Flüchtling zeigt Kamerateams eine Tränengaskartusche
Reuters/Huseyin Aldemir
Flüchtlingsstreit

Politik mit der Macht der Bilder

Die Fotos von der Eskalation an der griechisch-türkischen Grenze erinnern unweigerlich an jene der Flüchtlingskrise von 2015. Auch wenn die Situationen nicht vergleichbar sind: Damals wie heute ist es auch ein Streit, der mit emotionalisierenden Bildern ausgetragen wird – in Medien, in Sozialen Netzwerken und auch von den Konfliktparteien Türkei und Griechenland selbst. Die Einordnung der Bilder ist oft schwierig, die Grenzen zur Propaganda verschwimmen.

Am Mittwoch wurde – wie bereits am Montag – aus türkischen Kreisen vermeldet, die griechische Polizei habe einen Geflüchteten erschossen. Es kursierten Videos, die sowohl den Todesfall von Mittwoch, wie bereits mindestens einen zuvor, zeigen sollten. Doch in beiden Fällen war unklar, was tatsächlich zu sehen ist – und in beiden Fällen war auch unklar, von wann und wo die Aufnahmen stammen. Die griechische Regierung dementierte jeweils – und sprach von „Fake News“ und „Propaganda“.

Umgekehrt sind aber auch die griechischen Informationen mit Vorsicht zu genießen: Beim ersten tatsächlich bestätigten Todesfall seit der Eskalation, einem ertrunkenen Kleinkind vor der Insel Lesbos, berichteten griechische Medien unter Berufung auf die Küstenwache, die Menschen an Bord hätten ihr Schlauchboot durchlöchert, um als Schiffbrüchige gerettet zu werden. Beweise dafür blieben aus.

Offenbar von türkischer Seite wurde hingegen ein Video in Umlauf gebracht, auf dem zu sehen ist, wie ein Patrouillenboot der griechischen Küstenwache scharf auf ein Schlauchboot mit Geflüchteten zufährt. Später ist zu sehen, wie Besatzungsmitglieder der Küstenwache mit Stangen auf das Schlauchboot stochern. Das Video soll bei Bodrum aufgenommen worden sein, auch hier ist das Datum nicht zweifelsfrei zu eruieren.

Flüchtlinge in der Türkei tragen einen Verletzten Richtung griechische Grenze
Reuters/Huseyin Aldemir
Zumindest Verletzte hat es an der Grenze gegeben

Verzerrende und falsche Zahlen

Auch mit Zahlen wird versucht, politische Wirkung zu erzielen: Griechische Behörden sprachen von 24.200 versuchten illegalen Grenzübertritte zwischen Samstag und Montag, ohne zu sagen, was als illegaler Versuch gewertet wird. Es wurde auch nicht erwähnt, dass das nicht bedeutet, dass 24.200 Einzelpersonen den Grenzübertritt versuchten, sondern dass viele Personen wohl bei mehreren Versuchen, also etwa Annäherungen an die Grenze, gezählt wurden.

Ähnlich operierte die türkische Politik: Innenminister Süleyman Soylu schrieb am Sonntag auf Twitter, bis zum frühen Abend hätten mehr als 100.000 Menschen von der türkischen Provinz Edirne aus die Grenze zur EU passiert. Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Dienstag, „Hunderttausende“ Flüchtlinge hätten sich seit der Grenzöffnung auf den Weg Richtung Europa gemacht, „bald werden es Millionen sein“.

Politische Agenda klar

Die Angaben sind bei Weitem überzogen – und auf beiden Seiten ist die Intention klar: Erdogan versucht Druck auf die EU auszuüben. Die versprochenen Milliarden aus dem Flüchtlingspakt mit der EU sind nicht vollständig ausgezahlt – und wurden tatsächlich nur für Flüchtlingsprojekte verwendet. Der türkische Präsident braucht allerdings dringend Mittel: Abgesehen von der alles andere als rosigen wirtschaftlichen Lage im Land kostet die Militäroperation in Syrien viel Geld. Und für diese will er Unterstützung durch EU und NATO durchsetzen – mit den Flüchtlingen als Faustpfand.

Griechenland fühlt sich – zu Recht, wie die meisten Experten meinen – seit Jahren von der EU mit der Flüchtlingsproblematik allein gelassen. Die Regierung in Athen sprach von einer „Invasion“ und forderte die „starke Unterstützung“ Brüssels. Nach dem Besuch der EU-Spitzen am Dienstag gab es Zusagen über 700 Millionen Euro zur Abwendung einer neuen Flüchtlingskrise.

Unübersichtliche Lage

Wie die Lage an der Grenze tatsächlich einzuschätzen ist, variiert von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde, und das, obwohl das Geschehene vor den Toren Europas stattfindet. Unabhängige Beobachter sprachen zunächst von 13.000 und mittlerweile von rund 20.000 Menschen, die sich im oder in der Nähe des türkischen Grenzgebiet aufhalten. An der Grenze selbst waren vor einigen Tagen geschätzte 2.000 Menschen, zuletzt versuchten kleinere Gruppen ein Durchkommen.

Fest steht, dass es sich dabei nur zu einem Teil um Syrerinnen und Syrer handelt. In der Türkei sind auch Tausende Menschen aus anderen Nationen gestrandet: aus Afghanistan, Pakistan, dem Iran, aus Nordafrika wie auch aus Äthiopien, Somalia und Eritrea. Und unter ihnen befinden sich Familien mit Kindern genauso wie junge Männer, die alleine versuchen, nach Europa zu gelangen.

Junge Männer vs. Familien mit Kindern

Genau diese beiden unterschiedlichen Gruppen sind es auch, die von der Politik, in den Medien und vor allem in den Sozialen Netzwerken immer wieder gegenübergestellt werden. All jene, die die „Festung Europa“ und geschlossene Grenzen ohne Wenn und Aber propagieren, rücken auch bildlich die jungen Männer in den Fokus – natürlich vor allem jene, die gewaltsam die Grenze überschreiten wollen oder sich Scharmützel mit Grenzschützern liefern. Gerade auf Facebook und gerade bei Hetzpostings wird dabei noch dazu häufig auf Bilder und Videos zurückgegriffen, die nicht authentisch sind, weil sie etwa aus der Massenfluchtbewegung von 2015 stammen.

Griechische Polizei setzt an der Grenze zur Türkei Tränengas gegen Flüchtlinge ein
APA/AFP/Bulent Kilic
Die eine Seite der Flüchtlingssituation an der Grenze …

Umgekehrt werden Bilder von Familien und kleinen Kindern gerne dort verwendet, wo beklagt wird, dass Europa an der griechisch-türkischen Grenze seine Grundwerte über Bord wirft und verrät. Die EU habe die humanitäre und auch rechtlich fixierte Pflicht, Menschen in Not zu helfen, wird argumentiert. Ein einziges, isoliert betrachtetes Bild kann logischerweise nie die Komplexität der Situation illustrieren.

Flüchtlingsfamilie mit Pferdewagen
AP/Emrah Gurel
… und die andere Seite

Lesbos als Symbol

Unbestritten dramatisch ist die Lage auf den griechischen Inseln, insbesondere auf Lesbos – und das nicht erst seit der Eskalation der Lage an der Grenze. Seit Monaten schlagen Helfer, NGOs und auch Inselbevölkerung Alarm – ohne merkliche Reaktion. Im Oktober 2015 wurde das Lager Moria als Erstes der von der EU beschlossenen Registrierzentren für Flüchtlinge unter anderen vom damaligen EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos eingeweiht. Für 3.000 Menschen war es ausgelegt, mittlerweile sind dort 19.000 bis 20.000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen. Mindestens ein Drittel der Gestrandeten sind nach übereinstimmenden Berichten Kinder.

Kritiker sehen Moria als Symbol dafür, wie die EU Griechenland mit seiner Flüchtlingsproblematik jahrelang in Stich gelassen hat. Genauso hat aber auch die griechische Regierung wenig bis nichts getan, um die Lage zu entschärfen. In den vergangenen Wochen kam es zu Zusammenstößen zwischen Inselbewohnern und Geflüchteten. Nach übereinstimmenden Berichten sorgten angereiste Neonazis, etwa der rechtsextremen Partei Goldene Morgenröte, für eine weitere Eskalation auf der Insel. Bilder der Lage in Lesbos gibt es seit Jahren genug – aus allen unterschiedlichen Perspektiven. Geändert hat das bisher aber wenig. Die Macht der Bilder mag also Emotionen schüren, für politisches Handeln sorgt sie nicht unbedingt.