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Streit um Waffenlieferungen: „Kurzsichtig und gefährlich“: Das steckt hinter Gabriels Warnung an die Ukraine
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Sigmar Gabriel (SPD, r.), Ex-Bundesaußenminister und Andreji Melnyk, ukrainischer Botschafter in Berlin.
dpa Sigmar Gabriel (SPD, r.), Ex-Bundesaußenminister und Andreji Melnyk, ukrainischer Botschafter in Berlin.
  • FOCUS-online-Reporter

Der Streit um die Ablehnung eines Besuchs von Bundespräsident Steinmeier in Kiew durch Präsident Selenskyj kommt nicht zur Ruhe. Nun kritisiert Ex-Bundesaußenminister Sigmar Gabriel Selenskyj und dessen Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, scharf. Ähnlich wie Gabriel warnte zuvor schon Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger vor "Kriegseuphorie" in Deutschland.

Lange war von ihm nichts mehr zu hören, nun hat er sich zurückgemeldet - und zwar mit einem lauten Zwischenruf mitten im Ukrainekrieg: Sigmar Gabriel, langjähriger SPD-Chef, Außen- und zuvor Wirtschaftsminister sowie Vizekanzler.

In den letzten zwei Funktionen war der inzwischen 62-Jährige an vorderster Front aktiv eingebunden in die diplomatischen Bemühungen mit Frankreich beim sogenannten „Minsker Abkommen“ mit Russland und der Ukraine. Der Vertrag von 2015 sollte nach der Annexion der Krim 2014 einen friedlichen Ausweg aus der Konfliktsituation schaffen, die am 24. Februar mit Russlands völkerrechtswidrigem Angriffskrieg eskalierte.

Ukraine-Krieg - Borodjanka
dpa Bilder aus der Hölle: Eine ältere Frau in Borodjanka geht mit ihren Hunden an einem durch einen russischen Luftangriff beschädigten Wohnhaus vorbei.
 

Die steil gefallenen Beliebtheitswerte von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seiner Regierung dürften derzeit vor allem daran liegen, dass eine Mehrheit der Deutschen die zögerliche Haltung bei der Lieferung schwerer Waffen wie Panzer an die Ukraine nicht teilt. Auch der Rückhalt, den Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) in seiner Partei und selbst bei Ampel-Koalitionären genießt, dürfte seinen Teil dazu beigetragen haben. Angesichts der grauenvollen Bilder und Hiobsbotschaften aus der Ukraine, die das Leid der Bevölkerung unterstreichen, fällt es immer schwerer, einer vorsichtigen Politik der Abwägung zuzustimmen, für die nun vor allem die SPD steht.

Gabriel: Gelingt es nicht, Russland zu stoppen, werden andere Länder in Krieg hineingezogen

Doch zum einen versucht Gabriel in seinem Gastbeitrag für den „Spiegel“ nicht, die Sozialdemokraten von Schuld bei der Fehleinschätzung von Putins revisionistischer Politik reinzuwaschen. Diesen Vorwurf müssten sich „die allermeisten von uns in der Politik gefallen lassen“, gibt er zu. Ebenso nennt er es unbestreitbar, dass den Blutzoll dafür „derzeit“ die Ukraine zahle. Weswegen auch in jedem Fall verhindert werden müsse, dass Putin diesen Krieg gewinne. Gelinge es nicht, ihn zu stoppen und Russland aufzuhalten, „werden andere Länder hinzukommen“.
Ukraine-Krieg - Präsident Selenskyj
Uncredited/Ukrainian Presidentia
 

Zum anderen warnt Gabriel jedoch eindringlich davor, „Verschwörungstheorien“ aufzusitzen, wie sie Andrij Melnyk, Selenskyjs Botschafter in Berlin, in einem Interview mit dem „Tagespiegel“ vor zwei Wochen verbreitet habe. Melnyk hatte behauptet, dass Steinmeier in seiner Zeit als Politiker „seit Jahrzehnten ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft“ habe, deren Auswirkungen bis in die heutige Regierung mit hineinwirke.

Vor allem Steinmeier sei die „treibende Kraft“ hinter der Assoziierung der Ukraine mit der EU gewesen, womit er sich nach der Annexion der Krim „gegen Russland und dessen Präsidenten und hinter die Ukraine“ gestellt habe, führt Gabriel als Gegenargument an. Zudem seien es Steinmeier als Außenminister und die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gewesen, die einen „entscheidenden Beitrag“ dazu geleistet hätten, Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen, um mit den Verträgen von Minsk „einen von beiden Seiten akzeptierten Weg heraus aus dem Krieg zu ebnen“.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron spricht auf einer Wahlkampfveranstaltung in Marseille.
Laurent Cipriani/AP/dpa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron spricht auf einer Wahlkampfveranstaltung in Marseille.

„Selenskyj will friedlichen Weg der Minsker Verträge ausschließen“

Als „eigentlichen Grund für die gezielten Angriffe“ auf Steinmeier als auch auf Merkel sowie Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und Selenskyjs Vorgänger Petro Proroschenko nennt der 62-Jährige, dass diese vier Protagonisten für das Minsker Abkommen stünden. Ein Abkommen, das den Krieg nach Russlands Annexion der Krim mit einer Art Teilautonomie der Ostukraine und Wahrung der Staatsangehörigkeit der Ukraine garantieren sollten. Und genau diesen friedlichen Weg über die Minsker Verträge, sagt Gabriel, wolle Selenskyj ausschließen: „Schließlich hat er seine Wahl auch der massiven Kritik an seinem Amtsvorgänger wegen dessen Zustimmung zu den Minsker Abkommen zu verdanken.“ Aus diesem Grund sei das, was derzeit in Deutschland als „außenpolitischer Dissens“ um die frühere Russlandpolitik wahrgenommen werde, „mindestens ein Teil des innenpolitischen Meinungskampfes in der Ukraine“.

Was die anhaltenden Vorwürfe gegen die Bundesregierung angeht, viel zu zögerlich die Ukraine mit dringend benötigten schweren Waffen wie Panzer und Haubitzen gegen Putins Armee zu unterstützen, stimmte vor kurzem auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in den Kanon seiner Regierung ein. Kuleba hatte davor gewarnt, nicht erneut wie im Ersten Weltkrieg in einem „Schlafwagen“ in einen großen europäischen Krieg hineinzufahren.

Doch auch diesen Vorwurf kontert Gabriel. „Man muss ihm an dieser Stelle entgegenhalten, dass es damals gerade der Verzicht auf eine aktive Diplomatie und das alleinige Setzen auf militärische Lösungen waren, die diesen 'Schlafwagen' angetrieben haben.“

Ex-Außenminister: „Kritik an Steinmeier kurzsichtig und gefährlich“

Gabriel wies in dem Zusammenhang auch darauf hin, dass in dieser aktuellen Auseinandersetzung in der Regel verschwiegen werde, dass die USA „mit den gleichen Argumenten wie der deutsche Bundeskanzler“ sehr bewusst abwägen würden, welche Art militärischer Unterstützung „möglich und sinnvoll ist und wo die Grenze zur eigenen aktiven Kriegsteilnahme gegen Russland überschritten wird“.

Nach Ansicht des einstigen Außenministers sei es nicht widersprüchlich, die Ukraine in ihrer Verteidigung gegen Putins völkerrechtswidrigen Angriff zu unterstützte und „zugleich über den 'Tag danach' nachzudenken“ - also für eine politische Lösung nach dem Krieg. Steinmeier für diese Haltung zu kritisieren, „ist nicht nur kurzsichtig, sondern auch gefährlich“.

Der renommierte internationale Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger.
dpa Der renommierte internationale Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger.

„Wir Deutschen neigen leider zu Extremen“: Ischinger warnt vor Kriegseuphorie

In die gleiche Richtung hat vor kurzem auch der renommierte Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger argumentiert. Der Ex-Diplomat und langjährige Chef der „Münchner Sicherheitskonferenz“ unterstrich, dass es „entscheidend darauf ankommt, dass Putin diesen Angriffskrieg nicht siegreich für sich entscheiden kann“, schrieb er in einem Gastbeitrag für den „Tagesspiegel“. Die Ukraine müsse daher „mit allen verfügbaren Mitteln so unterstützt werden, dass eine reale Chance auf den Erhalt der territorialen Integrität des Landes besteht“. Nur auf dieser Grundlage könne ein Friedensvertrag oder auch nur eine Waffenstillstandsvereinbarung für die Ukraine erzielt werden, „die nicht allzu sehr an eine Kapitulation erinnert“.

Sicherheitsexperte: „Es geht um wesentlich mehr als nur die Beendigung eines Krieges in der Ukraine“

Doch zugleich warnte Ischinger mit eindringlichen Worten davor, dass es dabei nicht zu einer Art „Kriegseuphorie“ in Deutschland kommen dürfe. „Wir Deutschen neigen leider bekanntlich zu Extremen.“ Wie Gabriel plädiert auch Ischinger daher dafür, schon jetzt für die Zeit nach dem Krieg an Elemente für eine Friedensregelung zu denken und in Verhandlungen mit einzubeziehen.
Wladimir Putin
Kay Nietfeld/dpa Russlands Präsident Wladimir Putin.
 

Ischinger denkt dabei in großen Schritten voraus. Da die westliche Politik durch Putins Angriffskrieg inzwischen „gelernt“ habe, dessen Sätze von der Wiederherstellung eines Europas vor Beginn der Nato-Osterweiterung 1997 ernst zu nehmen, sei klar, dass außer der Ukraine und Georgien „auch der Status Polens, der baltischen Staaten sowie Rumäniens und Bulgariens unmittelbar bedroht ist“, so der Sicherheitsexperte. Es ginge also um „wesentlich mehr“ als nur um die Beendigung eines Krieges in und um die Ukraine. „Es geht im Kern um die Abwehr eines Totalangriffs auf die Elemente euro-atlantischer Sicherheitsarchitektur“, die seit der Schlussakte von Helsinki habe errichtet werden können.

Ischinger: Nicht hinnehmbar, dass Putins Atomwaffen Berlin binnen Minuten vernnichten könnten

Um dieses Ziel umsetzen zu können, müsse China von seiner „US-Obsession“ befreit und überzeugt werden, wie groß die Chance wäre, sich bei einem Verzicht der Totalunterstützung Russlands als „respektierte Weltmacht“ zu etablieren, so Ischinger. Die Bindung der EU an die USA müsse zudem noch viel enger werden und sei „unverzichtbar“. Und die EU sollte sich dazu aufraffen, mehr außenpolitische Gestaltungsmacht zu übernehmen - zum Beispiel durch das Abrücken von der Einstimmigkeit in den Gremien und die Einführung von Mehrheitsentscheidungen. Was besonders wichtig bei der „massiven Förderung gemeinsamer militärischer Projekte und Fähigkeiten“ sei.

Und auch die aktuelle Bedrohungslage Deutschlands durch Russland sei Teil einer neu auszuhandelnden Friedensordnung, die durch den russischen Angriff auf die Ukraine eine völlig neue Dimension erhalten hat. „Es ist künftig nicht hinnehmbar, dass Russland nuklearfähige Kurzstreckenraketen in Kaliningrad stationieren kann, die zum Beispiel Berlin in wenigen Minuten erreichen und vernichten könnten.“

Ischinger spricht von einem „Deal“, der durch Putins Krieg „gewissermaßen“ vor uns liege: „Russischer Verzicht auf Nuklearstationierung in Kaliningrad und Belarus gegen den westlichen Verzicht auf Nuklearstationierung in den neuen Nato-Mitgliedsstaaten wie Polen oder Rumänien.“

Strategische Devise für Deals mit Russland: So viel Verteidigungskraft wie nötig, so viel Dialog wie möglich

Um diese Ziele mit Russland zu erreichen, gelte die strategische Devise: „So viel Abschreckung wie möglich und Verteidigungskraft wie nötig, und so viel Angebot zu Dialog und Zusammenarbeit wie möglich.“ Klar sei, schließt Ischinger, „dass bis auf Weiteres unser Hauptaugenmerk auf ersterem liegen muss“. Ob und inwieweit Gelegenheiten zur Kooperation sich dann böten, werde „ausschließlich von der Entwicklung in Russland abhängen“.
 
 
 
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