Mythen über das Mittelalter

Gerne werden in der Neuzeit frühere Epochen als noch ziemlich „dumm“ hingestellt. Besonders wird das christliche Mittelalter gerne als „finster“ bezeichnet, um damit auch gleich das Christentum selbst vermeintlich besser ablehnen zu können.
Wer sich genauer mit der Geschichte beschäftigt, entdeckt aber sehr schnell, dass besonders das Hochmittelalter durch große wissenschaftliche Leistungen und Einrichtungen, durch hervorragende, bis heute in ihrer Vollkommenheit bewunderte Kunstwerke (man betrachte nur einmal die sogenannte „Heilige Kapelle“ in Paris!), durch lichtvolle caritative Werke und durch die Bemühung um eine in der Liebe Christi wurzelnde Vervollkommnung der Kultur und der Gesellschaft gekennzeichnet war, die es weit über das hinausheben, was wir heute meistens - oft dazu noch in einer überaus arroganten Weise - als „Kunst“, als ideale Gesellschaft, als Wissensideal usw. vorgesetzt bekommen!
Eine der merkwürdigen Meinungen, die bis heute immer wieder neu – auch in Schulbüchern - kritiklos tradiert wird, ist diejenige, dass die Erde damals allgemein als „Scheibe“ vorgestellt worden sei. Dies wurde besonders seit Washington Irvings Erzählung „Das Leben und die Reisen des Christoph Columbus“ (1828), dem christlichen Mittelalter und Altertum angedichtet. Immer mehr Historiker weisen aber eine solche verzerrte und einseitige Sicht auf das christliche Mittelalter zurück.
Es gibt zwar Stellen in der Bibel und bei wenigen christlichen Theologen z.B. Lactantius (250 – 320), Cyrill von Jerusalem (315 – 386) oder Johannes Chrysostomus (349 – 407) und einigen anderen, die von einer Erdscheibe sprechen, aber sie sind nicht bestimmend für das Bild von der Erde im Altertum oder im Mittelalter. Außerdem kann nicht jede poetische Umschreibung der Erde, die es ja auch heute gibt, notwendig mit dem wissenschaftlichen Weltbild einer Zeit gleichgesetzt werden.
Das wissenschaftliche Weltbild der meisten Theologen des christlichen Altertums und des Mittelalters orientiert sich an den Erkenntnissen alter Philosophen, die schon sehr früh die Kugelgestalt der Erde angenommen haben.
Schon Pythagoras (570 – 510 v.Chr.) und Parmenides (ca. 520 – ca. 460 v.Chr.) haben im 6. Jahrhundert vor Christus die Kugelgestalt der Erde vertreten. Ähnlich lehrten Platon (427 – 347 v.Chr.) und dessen Schüler Aristoteles (384 – 322 v.Chr.), der in seiner Schrift „Über den Himmel“ die Kugelgestalt verteidigte mit dem Hinweis auf den Erdschatten bei einer Mondfinsternis, auf die Sternbilder, die im Süden höher über dem Horizont stehen, oder auf Schiffe, bei denen man immer in der Ferne immer nur die Segel und erst aus der Nähe den Rumpf sehen könne usw. Da alle Körper zum Erdmittelpunkt hin angezogen werden, stellte er sich allerdings die Gestirne noch an einem festen Himmelsgewölbe befestigt vor.
Im 3. Jahrhundert vor Christus gelang es Eratosthenes von Kyrene (um 275 – 194 v.Chr.), der ein halbes Jahrhundert lang die Bibliothek in Alexandria leitete, zusammen mit Archimdes (285 – 212 v.Chr.) sogar den Umfang der Erde zu berechnen, indem er mit Hilfe von Obelisken feststellte, dass am Tag der Sommersonnwende im Gebiet des heutigen Assuan in Oberägypten mittags die Sonne praktisch senkrecht am Himmel stand, während Archimedes zur gleichen Zeit in Alexandria einen Einfallswinkel von etwas mehr als 7 Grad feststellte. Eratosthenes multiplizierte also den Abstand von Assuan nach Alexandrien mit 50, um die Länge des ganzen Erdkreises, der ja wie jeder Kreis 360 Grad beträgt, zu errechnen, und kam damit dem Erdumfang mit einem umgerechneten Wert von ca. 42.000 km und mit diesen äußerst einfachen Mitteln erstaunlich nahe.
Eratosthenes gelang es auch, die Neigung der Erdachse mit knapp 24 Grad gut zu bestimmen, allerdings hatte auch Oinopides von Chios schon im 5. Jahrhundert vor Christus 24 Grad errechnet.
Den Menschen der Antike war also die Kugelgestalt der Erde durchaus vertraut, besonders wenn sie unmittelbar selbst damit konfrontiert wurden wie auf Seefahrten oder bei Beobachtung von Mondfinsternissen und Sternbildern, oder wenn sie ein gewisses Maß an naturwissenschaftlicher Bildung besaßen.
So war auch im Mittelalter die Kugelgestalt der Erde nicht unbekannt. Plinius der Ältere hat im ersten nachchristlichen Jahrhundert in seinem Buch der Naturgeschichte, welches im Mittelalter sehr bekannt war, die Auffassung von Aristoteles übernommen. Der bekannte heilige Erzbischof und Kirchenlehrer Isidor von Sevilla (570 – 636 n.Chr.) bezeichnet die Erde in einem Begleitschreiben zu seinem Werk „De natura rerum“ direkt als „Globus“ (= Kugel). Auch der hl. Beda venerabilis, ebenfalls ein großer Kirchenlehrer und Mönch aus England, vertrat diese Ansicht.
Als im 12. Jahrhundert die Werke des Aristoteles durch Wiederentdeckung aus dem Griechischen oder in Arabischer Übersetzung wieder bekannt wurden, waren auch dessen Argumente für die Kugelgestalt der Erde vielen geläufig. Aristoteles wurde im 12. und 13. Jahrhundert von vielen sogar als die Autorität schlechthin in Fragen der Naturwissenschaft betrachtet. Der hl. Thomas von Aquin (1225 – 1274) sagt: „Der Sternenkundige beweist durch Sonnen- und Mondfinsternis, dass die Erde rund ist“ (Summa theologica I, q 1, a 1, ad 2). Und der im Mittelalter gebräuchliche Reichsapfel des Herrschers des Reiches symbolisierte die Erde. Hermann der Lahme (1013 – 1054), der Verfasser des bekannten Marienhymnus „Salve Regina“, setzte Globen in seinem Unterricht ein. Papst Silvester II. (999 – 1003) hat sogar darüber geschrieben, wie man Globen anfertigt und welchen Umfang die Erde hat.
Und die Kölner Historikerin Anna-Dorothee von den Brincken hat nachgewiesen, dass mittelalterliche Karten keine Erdscheibe, sondern didaktische Vereinfachungen der Kugel darstellen (vgl. http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltall/mittelalter-und-moderne-wie-die-erde-zur-scheibe-wurde-a-381627.html).
In der Neuzeit, besonders ab dem 19. Jahrhundert, wurde versucht, u.a. von Thomas Paine (1737–1809), Jean Antoine Letronne (1787–1848), Washington Irving (1783–1853) und Andrew Dickson White (1832–1918), die Kirche als wissenschaftsfeindlich und das kirchlich geprägte Mittelalter als primitiv und ungebildet darzustellen, das angeblich die Erde als Scheibe vorgestellt habe. Die „Scheibentheoretiker“ sind im Mittelalter Randfiguren und liegen eindeutig außerhalb des mittelalterlichen Hauptstromes der Wissenschaft. (Vgl. Reinhard Krüger, Ein Versuch über die Archäologie der Globalisierung. Die Kugelgestalt der Erde und die globale Konzeption des Erdraums im Mittelalter, Wechselwirkungen, Jahrbuch aus Lehre und Forschung der Universität Stuttgart, 2007, S. 47)!
Man darf sich das Bild von der Erde zur Zeit des Kolumbus (1451 – 1506) also nicht so dumm vorstellen, wie es von manchen gerne propagiert wurde, um die „Erleuchtung“ ihrer Zeit möglichst von der Finsternis der voraufgegangenen Epochen abzuheben.
Allerdings wurde die Größe der Erdkugel von Kolumbus unterschätzt, so dass er meinte, Indien auf dem Weg nach Westen schneller erreichen zu können als auf den herkömmlichen Wegen, und er somit glaubte, als er Amerika erreichte, schon in Indien zu sein!
Wie schon in der alten Kirche die Versuche zurückgewiesen wurden, naturwissenschaftliche Neugier mit Hilfe der Heiligen Schrift befriedigen zu wollen (die ja zu einem ganz anderen Zweck, nämlich der übernatürlichen Belehrung, verfasst wurde), wie selbstverständlich aber bereits damals mögliche naturwissenschaftliche Erkenntnis in der Kirche angenommen wurde, ohne der Verkürzung auf sie zu verfallen, zeigen Aussagen des heiligen Bischofs Ambrosius (339 – 397) von Mailand:
„Sicherlich war Moses mit der ganzen Weisheit der Ägypter vertraut; doch da er den Geist Gottes empfangen hatte, stellte er als Diener Gottes jene eitle und anmaßende Lehre der Philosophie dem höheren Wahrheitszweck nach und schrieb nur das nieder, was er für unsere (Heils-) Hoffnung förderlich hielt: nämlich dass Gott die Erde schuf; dass die Erde auf Geheiß des allmächtigen Gottes und die Wirksamkeit des Herrn Jesus die Pflanzen aus dem Boden und jegliches lebende Wesen nach seiner Art hervorbrachte. Doch darüber glaubte er nicht sprechen zu sollen, wie viel Luftraum der Erdschatten bedeckt, wenn die Sonne von uns scheidet und den Tag entführt, um die untere Hemisphäre zu beleuchten; ferner wie sich die Mondfinsternis erklärt, wenn der Mond in den Schatten dieser Welt gerät. Denn da diese Vorgänge uns nichts angehen, überging er sie als belanglos für uns.
Er schaute nämlich im Heiligen Geist, wie er nicht den Eitelkeiten der bereits verblassenden Weltweisheit, die unseren Geist mit unentwirrbaren Problemen beschäftigen und seiner Anstrengung spotten, folgen, sondern lieber das niederschreiben soll, was den Fortschritt des sittlichen Lebens beträfe“ (Kränkl, Emmeram, Worte der Heiligen, Augsburg 2011, S. 29).
Hier zeigt sich deutlich, wie offen schon seit dem Altertum in der christlichen Theologie mit wissenschaftlichen Problemen umgegangen wurde, wie aber zugleich das Interesse an der viel höheren und einzig bedeutenden Wahrheit in den Mittelpunkt gestellt wurde, die uns durch die Offenbarung des Sohnes Gottes durch den Heiligen Geist geschenkt worden ist! Auch wir sollten uns in der Bemühung um die natürliche, besonders aber um die übernatürliche Wahrheit in diesem Sinn vom Heiligen Geist führen und erleuchten lassen! Nur in dieser demütigen Gesinnung wird sich uns die ganze Wahrheit der Offenbarung Gottes und Seiner ganzen Schöpfung in ihrer tiefsten Schönheit erschließen!

Thomas Ehrenberger

 

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