln, und problemlos hochmoderne Konzepte aus uralten Schriften (oder mathematischen Modellen) ableiten.
  • Vorsichtige Öffentlichkeitsarbeiter und PR-Strategen, die erkennen, dass die ganze Vorgehensweise der Öffentlichkeit nur schwer zu verkaufen sein wird, was zu verdecktem und indirektem Vorgehen verleitet.
  • Große Pläne vom ewigen Frieden oder andere Utopien, die den Herrschern dann die Kraft geben, über die Alltagssorgen der Menschen hinwegzuschreiten.

 

Womit wir wieder bei unserer Ausgangsfrage angekommen sind:

Ist Markus Söder nicht doch zu groß für Deutschland?

 

Köln, 25.07.2020 (Jakobus)

 

19.04.2020: Das Ende der Aura oder die Schließung der Kirchen

1. Das Ende der Aura

Was dem Kaiser zusteht, das ist ihm zu geben. Nie stand dieser Grundsatz infrage. Schon die Weihnachtsgeschichte beginnt mit der Volkszählung des Kaisers Augustus im ganzen Reich: Alle müssen reisen und alle reisen. Wo aber endet die Verfügungs­gewalt des Kaisers und wo beginnt der Schutzraum des Gottes­hauses? Wer die Hörner des Altars im alten Israel umfasst, der darf auf Schutz hoffen, nicht immer. Kein Asyl, lautete das politische Geschrei der letzten Jahre. Nun hat die Politik gehandelt und das Asyl beseitigt. Gründlichst. Nicht einmal im innersten Raum des Asyls, dem Gotteshaus, endet der kaiserliche Zugriff. Aber nein, die Sinnumkehr geht noch weiter, denn der Asylraum ist neu gedeutet und als Infektionsraum erkannt.

In den kulturellen Konflikten der Antike treten sich die jeweiligen Götter gegenüber und der Stärkere trägt den Sieg davon. Wenn die Römer sich siegreich schlagen, die Stadt erobern oder zer­stören, so hat sich ihr Jupiter Optimus Maximus als der Stärkere erwiesen. Besser dass die Besiegten die Knie vor seiner Macht beugen, denn die Wahrheit liegt im Faktischen. Nur einige aus Jerusalem weigerten sich damals, die Zerstörung ihrer Stadt als Tatsache anzuerkennen und begannen, von der himmlischen Stadt zu reden. Wer also ist der Gott der Moderne, der Allmächtige unserer Zeit, der die Aura des Religiösen, unseren innersten Schutzraum mit einem Fingerschnipp verscheuchen kann?

Die Virtualisierung unserer Arbeitswelt, ja selbst die Virtualisierung der Gesundheits­behandlung durch die Instrumente moderner Technik ist das Gebot der Stunde. Und das neue Zehnwort dazu ist schon verkündet: Wahre Distanz! Du sollst neben dir keinen Nächsten haben. Und distanziere dich von deinem Nächsten wie auch du dir selbst fremd gegenüberstehen solltest. Glaube keinen fremden Göttern, sondern folge den Anweisungen auf deinem Handy, so spricht der Herr, dein Gott. Denn dein Nächster könnte verwirrt oder gar vervirt sein.

Soziale Kälte ist das neue erste Gebot – ausgeglichen durch eine neuartige virtuelle Mächtigkeit. Was in der Arbeitswelt funktioniert, in der medialen Welt sogar als Emanzipation und mächtige informationelle Teilhabe empfunden werden kann, darf und kann es auf das Zentrum des religiösen Geschehens, das Ritual, übertragen werden?

Dass die virtualisierte Messe eine Gefahr bedeutet, weil sie den Verzicht auf das Ritual, die Vergegen­wärtigung des Ewigen und uralten Geschehens, bedeutet, ist mehrfach und von bedeutender Stelle an­gesprochen. Und jeder von uns hat dies in den Wochen der Osterzeit schmerzlich erlebt. Meditation, stilles Gebet und An­betung sind nur ein Trost, denn die mit Macht geforderte Virtualisierung unseres Lebens zerstört die Aura, das Ritual und damit die Mitte unseres Glaubens.

In den Kriegen der antiken Kulturen stehen sich Götter gegenüber. In den Reformationskriegen treten die Wahrheiten eines Glaubens gegeneinander an. In den totalen Kriegen der Aufklärer versuchen sich die Weltanschauungen gegenseitig umzubringen. Nun aber hebelt eine säkulare Kultur mit ihren als Apostel und Propheten auftretenden Virologen das Zentrum des Glaubens an Gott selbst aus.

Oder ist diese Sicht nur die spiegelverkehrte und falsche Wahrnehmung eines neuen, sehr mächtigen Glaubens und gesellschaftlichen Zusammenhalts? In der Osternacht hätten wir die Lesung aus Exodus gehört, wie der Herr durch Ägypten zieht und wir nur deshalb davonkommen, weil uns das Blut des Opferlamms an unseren Türpfosten geschützt hat, damals am Vorabend des 14. Nissan, dem Frühlingsvollmond. Corona hat diese alte religiöse Feier und Vergegenwärtigung nicht beseitigt oder abgeschafft, sondern vielleicht ist Corona genau umgekehrt die moderne Feier dieses Auszugs, nur eben nicht mit altem Text oder als fernes Geschehen, sondern unmittelbar, hier und jetzt und bedrohlich. Wir sind davongekommen, weil wir das Gebot der sozialen Distanzierung gehalten haben und rechtzeitig mit unseren Masken unsere Türpfosten bezeichnet haben, auf dass Corona an uns vorbeizöge. Wir sind davongekommen, wir die Guten, aber wehe Ägypten, wehe dem Haus des Pharaos. Die Moderne hinterlässt ein gewaltiges von religiösem Empfinden gesäubertes Haus, ein Vakuum, aber die menschliche Natur erträgt dieses Vakuum nicht, weil die Religion Teil unserer Menschlichkeit, unseres Menschseins ist. Und so drängen in das kulturelle Vakuum der Moderne neue sinnstiftende Deutungen hinein. Corona ist ein Deutungsvirus, der in neoliberale Vorstellungswelten eindringt und sie kollabieren lässt.

 

2. Auszüge aus: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit"

Die Zerstörung der Aura ist ein Gedanke von Walter Benjamin. Im Folgenden zitiere ich Walter Benjamin aus seinem Text „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“; aus: Walter Benjamin: Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I-2, S. 435 ff. (Suhrkamp) 1974.

<4> … Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen. An der Hand dieser Definition ist es ein Leichtes, die besondere gesellschaftliche Bedingtheit des gegenwärtigen Verfalls der Aura einzusehen. Er beruht auf zwei Umständen, welche beide mit der zunehmenden Ausbreitung und Intensität der Massenbewegungen auf das Engste zusammenhängen. Die Dinge sich „näherzubringen“ ist nämlich ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch deren Reproduzierbarkeit darstellt. Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion habhaft zu werden. Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt, wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jener. Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren ‚Sinn für das Gleichartige in der Welt’ (Joh(annes) V Jensen) so gewachsen ist, dass sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt. Es wiederholt sich im anschaulichen Bereich was sich im Bereiche der Theorie als die zunehmende Bedeutung der Statistik bemerkbar macht. Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.

<5> Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition. Diese Tradition selber ist freilich etwas durchaus Lebendiges, etwas ganz außerordentlich Wandelbares. Eine antike Venusstatue etwa stand in einem durchaus anderen Traditionszusammenhange bei den Griechen, die sie zum Gegenstand des Kultus machten, als bei den mittelalterlichen Kirchenvätern, die einen unheilvollen Abgott in ihr erblickten. Was aber beiden in gleicher Weise entgegentrat, war ihre Einzigkeit, mit einem andern Wort: ihre Aura. Die ursprünglichste Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen. Es ist nun von entscheidender Bedeutung, dass diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst. Mit anderen Worten: der einzigartige Wert des ‚echten’ Kunstwerks ist immer theologisch fundiert. Diese Fundierung mag so vermittelt sein wie sie will: sie ist auch noch in den profansten Formen des Schönheitsdienstes als säkularisiertes Ritual erkennbar. Diese profanen Formen des Schönheitsdienstes, die sich mit der Renaissance herausbilden, um für drei Jahrhunderte in Geltung zu bleiben, lassen nach Ablauf dieser Frist bei der ersten schweren Erschütterung, von der sie betroffen wurden, jene Fundamente deutlich erkennen. Als nämlich mit dem Aufkommen des ersten wahrhaft revolutionären Reproduktionsmittels – der Photographie (gleichzeitig auch mit dem Anbruch des Sozialismus) – die Kunst des Nahen der Krise spürt, die nach weiteren hundert Jahren unverkennbar geworden ist, reagiert sie auf das Kommende  mit der Lehre von l’art pour l’art, die eine Theologie der Kunst ist. Aus ihr ist dann weiterhin geradezu eine negative Theologie der Kunst hervorgegangen, in Gestalt der Idee einer reinen Kunst, die nicht nur jede soziale Funktion sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vorwurf ablehnt. (In der Dichtung hat Mallarmé als erster diesen Standort erreicht.) Diese Zusammenhänge zu ihrem Recht kommen zu lassen, ist unerlässlich für die Betrachtung, die es mit der Kunst, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zu tun hat. Denn sie bereiten die Erkenntnis, die hier entscheidend ist, vor: die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual. Das reproduzierte Kunstwerk ist in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks. Von der photographischen Platte zum Beispiel ist eine Vielheit von Abzügen möglich; die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn. Im dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt.  An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual ist ihre Fundierung auf eine andere Praxis getreten: nämlich ihre Fundierung auf die Politik. …

<6> Es wäre möglich, die Kunstgeschichte als Auseinandersetzung zweier Polaritäten im Kunstwerk selbst darzustellen und die Geschichte ihres Verlaufs in den wechselnden Verschiebungen des Schwergewichts vom einen Pol des Kunstwerks zum anderen zu erblicken. Diese beiden Pole sind sein Kultwert und sein Ausstellungswert. Die künstlerische Produktion beginnt mit Gebilden, die im Dienst der Magie stehen. Von diesen Gebilden ist einzig wichtig, dass sie vorhanden sind, nicht aber dass sie gesehen werden. Das Elentier, das der Mensch der Steinzeit an den Wänden seiner Höhle abbildet, ist ein Zauberinstrument, das er nur zufällig vor seinen Mitmenschen ausstellt; wichtig ist höchstens, dass es die Geister sehen. Der Kultwert als solcher drängt geradezu darauf hin, das Kunstwerk im Verborgenen zu halten: gewisse Götterstatuen sind nur dem Hohepriester in der cella zugänglich, gewisse Madonnenbilder bleiben fast das ganze Jahr über verhangen, gewisse Skulpturen an mittelalterlichen Domen sind für den Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar. Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Kultus wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte. Die Ausstellbarkeit einer Portraitbüste, die dahin und dorthin verschickt werden kann, ist größer als die einer Götterstatue, die ihren festen Ort im Innern des Tempels hat. Die Ausstellbarkeit des Gemäldes ist größer die des Mosaiks oder Freskos, die ihm vorangingen. Und wenn die Ausstellbarkeit einer Messe von Hause aus vielleicht nicht geringer war als die der Symphonie, so entstand doch die Symphonie in dem Zeitpunkt, als ihre Ausstellbarkeit größer zu werden versprach als die der Messe. …

Diese emanzipierte Technik steht nun aber der heutigen Gesellschaft als eine zweite Natur gegenüber und zwar, wie Wirtschaftskrisen und Kriege beweisen, als eine nicht minder elementare wie die der Urgesellschaft gegebene es war. Dieser zweiten Natur gegenüber ist der Mensch, der sie zwar erfand aber schon längst nicht mehr meistert, genau so auf einen Lehrgang angewiesen wie einst vor der ersten. Und wieder stellt sich in dessen Dienst die Kunst. …

<14> … Der Chirurg stellt den einen Pol einer Ordnung dar, an deren anderm der Magier steht. Die Haltung des Magiers, der einen Kranken durch Auflegen der Hand heilt, ist verschieden von der des Chirurgen, der einen Eingriff in den Kranken vornimmt. Der Magier erhält die natürliche Distanz zwischen sich und dem Behandelten aufrecht; genauer: er vermindert sie – kraft seiner aufgelegten Hand – nur wenig und steigert sie – kraft seiner Autorität – sehr. Der Chirurg verfährt umgekehrt: er vermindert die Distanz zu dem Behandelten sehr – indem er in dessen Inneres dringt – und er vermehrt sie nur wenig – durch die Behutsamkeit, mit der seine Hand sich unter den Organen bewegt. Mit einem Wort gesagt: zum Unterschied vom Magier (der auch noch im praktischen Arzte steckt) verzichtet der Chirurg im entscheidenden Augenblick darauf, seinem Kranken von Mensch zu Mensch sich gegenüberzustellen, der dringt vielmehr operativ ihn in ein. – Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann. …

<16> … In die alte heraklitische Wahrheit – die Wachenden haben ihre Welt gemeinsam, die Schlafenden jeder eine eigene für sich – hat der Film eine Bresche geschlagen. …

<17> …. Dadaismus. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringungen, denen sie mit den Mitteln der Produktion das Brandmal einer Reproduktion aufdrücken. Es ist unmöglich, vor einem Bild vor Arp oder einem Gedicht August Stramms sich wie vor einem Bild Derains oder einem Gedicht von Rilke Zeit zur Sammlung und Stellungsnahme zu lassen. Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegenüber. …

<18> … Zerstreuung und Sammlung stehen in einem Gegensatz, der folgende Formulierung erlaubt: Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses Werk ein, wie die Legende es von einem chinesischen Maler beim Anblick seines vollendeten Bildes erzählt. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich; sie umspielt es mit ihrem Wellenschlag, sie umfängt es in ihrer Flut. …

<19> … Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik konvergieren in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg. Der Krieg und nur der Krieg macht es möglich, Massenbewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsverhältnisse ein Ziel zu geben. …

 

3. Zusammenfassung

Walter Benjamin schreibt diese Gedanken Mitte der 30er-Jahre im französischen Exil. Der Siegeszug des Faschismus in seiner Epoche hat die ihm bekannte Welt hinweggerissen. Walter Benjamin versucht, aus seiner Kenntnis der Kunstgeschichte wieder Ankerpunkte für neue Deutungsmuster zu finden.

Die Zerstörung der Aura durch eine inszenierte Reproduzierbarkeit scheint ihm der Kern des Geschehens zu sein. Das, was Benjamin Aura nennt, ist der Kern des Religiösen und er spricht auch von Messe und der Kraft der Magie. Gut wie er Tradition und Aura in Beziehung setzt. Sein Vergleich des Chirurgen und des Magiers, hier der praktische Arzt, beschreibt gut, warum in der Corona-Krise Virologen an der Spitze des politischen Deutungsgeschehens stehen können und warum die Zahlen zur Krise nicht aus dem ärztlichen Arbeitsalltag stammen, sondern aus mathematischen Modellen. Die gesellschaftliche Veränderung, der Verlust der Aura und die Ästhetisierung der Politik, das sind für Benjamin Anzeichen für einen (kommenden) Krieg.

Walter Benjamin selbst hat aus der Krise seiner Zeit keinen Ausweg gefunden, seine Deutungsmuster aber sind ein gutes Erbe, das uns helfen kann, die Corona-Krise besser zu verstehen und den Charakter der  Epochengrenze zu erkennen.

 

 

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© Dr. Uwe Eissing