Gansers Jünger

Gansers Jünger

Lange bevor Corona-Leugner durch die Strassen zogen, säte Daniele Ganser Zweifel an den «Mainstream-Medien» und fand damit nicht nur unter klassischen Verschwörungstheoretikern Anklang. Eine Reise durch das Universum seiner Fans im Jahr der Pandemie.

Ruth Fulterer, Text; Cornelia Gann, Illustrationen 119 Kommentare
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Im vergangenen Frühling waren sie plötzlich überall, füllten Plätze und Strassen, sprachen von Bevormundung, Lügen und unterdrückten Bürgerrechten: die «Zweifler», die ihre eigenen Erklärungen für die Pandemie finden und sich auf alternativen Kanälen informieren. Es erstaunte, wie zahlreich sie waren. Wie unterschiedlich. Und wie schlagkräftig. Zeitweise kaperten sie den öffentlichen Diskurs.

Die Anti-Corona-Bewegung konnte so schnell so laut werden, weil sie im Kern nicht neu ist. Sie wuchs nur lange Zeit im Stillen, genährt von eigenen Experten, die ihr Publikum gegen den «Mainstream» einschworen. Einer der bekanntesten unter ihnen ist Daniele Ganser, Schweizer Historiker, bekannt auch in Deutschland und Österreich. Sein Buch «Imperium USA» war nach der Veröffentlichung im April des vergangenen Jahres wochenlang das meistverkaufte Sachbuch im deutschsprachigen Raum.

Ganser war lange Zeit ein renommierter Friedensforscher. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er bekannt, als er behauptete: Die amerikanische Regierung hatte selbst mit den Attentaten vom 11. September zu tun. Seither schrieb er weitere Bücher über Ressourcenkriege und Geheimdienste. Ständiger Subtext: Die Bevölkerung wird manipuliert.

Ganser scharte so eine beachtliche Gefolgschaft um sich. Er verkauft nicht nur Bücher, sondern tourt mit Vorträgen durch Deutschland, die Schweiz und Österreich. Was bewegt jene, die ihm zuhören? Eine Reise durch das Universum der Ganser-Fans im Corona-Jahr.

1. Die Erwachten

Es ist Mitte Februar, und Menschen dürfen sich noch in Mengen drängen. Das tun sie bei den Wohlfühltagen in Luzern. Weniger bei den Ständen für Lichttherapie und Granderwasser, mehr bei Gansers Vortrag «Warum Achtsamkeit wichtig ist, wenn man Kriegslügen aufdeckt». Das Thema ist nicht gerade lebensnah, trotzdem müssen Extrastühle in den Vortragssaal der Messehallen gebracht werden. Mein Sitznachbar fragt mich, ob auch ich eine «Erwachte» sei.

Neunzig Minuten lang staunt, lacht und empört sich das Publikum mit Ganser, der einen Bogen spannt von Galileo Galilei, der verfolgt wurde, weil er die Wahrheit über die Sonne und die Erde sagte, bis zu ihm, Ganser, und der Unterdrückung seiner Forschung.

Ganser sagt: «Das Prinzip der Kriegspropaganda ist es, bei einem Menschen die Erinnerung daran auszulöschen, dass der andere zur Menschheitsfamilie gehört. 9/11 war das extremste Beispiel, aber es war immer so.»

Hinter Ganser erscheinen an der Wand Schlagzeilen der «Bild»-Zeitung: Biowaffen, Raketenbunker, der Irak.

Um sich gegen die Propagandamaschine zu wappnen, sei Training nötig: Ganser rät, den Blick weg von den Nachrichten und nach innen zu wenden. Er erklärt, was man tun kann, wenn einen Freunde wegen der eigenen Haltung kritisieren. Es sei ähnlich, wie wenn man kalt dusche: «Zuerst fühlt es sich schlecht an, aber dann wird man stärker. Man wird immun.»

Der Abend hat die Dynamik eines Rockkonzertes, die Fans können die Hits beinahe auswendig. Pointen braucht Ganser nur mehr anzudeuten. «Wikipedia, die ‹freie› Enzyklopädie.» Lachen im Saal. Alle hier wissen: Wikipedia ist einseitig, manipuliert. Beim Eintrag zu Daniele Ganser steht: «Er verbreitet Verschwörungstheorien.»

Nach dem Vortrag bildet sich vor dem Signiertisch eine Schlange. Ich versuche, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Aber wenn ich mich als Journalistin vorstelle, will keiner reden, weder trainierte Mittzwanziger noch ältere Ehepaare in Anoraks. Also verschweige ich es. Eine Frau in der Schlange raunt, neben ihr sei ein Journalist im Publikum gewesen. «Ah, woran haben Sie denn das erkannt?» – «Der hat so komisch geschaut. Und nicht mitgelacht.»

Ein paar Leute reden dann doch, auch nachdem ich erwähnt habe, dass ich Journalistin sei. Sie erzählen, dass sie Ganser schon oft auf Youtube gesehen hätten. «Tagesschau» schauten sie nicht mehr, damit die Propaganda sie nicht erreichen könne. Ein junger Mann, der sich als ehemaliger Soziologiestudent vorstellt, gibt mir seine Kontaktdaten und verspricht, am Telefon mehr zu erzählen. Sie alle eint: Sie glauben Ganser und seinen Thesen, obwohl kaum ein seriöser Wissenschafter diese teilt.

Oft drehen sich Verschwörungserzählungen um einschneidende Ereignisse: der Mord an John F. Kennedy, die Mondlandung, der 11. September. Die Welt wird kollektiv erschüttert, und innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen kann man etwas beobachten, was sich meist abseits der Aufmerksamkeit weiterentwickelt: Weltgeschichte.

Und dann soll da, hinter dieser einschneidenden Veränderung, einfach eine banale Ursache stehen? Ein Verrückter, Glück, ein paar Terroristen? Gar der Zufall? Kann das wirklich sein?

Wenige Wochen nach dem Vortrag von Ganser ruft die WHO die Pandemie aus. Es ist die Geburtsstunde einer ganzen Familie neuer Verschwörungstheorien. Auch viele von Gansers Jüngern werden ihnen glauben. Weil sie bei Ganser bereits eingestimmt wurden.

2. Der Anti-Amerikaner

Julian, der wie alle, die einverstanden waren, mit mir zu reden, in Wirklichkeit anders heisst, ist ein Arzt Anfang dreissig und der Freund eines Freundes von mir. Er kommt aus Deutschland und arbeitet in einem Krankenhaus in der Schweiz. Von den Fans, die ich treffen werde, ist er der einzige, der Ganser nicht nur von Youtube-Videos kennt, sondern seine Bücher tatsächlich gelesen hat. «Imperium USA», Gansers jüngstes Buch, hat Julian gleich bestellt, als es erschienen ist.

«Imperium USA» ist eingängig geschrieben. Aber auch einseitig: Es zeichnet ein Bild von den USA als Unrechtsstaat, der von Anfang an nur ausbeutete: die Indigenen, Südamerika, den Nahen Osten.

Vieles ist interessant, vieles ist belegt. Julian lobt immer wieder die Quellenarbeit. Das tun viele von Gansers Fans, weil seine Bücher und Vortragsfolien voller Fussnoten sind.

Leider wird gerade dort, wo der Inhalt misstrauisch stimmt, die Quellenlage dürftig. Zum Beispiel schreibt Ganser, die Regierung der USA sei über die Pearl-Harbor-Anschläge bereits im Vorfeld informiert gewesen, habe die dort stationierten Soldaten aber geopfert, um die amerikanische Bevölkerung gegen Japan aufzuhetzen.

Es ist eine bekannte Verschwörungstheorie. In Gansers Buch kommt sie scheinbar fundiert daher. Schliesslich behauptet er das nicht selber. Er stützt sich auf Quellen, ein, zwei Bücher. Er verschweigt, dass die meisten Historiker davon ausgehen, dass es sich für die Regierung nicht ausgezahlt hätte, einen so grossen Teil der Streitkräfte zu opfern, zumal die Mehrheit im Kongress sowieso hinter dem Präsidenten gestanden habe.

Oft folgt nach einer minuziösen Beschreibung seiner Variante eines historischen Ereignisses eine Relativierung à la «So könnte es auch gewesen sein». Julian findet Gansers Schreibstil wissenschaftlich. Auch zu 9/11 zeige Ganser nur die verschiedenen Theorien auf, sagt Julian, von «make it happen» bis «let it happen». Ganser stelle nur Fragen.

«Aber denkst du wirklich, dass es möglich wäre, dass so viele Leute zusammenarbeiten und Tausende Landsleute umbringen als Vorwand für einen Krieg?», frage ich.

«Ich traue es den Amis schon zu», sagt Julian. Amerikaner, das seien die, die nach einem Flug aufstünden, während das Flugzeug noch rolle, und in Südafrika respektlos mit schwarzen Kellnern umgingen. Julian findet sie schamlos. «Kann sein, dass mir Ganser deshalb gefällt», sagt er.

Ein Vortrag über Erdöl und Kriege hat ihn auf Ganser gebracht. Dieser habe eine ganz neue Perspektive auf die Weltgeschichte geboten, eine Alternative zur Erzählung, dass der Westen prinzipiell gut sei und die anderen böse. Gansers Buch «Illegale Kriege» las er mit Begeisterung. «Ganser ordnet die Dinge ein, zu denen die ‹Tagesschau› nur eine Momentaufnahme bietet. In der Schule hatte ich beim Nationalsozialismus das Gefühl, richtig verstanden zu haben, was da gesellschaftlich passiert ist. Aber wenn es um Iran geht oder um Ghadhafi, dann fehlte mir jeder Kontext.»

Als ich nachfrage, was ihn im Unterricht bei Ghadhafi und Iran gestört habe, weiss er es auch nicht mehr. Könnte er sich erinnern, hätte ich wohl wenig dagegenzuhalten. Dazu fehlt mir das Detailwissen.

Das Gespräch mit Julian gibt mir das Gefühl, dass er zuhören würde, wenn ich genug wüsste. Er hängt nicht an Ganser und ist durchaus bereit, sich kritischer mit ihm zu befassen.

Bisher hat er keinen Grund dafür gesehen. Auch nicht in dessen Umgang mit dem Coronavirus.

Dieses hat sich inzwischen in Europa ausgebreitet, mit ihm Eindämmungsmassnahmen und mit denen wiederum Verschwörungstheorien: Das Virus sei gar nicht gefährlich. Die Regierungen benutzten es, um die Bürger einzusperren. Aber Julian hat keine Zweifel an Existenz oder Gefährlichkeit des Virus, dafür landeten genug Opfer auf seinem Seziertisch im Krankenhaus.

Julian sagt: «Meines Wissens hat sich Ganser zum Virus nicht festgelegt.»

Tatsächlich sagte Ganser, als alternative Medien ihn im Frühling zum Coronavirus befragten, als Historiker wolle er sich erst einmal zurückhalten. Und warnte im nächsten Satz davor, abweichende Meinungen zu «diffamieren». Sophie Scholl, Luther und Galilei hätten auch keine Mehrheiten hinter sich gehabt.

3. Der Altlinke

Anton nennt sich einen «Internationalisten». Ich treffe ihn im August im Gastgarten eines Cafés in Bozen in Südtirol. Er ist ein zierlicher Mann mit buschigen Augenbrauen, ein pensionierter Lehrer – und er findet Ganser gut.

Er kennt Ganser von den Portalen alternativer Medien, die er regelmässig konsultiert, und von Gansers Videos.

Anton erzählt, schon in den 1970er Jahren habe er gegen die Kriege der USA demonstriert. Recht schnell folgt in seiner Argumentationskette auf die Lügen über Massenvernichtungswaffen im Irak die Mutmassung, Russland habe nichts mit dem Giftanschlag auf den Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter zu tun. «Das waren nur Vorwürfe, und es ist ja nichts herausgekommen», sagt Anton. In solchen Dingen traut er den «Standardmedien» nicht. Die NZZ sei da zum Beispiel «rein imperialistisch».

Mit Bekannten spricht er nicht so oft über diese Themen. Auch online interagiert er nicht. Aber er schaut Videos und liest viel. Was ihm interessant scheint, speichert er in einem eigenen Ordner ab.

Er schickt mir nach meinem Gespräch immer wieder Artikel aus alternativen Medien und Blogs. Als Alexei Nawalny vergiftet wird, erhalte ich von ihm per Whatsapp Links zu Artikeln, die behaupten, dass vor allem der Westen von Nawalnys Vergiftung profitieren würde. Man könne nicht wissen, was genau geschehen sei.

Über Nervengift wüssten auch westliche Geheimdienste Bescheid, da sei es «auffällig», dass alle Putin beschuldigten. Anton schreibt: «Ohne klare Beweise sind Mutmassungen günstig für den Wahlkampf – reiner Opportunismus, um der eigenen Seite einen Persilschein zu besorgen für die ‹deep questions›!»

Enttäuschte «Altlinke» wie Anton sind ein wichtiger Teil von Gansers Fan-Basis. Psychologen sagen, dass enttäuschtes politisches Engagement für Verschwörungstheorien empfänglicher machen könne: Wenn sich trotz so viel Einsatz nichts ändert, dann muss doch «etwas faul sein».

Die Corona-Pandemie nimmt Anton ernst. Umständlich entschuldigt er sich dafür, dass er seine Maske vergessen hat, obwohl wir draussen sitzen. Trotzdem klagt er die Berichterstattung über die Anti-Corona-Demos an. Er sagt, die Medien hätten zum Beispiel die Demonstration in Berlin kleingeredet und die Teilnehmer auf Nazis und «Covidioten» reduziert. Obwohl er selbst nicht auf so eine Kundgebung gehen würde, fühlt er sich den Demonstranten verbunden. Er teilt mit ihnen Informationsquellen, Werte, Helden.

Auch Ganser ist dabei, als in Berlin am 1. August Esoteriker mit Reichsflaggenschwenkern marschierten, mit Plakaten, auf denen «Niemand hat das Recht zu gehorchen» stand und «Wir sind die zweite Welle».

Demonstranten umringen ihn und machen Selfies, als sie ihn entdecken. Ein Fan filmt die Szene und veröffentlicht das Video auf Youtube.

Illustration Cornelia Gann

4. Der Einzelkämpfer

Jener junge Mann, der mir nach dem Vortrag seine Kontaktdaten gab, nennen wir ihn Ben, arbeitet als Sozialarbeiter an einer Schweizer Schule. Er trägt einen etwas zotteligen Bart, Ohrring und streut gern Zitate ins Gespräch ein, etwa von Max Weber. Beim Vortrag damals hatte er auch Mutter und Freundin dabei. Sie hingen an Bens Lippen.

Wir telefonieren nicht lange nach meinem Treffen mit Anton. Ben sagt, dass er ein Arbeiterkind und früher dick gewesen sei. In der Schule sei er gehänselt worden. Er weiss, was es heisst, wenn man nicht ganz dazugehört: «Diese Gemeinsamkeit hat mir Ganser gleich sympathisch gemacht.»

Er meint den Bruch in Gansers Karriere: jenen Moment, in dem aus einem respektablen Wissenschafter ein Ausgegrenzter wurde. Vor einigen Jahren arbeitete Ganser noch für die ETH, die Uni St. Gallen und Avenir Suisse. Die akademische Karriere scheiterte an seinen Thesen zum 11. September und der Vermischung von Fakten und verschwörerischen Inhalten.

Eine «Arena»-Sendung im Jahr 2017, zu der er als «umstrittener Publizist» eingeladen war und bei der er in einen Streit mit dem Moderator geriet, besiegelte sein Bild in der Öffentlichkeit: Vielen gilt er seitdem als Verschwörungstheoretiker.

Für Ben wurde er damals zum Helden. Zum Vorkämpfer gegen Marionettenmedien.

«Fies» und «tendenziös» sei der Beitrag gewesen. Er habe die «Arena» an jenem Abend live geschaut. «Dass man jemanden wie Ganser nicht einmal seine Thesen erörtern lässt – der hat schliesslich einen Doktortitel!»

Wissenschafter sagen, Anhänger von Verschwörungserzählungen hätten oft eine narzisstische Sehnsucht: Sie geniessen es, sich wissender als die anderen zu fühlen. Besonders.

Ben sagt, er interessiere sich nicht nur für das, was Ganser erzähle, sondern auch für den Umgang mit ihm. Dafür, wie es komme, dass Meinungen vom Diskurs ausgeschlossen würden. Ben ist überzeugt: Ganser wurde ausgeschlossen, weil er unangenehme Wahrheiten verbreitet.

Ähnlich skeptisch ist Ben gegenüber klassischen Medien beim Thema Corona.

Er informiere sich dazu viel auf Youtube, sagt er. An der Sinnhaftigkeit der Massnahmen des BAG zweifelt er. Und er versucht, andere von seinen Ansichten zu überzeugen. Viele Freunde hörten auf ihn. Zu Hause habe es aber Konflikte gegeben: Sein Vater sei Hochrisikopatient. Später schickt er mir ein Bild, das in einer Tabelle zeigt, wie viel die reichsten Milliardäre während der Corona-Krise verdient haben. Bill Gates: 16 Milliarden Dollar. «Diese Grafik spricht eine deutliche Sprache. Wer profitiert von der Situation?», schreibt Ben.

5. Die Verunsicherten

Im August 2020 sitze ich im Zug und lese weiter in «Imperium USA». Es ist mir etwas peinlich, in der Öffentlichkeit Gansers neues Buch zu lesen – hoffentlich denkt keiner, ich sei Verschwörungstheoretikerin. Prompt spricht mich das Paar, das mir gegenübersitzt, an. Die beiden tragen zwar Masken, sehen aber aus, als kämen sie direkt von einer Corona-Demo. Vor allem die Frau: Sie hat die Haare zu einer aufwendigen Mittelalterfrisur geflochten und trägt ein Stirnband mit einem geschwungenen Symbol an der Stirn. Ich sage, ich fände Gansers Buch so mittel, es sei historisch nicht ganz sauber.

Ich meine damit Stellen wie jene über die Zwischenkriegszeit. Der 14-Punkte-Friedensplan des amerikanischen Präsidenten Wilson, an den ich mich aus der Schulzeit erinnere, fehlt einfach. Ganser übergeht ihn, wohl weil er nicht ins Narrativ passt, dass die USA durch die harte Bestrafung Deutschlands Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trügen.

Die Frau mir gegenüber nickt wissend. Auch in ihrem Feld – Pflanzentherapie – gebe es immer wieder Leute, die in ihren Versprechen einen Schritt zu weit gingen und sich nicht mehr an die Fakten hielten.

Sie und ihr Begleiter zupfen immer wieder an ihren Masken, während wir sprechen. Dass ich Ganser lese, macht mich in ihren Augen zu einer Verbündeten. Sie äussern ihre Zweifel an der Pandemie. Ich erzähle von Bekannten, die erkrankt sind, von überlasteten Spitälern in Italien. Das sei doch echt. Die Antwort: In Italien seien die Krankenhäuser doch immer überlastet.

Wir wechseln das Thema. Die beiden wirken ehrlich interessiert an der Welt. Und scheinen voller Sorge zu sein. Die Frau wegen des Klimawandels, der Mann wegen des Finanzmarkts. Als sie erfahren, dass ich als Journalistin über Wirtschaftsthemen schreibe, wollen sie Auskünfte. Ich erkläre, warum ich nicht von einer kommenden Hyperinflation ausgehe. Er widerspricht mit Argument-Bruchstücken, die ich später im Netz wiederfinde. Sie stammen von Männern, die den nächsten Finanz-Crash prophezeien, wie dem Autor Marc Friedrich oder dem Spieltheorie-Professor Christian Rieck.

Dann sagt die Frau: «In unsicheren Zeiten wie diesen profitiert einer wie Ganser natürlich.» Wieder so ein Moment in dieser Recherche, wo jene, die für mich absurde Dinge glauben, plötzlich sehr reflektierte Dinge sagen.

6. Der Schattenfechter

Am Ende treffe ich Ganser persönlich. Es ist Spätsommer, noch sind die Restaurants offen, und Ganser federt fröhlich ins Tibits in Basel, sein Hemd ist locker aufgeknöpft. Er macht, wie ich, ein Aufnahmegerät an. Trotzdem gibt er sich überrascht, als die Fragen kritischer werden.

Ich frage nach seinen Fans. Er sagt: «Ich erlebe mein Publikum als sehr mündig, es sind keine Fans, sondern Menschen, die selber nachdenken.»

Reichsflaggen auf der Corona-Demo? «Keine gesehen.»

Vorträge von ihm werden in Reichsbürger-Chats geteilt? «Was mit Ihren Videos passiert, können Sie nicht kontrollieren.»

«Und wenn Sie öffentlich sagen würden, dass Sie das nicht gut finden?» – «Ich bin klar gegen Gewalt und Rassismus und sage das immer wieder. Ich finde es wichtig, niemanden auszuschliessen aus der Menschheitsfamilie. Das betone ich auch immer wieder. Das ist klar genug.»

Er erzählt, wie überrascht er am Anfang über den Erfolg seiner Videos war: «Ich habe früher gedacht, Youtube sei nur für Katzenvideos da. Wie ich mich irrte. Nur dank Youtube konnte ich bekannt genug werden, um meine Arbeit ganz durch mein Publikum zu finanzieren.»

Ganser nennt sich oft einen unabhängigen Historiker. Unabhängig heisst in dem Fall, dass Ganser keine Uni oder kein Institut hat, die ihn bezahlen. Gansers Einkommen hängt von seinem Publikumserfolg ab. Und er hat keine Bedenken, diesen zu maximieren.

Indem er zum Beispiel in der deutschen Ausgabe des russischen Staatssenders Russia Today (RT Deutsch) auftritt oder als Gast in der Sendung KenFM. Die betreibt Ken Jebsen, der den Holocaust als PR-Aktion bezeichnete und heute verbreitet, dass Bill Gates, vermittelt durch die WHO, die deutsche Regierung kontrolliere.

Es ist eine Strategie der «Experten» der Gegenöffentlichkeit, gemeinsam aufzutreten und sich so Fans zuzuschieben. Ganser, eloquent und nie ohne Anzug unterwegs, immer mit Doktortitel vor dem Nachnamen, bringt einen Hauch von Elitarismus in eine Bewegung, die gegen Eliten aufbegehrt.

Ich will wissen, ob er ein schlechtes Gewissen hat ob der Verunsicherung, die er sät: «Ist es nicht fahrlässig, so zu tun, als wäre Russia Today eine ähnlich gute Quelle wie die ‹Tagesschau›?»

Ganser erzählt, wie er von SRF und «Spiegel» schlecht behandelt wurde. Er wirkt gekränkt. Die Arbeit von RT Deutsch habe er hingegen als professionell erlebt. Er sagt: «Es gibt immer verschiedene Sichtweisen. Zum Beispiel in Weissrussland: Der Westen sagt, dass Demokraten demonstrieren, die Russen glauben an westliche Koordination.»

Gansers Relativismus könnte eine Strategie sein, um sich gegen den Vorwurf zu wehren, er legitimiere fragwürdige Medien. Aber im Gespräch wirkt es so, als meinte er das alles ernst.

Am 15. Dezember lässt Daniele Ganser in einem Videointerview auf einer österreichischen unabhängigen Medienplattform das Jahr 2020 Revue passieren. Sein Fazit zur Corona-Krise: Es gibt Leute, die haben vor dem Virus Angst, und es gibt Leute, die sorgen sich um ihre demokratische Freiheit. Beide Seiten hätten recht.

Er beklagt die Internetzensur, es bereite ihm Sorgen, dass der Kanal von Ken Jebsen von Youtube gesperrt worden sei. Die Videoplattform hatte sich an der Verbreitung von Fehlinformationen zur Pandemie gestört. Jebsen hatte dort 500 000 Abonnenten. Vier Mal so viele wie Ganser.

Der hat sich im Herbst schon einmal auf der Nachrichten-App Telegram einen öffentlichen Kanal zugelegt. Dort wird man nicht so schnell gesperrt. Ganser sagt, Bürger sollten doch Zugang zum ganzen Spektrum der Meinungen haben. Dass seine Interviewerin behauptet, es würden ja schon seit Jahren Ärzte zensiert und teilweise umgebracht, vielleicht vom Staat, weil sie Naturheilmittel gegen Krebs propagierten, lässt er unkommentiert.

Zum Schluss wünscht er allen ein 2021 voller friedlicher, wertschätzender Kommunikation.

Am 15. Januar postet Daniele Ganser auf seiner Facebook-Seite einen Blog-Artikel zu einem 91-jährigen Schweizer, der fünf Tage nach der Corona-Impfung gestorben ist. «­Unstrittig ist, dass der betagte Patient nach der Verabreichung der Impfung gestorben ist», so zitiert er einen Schweizer Journalisten. Ganser spielt den Impfskeptikern in die Hände. Aber er wäre nicht Ganser, wenn er sich nicht absichern würde. Und so folgt bei ihm gleich der Satz: «Swissmedic erklärte aber, es sei ‹höchst unwahrscheinlich›, dass die Impfung zum Tod geführt habe.»

Wären Verschwörungstheoretiker Drogen, wäre Ganser das Marihuana. In jungen Jahren probieren es viele aus, die meisten hören wieder auf. Ganser-Fans, die nachher Geschichte studieren, werden ihn anzweifeln, jene, die wie mein Arzt-Freund viele andere Interessen haben, lesen ihn und legen das Thema auch wieder weg.

Manche aber bleiben hängen. Für sie ist der seriöse Ganser mit seinen «kritischen Fragen» der Einlassschein für eine Welt, in der sicher geglaubte Wahrheiten verschwinden und Prediger erklären, was «die da oben» eigentlich vorhaben. Zurück bleibt das diffuse Gefühl, dass man dem System nicht trauen kann.

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Mike Goll

Ich, deutscher Staatsbürger, abonniere die NZZ, um denen zuzuschauen, welche uns zuschauen. Der Blick von außen ist mir innen wichtig.  Also ist mir Ihr Journalismus wichtig.  Und nun das hier. Wie soll man über einen Artikel reden, ohne ihn wie einen Unfall aussehen zu lassen. Sie sind des Teufels Kind, Sie machen Fehler die sie anderen unterstellen, Sie bilden Meinungen, unterstellen, und das in einer Form, welche man so sicher nie gelehrt hat. Nach wenigen Sätzen haben Sie es zwischen den Zeilen förmlich heraus gebrüllt, dass sie Voreingenommen sind. Das setzt Sie als Journalisten ins Aus. Schon allein auf den Gedanken zu kommen, die anwesenden zu klassifizieren. Mit welchem Recht urteilen Sie über Menschen die sie nicht kennen?  Ach, ich vergaß, der "Erwachte". Ich gehe davon aus, dass sie das als "Aufhänger" für ihre "Story" gebraucht haben. Als würde man sich dort wie bei sektenähnlichen Vereinen um eine ausblutende Jungfrau scharren. Hätte am Ort jemand grünes Haar gehabt, hätten sie sicher die Welt vor dem ausufernden Einfluss auf leicht zu beeinflussende, wirre Menschen, durch die Farbe Grün zu "warnen" versucht.  Lesen Sie selbst was Sie schreiben?  Und sehen Sie, mir ging es um den "Stil" Ihres Journalismus, welcher so, enggestirnt, keiner ist. Sodann bin ich mit NZZ durch.  Wenn die Redaktion das frei gibt, und mag man es "Meinung" oder "Kommentar" nennen, sehe ich darin die Einstellung der Zeitung. Dann könnte ich auch Bild, Spiegel oder Süddeutsche lesen... 

Ingbert Jüdt

Der Einleitungssatz sagt doch schon alles: »Daniele Ganser säte Zweifel an den Mainstream-Medien«. Dass die Mainstream-Medien dies den alternativen Medien nie verziehen haben, ist Schnee von vorgestern. Aber welchen Wahrheitsanspruch vertritt, wer Zweifel fürchten muss? Nur der Gläubige fürchtet den Zweifel, für den modernen Rationalisten beginnt seit Descartes alle Wissenschaft damit. Aber nach Ansicht der Autorin soll Ganser »für die Verunsicherung, die er sät« ein schlechtes Gewissen haben. Weil die Zweifel daran, dass die »Tagesschau« eine bessere Quelle als »Russia Today« ist, niemals rational sein und auf schlechten Erfahrungen beruhen können. Ich fürchte mich nicht vor den Zweifeln, die Ganser sät. Ich fürchte mich vor einem Mainstream-Journalismus, der Zweifel zur Ketzerei erklärt.