Aufstand der 300

Österreich im Sommer 2011. Katholische Modernität – gibt's die? Zur akuten Ungehorsamsdebatte.

Am Montag dieser Woche stand der steirische Diözesanbischof Egon Kapellari dem ORF-Moderator der ZIB 2 Rede und Antwort. Das war gewiss ein schmerzvollerAkt persönlicher Integrität. Als er gefragt wurde, was an der Ungehorsamserklärung der 300 katholischen Priester rund um den ehemaligen Präsidenten der österreichischen Caritas und Ex-Generalvikar der Erzdiözese Wien, Helmut Schüller, möglicherweise akzeptabel sei, hatte der Bischof seine liebe Not. In schlicht laienhafter Form: Zu hören war Herumgerede. Ganz anders seine Reaktion auf die gegenteilige Frage, was denn gar nicht für die Amtskirche akzeptabel sei. Plötzlich kam die Antwort rasch, ein wenig überforciert, mit einem Gesichtsausdruck, als wollte uns, dem Fernsehvolk, der Kirchenfürst bedeuten: Da hilft nichts, da müssen wir jetzt durch!

Also erstens, vollkommen inakzeptabel ist die Forderung, dass Frauen sakrale Funktionen ausüben sollten, namentlich die des Priesters. Dagegen stünden mehrere päpstliche Erklärungen. Und zweitens, inakzeptabel sei auch die Forderung nach Abschaffung des Zwangszölibats, das – ich spreche offen aus, was der Bischof durch seinen gesenkten Blick wohl mitfühlend signalisierte – die katholischen Priester dazu verdammt, ihr Sexualleben im Geheimen zu kultivieren, ob als Hetero- oder Homosexuelle, als bloße Beischläfer oder Väter unehelicher Kinder.

Bei dieser hochnotpeinlichen, aber notwendigen Befragung kam ich (wohl eine sympathisierende Reaktion) regelrecht ins Schwitzen. Wie sieht es im Inneren eines hochgebildeten, kunstsinnigen, feinfühligen Mannes aus, der aus Loyalität zu seiner Kirche, welche unaufhörlich den Gehorsam ihrer geweihten Diener einfordert, unsägliche Dinge verteidigt, die jeder einigermaßen aufgeklärten Empfindung spotten? Seine Exzellenz musste doch wissen, dass das theologische Manko, das er den Ungehorsamen vorwarf, in Wahrheit das genaue Gegenteil ist. Ein Christentum ohne Frauen als Priester und ohne Priester mit Familie – weil das eine wie das andere obrigkeitlich verdammt wird, bar Rücksicht auf irgendeinen Akt ernsthafter, individueller Gewissensbildung – ist heute eine menschenrechtliche Erbärmlichkeit; eine Zumutung für jeden, der Jesus auf zeitgemäße Weise nachleben möchte.

Und das sage nicht ich, der Kirchenferne. Das sagt, mit weniger scharfen Worten, einer der größten Religionsphilosophen unserer Zeit, der Kanadier Charles Taylor, Jahrgang 1931. Taylor ist Katholik, 2007 erhielt er den „christlichen Nobelpreis“ der Templeton Foundation (1 Million Pfund). Seine Marianist Award Lecture an der Dayton University (1996) widmete er dem Thema „Katholische Modernität“. Angesichts der dogmatischen Eiertänze unter Österreichs Kirchenoberen reibt man sich die Augen und fragt: Was ist das? Was könnte das sein?

Die ganze Schöpfung als Untertan

Taylors Antwort: „Indem die moderne Kultur mit den Strukturen und Glaubensinhalten des Christentums bricht, führt sie doch gewisse Facetten des christlichen Lebens weiter, und zwar in einer Art und Weise, wie das innerhalb der Kirche selbst unmöglich gewesen wäre. Im Vergleich mit früheren Formen der christlichen Kultur müssen wir bescheiden anerkennen, dass der Ausbruch aus dem Christentum eine notwendige Bedingung seiner Entwicklung war.“ Das klingt schon stark danach, als ob es des Ungehorsams bedürfte, um den Glauben in seiner Substanz zu erhalten und zu befördern.

Taylors Hauptbeleg sind die Menschenrechte. Denn die ihnen zukommende Eigenschaft, unbedingt und universell zu gelten, musste gegen den erbitterten Widerstand des Klerus, durch die opferreiche Trennung von Kirche und Staat erkämpft werden. Dadurch wurde das individuelle Gewissen zur obersten Richtinstanz, dessen Rationalität durch die Regeln der allgemein menschlichen Vernunft gewährleistet schien. Das provoziert natürlich die Frage: Von welchen historischen „Facetten des christlichen Lebens“ redet Taylor dann eigentlich?

Bis heute ist das Verhältnis des Vatikans zu den Menschenrechten ein sensibles, unbeschadet des Umstandes, dass sich katholische Organisationen (Caritas!) immer wieder für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen in den diversen Diktaturen der Welt einsetzen. Schon der simple Gleichheitsgrundsatz, wonach das Geschlecht einer Person unter keinen Umständen zu diskriminierenden Akten führen darf, wird für den gesamten Sakralbereich der katholischen Kirche bislang kategorisch verneint. Jesu Stellvertretung auf Erden läuft, nach dem angemaßten Willen seiner Stellvertreter, exklusiv über die männliche Linie.

Gemäß Taylor sieht sich das moderne Christentum mit einer paradox anmutenden Dialektik konfrontiert. Um die religiöse Substanz des christlichen Glaubens entfalten zu können, bedurfte es seiner Gegner. Diese Substanz verkörpert sich in zwei Glaubensgrundsätzen, die vonseiten der Amtskirche ideologisch verengt wurden. Der erste Grundsatz besagt, dass jeder Mensch (und nicht bloß jeder Bekehrte oder Getaufte) gleichermaßen ein „Abbild Gottes“ sei; der zweite Grundsatz lautet, dass Gott einfach Mensch wurde (und nicht bloß Jude oder Christ). Auch wenn es nach christlichem Glauben bloß eine einzige Heilsgeschichte gibt, umfasst diese doch die Vielfalt der menschlichen Herzen und Kulturen. Der Gott des christlichen Glaubens ist kein ausschließender Gott, sondern ein einschließender: Er ist der Gott aller Menschen. Deshalb kann auch seine Liebe nur als universal und unbedingt gedacht werden.

Ist dies erst einmal akzeptiert, dann wird der Gedanke, wonach sich die Substanz des christlichen Glaubens nicht hätte entfalten lassen, ohne die Fessel des Katholizismus zu sprengen, kaum noch schockieren. Freilich, der weltliche Humanismus seinerseits ist eine Quasireligion. Die „aufgeklärte“ Lösung Kants setzt, konsequent zu Ende gedacht, die Vernunft an die Stelle Gottes. Aber die Vorstellung menschlicher Gleichheit darf nicht daran gebunden werden, ob ein Mensch über hinreichend Vernunft verfügt, um als autonomes ethisches Subjekt zu gelten. Vor diesem Hintergrund wird ohne Weiteres plausibel, warum Taylors Charakterisierung moderner Humanität zwiespältig ausfällt: Es handle sich um eine Art „lofty humanism“, einen nicht bloß hochgemuten, sondern außerdem hochmütigen Humanismus, der deshalb ein Janusgesicht trage.

Denn auf welche Quelle der Rechtfertigung könnte sich ein solcherart freischwebender Humanismus stützen? Auf welchem Rechtsgrund ruht die Vernunft selbst? Man weiß, wenn man ehrlich ist, darauf keine bessere Antwort zu geben als eine irgendwie zirkuläre: Die tiefste Quelle unserer Humanität ist eben unsere Menschlichkeit! Das drückt sich häufig in der rhetorischen Frage aus: „Sind wir denn nicht alle Menschen?“ Worauf die Zyniker zu antworten pflegen: „Ja schon, na und?“

Auch lässt sich nicht leugnen, dass der freischwebende Humanismus problematische Einschlüsse und Folgen hat. Der Mensch, der beginnt, sich als oberste Richtinstanz, als höchster Gesetzgeber in eigenen Angelegenheiten zu inthronisieren, neigt dazu, seine Rolle im Weltganzen gottähnlich zu sehen. Die ganze Schöpfung will er sich zu Diensten machen, die Natur, die Tiere, seine Brüder und Schwestern. Er verfällt der Weltlichkeit. Und wie kommt von hier aus das Christentum wieder ins Spiel? Taylors Antwort: „Hier gibt es keine Garantie, es handelt sich um eine Sache des Glaubens. Doch klar ist, dass die christliche Spiritualität einen Ausweg weist. Unser gottesebenbildliches Sein ist auch unser Mitsein mit anderen im Strom der Liebe, die jene Facette des göttlichen Lebens repräsentiert, welche wir sehr unangemessen zu erfassen versuchen, indem wir von der Dreieinigkeit reden.“

In diesen Worten steckt die Minitheologie der „katholischen Modernität“. Die Hoffnung des christlichen Glaubens bestünde demnach darin, dass der außerhalb des amtskirchlichen Christentums erreichte Durchbruch zur Anerkennung einer unabdingbaren Menschenwürde schließlich von allen Menschen, einschließlich aller Christen, dauerhaft respektiert und anerkannt wird. Denn wenn es sich um einen Durchbruch handelt, dann um einen solchen, der in der überhistorischen, ja überzeitlichen, weil transzendenten Beziehung Gottes zu seinen Geschöpfen gründet: in dessen liebender Beziehung zum Menschen und zur Welt.

Nun, es soll hier nicht darüber gerechtet werden, ob der Glaube an die unbedingte Liebe Gottes tatsächlich geeignet ist, unsere moderne Vorstellung der Menschenrechte im Rahmen einer Gemeinschaft zu fundieren, deren Angehörige dem eigenen Gewissen verpflichtet sind und nicht irgendeiner äußeren Autorität. Eine solche Fundierung hätte derart beschaffen zu sein, dass alle Menschen, gleich welchen Bekenntnisses oder Nicht-Bekenntnisses, es mit der Stimme ihrer Vernunft und ihres Herzens vereinbaren könnten, an einen „Gott aller Menschen“ zu glauben – eine vermutlich utopische Bedingung...

Ich empfehle: Weg vom Vatikan!

Unabhängig davon zeigt die durch Schüllers Ungehorsamserklärung ausgelöste Beschwichtigungsdiplomatie klerikaler Kreise (samt der darin versteckten Drohungen), über welche Sprengkraft eine Theologie katholischer Modernität verfügt. Richtig verstanden liefert sie der aktuellen kirchenkritischen Bewegung eine moralisch profunde, historisch belehrte und intellektuell verantwortbare Rechtfertigung. Sollte es eines Tages,statt bloßen Glaubensmodernismus, so etwas wie katholische Modernität tatsächlich geben, wäre dies nur möglich, weil sich jene Humanitätspotenziale der Kirche, die sie als christliche besitzt, außerhalb ihrer eigenen Vorsteherdogmatik entfalten: Weg vom päpstlichen Absolutismus! Weg vom Vatikan!

Das wäre zugleich der einzige Weg hin zum wahren Christentum. Was freilich Charles Taylor, der eminente Katholik, unterstellt – dass nämlich der Prozess des christlichen Exils im glaubenslosen Humanismus bereits abgeschlossen sei –, wirkt angesichts der aktuellen Lage innerhalb des Katholizismus unangenehm beschwichtigend. Solange es den Frauen verwehrt bleibt, in alle sakralen Positionen gleichberechtigt einzurücken, und solange die Obrigkeit darauf beharrt, dass das Priesteramt mit Beischlaf und Ehe unvereinbar sei, bleibt jenen, die dem Christentum und nicht dem Papst treu bleiben wollen, nur übrig, sich von der Kirche wegzubewegen.

Gewiss, die Gegenseite nennt das Anstiftung zur „Kirchenspaltung“. Die liberalen Kräfte nennen es „Entfaltung des Glaubens durch eine Gemeindepraxis, die den Heiligen Geist verkörpert, statt seine Präsenz obrigkeitskirchlich abzubinden“. Institutionell kommt es auf das Gleiche hinaus: Unter der absoluten Autorität des Papstes wird es keine katholische Modernität geben, und der katholische Modernismus innerhalb der Kirchendisziplin wird bleiben, was er seit Jahrzehnten war und ist – ein Debattierklub ohne ernst zu nehmende Folgen.

Wenn es in Österreich je eine Bewegung gegeben hat, die, aus glaubensinternen Gründen von der Kirche wegstrebend, im Namen des Christentums recht hatte, dann ist es der noch zögerliche Aufstand der 300. Man darf gespannt sein, ob sie sich ein Herz nehmen und, unter den staunenden Augen der Weltkirche, den richtigen Schritt tun werden, um zu verwirklichen, was einzig den Namen „katholische Modernität“ verdient. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2011)

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