Hunderte Menschen sind in der Schweiz auf eine Organspende angewiesen, hier das Modell eines Herzens. (Bilder: Annick Ramp / NZZ)

Hunderte Menschen sind in der Schweiz auf eine Organspende angewiesen, hier das Modell eines Herzens. (Bilder: Annick Ramp / NZZ)

Ärzte wollen Organentnahme bei Hirntoten verbieten

Herzen oder Lungen aus einem noch lebenden Körper zu schneiden – das sei ein «massiver kultureller Bruch», findet eine Gruppe von Medizinern. Sie haben einen Verein gebildet, um radikale Forderungen in die Tat umzusetzen.

Simon Hehli
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Sie haben das Leben anderer Menschen gerettet, indem sie starben: 126 Frauen und Männer in der Schweiz wurden im vergangenen Jahr nach einem Hirntod zu Organspendern. Das sind zu wenige, findet die Jeune Chambre Internationale (JCI). Die Organisation fordert deshalb in einer Volksinitiative, dass die Schweiz zur sogenannten Widerspruchslösung übergeht.

Dadurch würden alle Personen zu Organspendern, die sich nicht explizit dagegen ausgesprochen haben. Vor einigen Tagen wurde die Volksinitiative mit 113 000 beglaubigten Unterschriften eingereicht. Mitten in die Debatte über Sinn oder Unsinn dieser auch vom Ärzteverband FMH unterstützten Initiative platzt nun ein neuer Verein von Ärzten und Pflegefachleuten namens Äpol, der das Gegenteil will: ein Totalverbot von Organspenden von Hirntoten.

Den Vorstand des Vereins bilden vier Allgemeinmediziner und eine Pflegefachfrau. In einem Positionspapier führen sie die Gründe für ihre radikale Forderung auf. Im Zentrum steht eine Kritik am Konzept des Hirntods. Laut Transplantationsgesetz sind Menschen tot, wenn sämtliche Funktionen ihres Hirns unwiederbringlich ausgefallen sind. Ist der Körper jedoch dank Beatmung und künstlicher Ernährung noch lebendig, ist die Voraussetzung für eine Transplantation gegeben. Tote Herzen oder Lebern können nicht verpflanzt werden.

Das Modell einer Leber. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Das Modell einer Leber. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

«Traurige und verstörende Vorstellung»

Die Äpol-Vertreter schreiben, hirntote Organspender würden statt im Kreise ihrer Angehörigen im Operationssaal inmitten aufwendigster Technik sterben. Das sei eine traurige und für viele Menschen verstörende Vorstellung. «Menschen dürfen Menschen nicht töten, auch nicht, um anderen Menschen zu helfen. Das ist ein massiver kultureller Bruch.» Aus Sicht der Kritiker darf es kein wertvolles (Empfänger) und unwertes (Spender) Leben geben. «Jedes menschliche Leben muss unantastbar sein.» Zudem sind sie der Meinung, der natürliche Sterbeprozess werde gestört.

Marlène Sicher hat als ehemalige Pflegefachfrau auf einer Intensivstation im Berner Inselspital zahlreiche Transplantationen miterlebt. Oft waren die Spender junge Männer, die bei einem Unfall mit dem Motorrad oder auf der Baustelle irreversible Hirnschäden erlitten hatten. Ihre Erfahrungen haben sie dazu gebracht zu sagen: «Ein würdevolles Sterben hat auch seinen Wert.» Die Äpol-Vertreterin denkt insbesondere an die Angehörigen.

Viele, die – geschockt vom tragischen Ereignis – der Organentnahme zustimmten, hätten das im Nachhinein als Fehler betrachtet. «Sie fühlten sich beraubt um einen wichtigen Schritt im Trauerprozess, weil sie beim Sterben nicht dabei sein konnten. Sie verabschiedeten sich unter grosser Hektik von einer atmenden Person mit warmer Haut und bekamen Stunden später eine kalte Leiche zurück», erzählt Sicher.

Alex Frei meint, dass sich die Organentnahme als «furchtbarer Fehler» herausstellen könnte.

Alex Frei meint, dass sich die Organentnahme als «furchtbarer Fehler» herausstellen könnte.

Der Verein nimmt eine alte Kritik am Transplantationswesen auf. Der Basler Philosophieprofessor Andreas Brenner schrieb 2012 in einem NZZ-Gastbeitrag von einem «extrem reduktionistischen Menschenbild: Der Mensch ist, so die Auffassung, sein Gehirn.» Dies, obwohl die Wissenschaft gezeigt habe, dass das Rückenmark für die Konstitution der Persönlichkeit massgeblich sei.

Äpol-Vizepräsident Alex Frei sagt, die heutige Praxis von Organentnahmen am Lebensende könnte sich in Zukunft als furchtbarer Fehler erweisen. «Wir haben keinen Beweis, dass Hirntote nicht doch etwas empfinden können, dass sie nicht leiden bei der Operation, die sie tötet.» Evaluieren wird sich das wohl nie lassen, weil ein Hirntoter keine Auskunft über sein Empfinden geben kann. Aus Sicht von Frei zeigt dieser Umstand, dass sich die Transplantationsmedizin am Lebensende hier über die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin hinwegsetzt.

Was ist mit der Seele?

Der frühere Hausarzt Alois Beerli sah sich immer wieder mit der Unsicherheit seiner Patienten in Bezug auf die Organspende konfrontiert.

Der frühere Hausarzt Alois Beerli sah sich immer wieder mit der Unsicherheit seiner Patienten in Bezug auf die Organspende konfrontiert.

Im Positionspapier steht auch, dass wir nicht wüssten, ob das «Geistig-Seelische» mit dem Eintreten des Hirntodes erlösche. Äpol-Präsident Alois Beerli betont jedoch, sein Verein verfolge keine religiöse Agenda. «Es geht uns nicht um die Frage, ob und in welcher Form es ein Leben nach dem Tod gibt.» Beerlis Motivation war eine andere.

Bis zu seiner Pensionierung als Hausarzt vor wenigen Monaten hätten ihn viele Patienten gefragt, was sie in einer Patientenverfügung zum Stichwort Organspende ankreuzen sollten. «Es gibt da grosse Unsicherheiten – und es ist inakzeptabel, dass die Bevölkerung im Glauben gelassen wird, die Explantation erfolge bei Toten ohne Atmung und Herzschlag, also bei einer Leiche wie aus dem Fernsehen.»

Beerli und seine Mitstreiter hoffen nun, Gleichgesinnte für ihren Verein zu finden und damit irgendwann einen Paradigmenwechsel herbeiführen zu können – allenfalls auch mit einer Volksinitiative. Franz Immer glaubt jedoch nicht, dass dies gelingt. Der Herzchirurg vertritt als Direktor der Stiftung Swisstransplant eine gegenteilige Meinung.

«In unserer Gesellschaft herrscht ein sehr breiter Konsens darüber, dass ein Leben erloschen ist, wenn die Hirnfunktionen komplett, endgültig und nachweislich ausfallen. Entscheidend ist, ob ein Mensch mit seiner Aussenwelt in Kontakt treten kann, ob er Gespräche führen und jemanden umarmen kann – nicht ob seine Zehennägel noch wachsen, während Atmung und Kreislauf nur noch künstlich aufrechterhalten werden.»

Der gut fundierte Entscheid als Ziel

Entsprechend könne ein hirntoter Mensch seine Organe einem anderen Menschen spenden, wenn die Einwilligung vorliege. «Der Entscheid fällt in solchen Abwägungen klar für das Leben aus», sagt Immer. Er betont, dass die Chirurgen Hirntote während der rund dreistündigen Operation mit der nötigen Sorgfalt behandelten. Eine Vollnarkose stelle zudem sicher, dass der Spender keinerlei Muskelreflexe habe, die über das noch intakte Rückenmark entstehen könnten.

Die Vorwürfe der Täuschung der Bevölkerung weist der Swisstransplant-Chef klar zurück. «Wir wollen, dass die Menschen einen gut fundierten Entscheid zur Organspende treffen.» So wird auf der von Swisstransplant und dem Bund betriebenen Website «Leben ist teilen» darauf hingewiesen, dass nach dem Hirntod die künstliche Beatmung weitergeht und Medikamente den Kreislauf aufrechterhalten.

Immer sagt, wer die Befürchtungen der Äpol-Vertreter teile, könne sich einfach gegen eine Organspende aussprechen. Der Mediziner warnt auch vor den Konsequenzen, die drohten, wenn die Zahl hirntoter Spender auf null sänke. Patienten, die für ihr Überleben auf ein neues Organ angewiesen sind, wären gezwungen, ins Ausland auszuweichen. Dadurch würden auch die Anreize für den illegalen Organhandel steigen. «Beides wäre ethisch höchst bedenklich.»