Donnerstag, 28. März 2024

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Ijad Madisch von ResearchGate
Wie das Coronavirus die Wissenschaftswelt dynamisiert

Die Wissenschaft hat sich im Zuge der Forschung zur Lungenkrankheit COVID-19 rasant verändert, konstatiert Ijad Madisch, Virologe und Gründer von ResearchGate, im Dlf. Hauptziel sei es, Informationen "so kurz und knackig und so schnell wie möglich in die Wissenschaftswelt tragen" - ohne Qualitätsverlust.

Ijad Madisch im Gespräch mit Uli Blumenthal | 12.05.2020
Ijad Madisch vom Wissenschaftsportal ResearchGate bei der Konferenz Digital Life Design in Berlin
Ijad Madisch vom Wissenschaftsportal ResearchGate (picture alliance / Jan Haas)
Permanent gibt es neue Meldungen zur Ansteckungsgefahr durch das neue Coronavirus, Berichte über Studien zur Behandlung mit bekannten Wirkstoffen und neue Therapieansätze bei COVID-19. Eine der größten kommerziellen Plattformen für Publikationen im Internet ist mit 17 Millionen Wissenschaftlern das Portal ResearchGate. Ijad Madisch, Virologe und CEO des Wissenschaftlernetzwerkes, zu seinen Beobachtungen bei ResearchGate machen, was die Zahl und die Geschwindigkeit der Publikationen zu SARS-CoV-2 anbetrifft.
Uli Blumenthal: Welche Beobachtungen machen Sie bei ResearchGate, was die Publikation über das neue Coronavirus anbetreffen?
Ijad Madisch: Das Interessante, was wir sehen, ist, dass die Anzahl der Publikationen, die Formate der Publikationen sich rasant verändern. Wir haben tausende von Publikationen, die hochgeladen werden, die noch nicht bei einem Journal publiziert worden sind. Das heißt, die nennt man in der Wissenschaftswelt Preprints, die sind in der Anzahl signifikant gestiegen bei uns im System. das ist sehr interessant zu sehen, wie bestimmte Weisen, wie vorher Wissenschaft betrieben worden sind, jetzt auf den Kopf gestellt werden durch die aktuelle Krise.
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Kürzere Artikel, mehr Abbildungen
Blumenthal: Können Sie so ein Beispiel nennen? Sie haben ja schon gesagt, es gibt Veränderungen in den Formaten. Können Sie uns das ein bisschen näher beschreiben?
Madisch: Ja, was ganz spannend zu sehen ist, dass die Länge der Artikel kürzer geworden ist und dass auch mehr Abbildungen verwendet werden. Das Spannende an den Artikeln ist auf jeden Fall, dass die Wissenschaftler extrem gewillt sind, es zu teilen, öffentlich zu teilen. Das ist etwas, was wirklich sehr, sehr spannend ist. Wir haben gerade jetzt in dem COVID-19-Bereich um die 15.000 Autoren auf ResearchGate, die mal etwas in diesem Bereich publiziert haben, und von denen sind noch mal knapp eine halbe Millionen ihrer Co-Autoren auf ResearchGate. Das heißt also, da ist ein sehr großes Netzwerk da, und da wissen die Menschen, okay, in dem Bereich möchte ich die Information so kurz und knackig und so schnell wie möglich in die Wissenschaftswelt tragen.
Eine neue Art von Diskussion und Feedback
Blumenthal: Die Nutzer können bei ResearchGate ihre Ergebnisse früher oder ihre Studien früher hochladen, müssen nicht warten, bis sie in normalen Journalen publizieren können. Geschwindigkeit ist wahrscheinlich viel wichtiger geworden, aber das Problem ist dann nicht die Quantität, sondern die Qualität. Hat die Qualität verloren bei dieser Geschwindigkeit?
Madisch: Ja und nein, würde ich jetzt erst mal antworten. Wenn man nicht ein Kontrollsystem hat oder, Schrägstrich, ein System hat von Wissenschaftlern, in denen die Transparenz ein sehr wichtiger Faktor ist, dann verliert natürlich die Qualität. Jetzt im Falle von ResearchGate ist es ja ein geschlossenes Netzwerk für Wissenschaftler. Die Inhalte sind aber alle frei zugänglich und auch von Leuten, die nicht Teil des Netzwerkes sind, aber die Wissenschaftler sind in ihrem sicheren Umkreis hier. Das heißt also, sie sind hier in einer sicheren Umgebung von Wissenschaftlern und können offen über ihre Ergebnisse reden. Das hat noch mal eine ganz andere Qualität auch in der Art und Weise, wie diese Konversationen geführt werden können in diesem System. Deswegen glaube ich, dass die Qualität sogar eher hochgehen wird in den nächsten Jahren.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Aktuell bin ich der Meinung, dass die Wissenschaftler sich noch ein bisschen selber an dieses Medium gewöhnen müssen oder sagen wir mal eher: an diese Art und Weise zu publizieren, weil das, wie gesagt, in der vorigen Welt nicht Ganz und Gäbe war. Deswegen müssen die Wissenschaftler jetzt sich damit erst auch ein bisschen zurechtfinden, wie muss ein Artikel aussehen, wann lade ich den hoch, wie gehe ich mit Feedback um, wie arbeite ich das Feedback wieder ein und so weiter. Das heißt also, ich sehe da einen sehr großen Vorteil in der Zukunft.
Informationsflut: Wir brauchen die Unterstützung von Maschinen
Blumenthal: Aber bei dieser Flut an Daten und Studien, die jetzt auch bei ResearchGate hochgeladen werden, ist es da überhaupt noch möglich, den Überblick zu behalten und tatsächlich relevante Informationen herauszufiltern? Also kann es sein, dass man den Baum vor lauter Wald nicht sieht?
Madisch: Das ist ein sehr, sehr guter Punkt. Was spannend ist, ist, dass Wissenschaft, so, wie Sie es jetzt beschreiben, schon längst ist. Wir sind genau schon an diesem Punkt. Wir sind an dem Punkt in dieser Welt, dass Wissenschaft so komplex und so reichhaltig geworden ist, dass ein normaler Mensch eigentlich gar nicht mehr richtig Forschung machen kann. Das ist meine persönliche Sicht. Wir brauchen die Unterstützung von Maschinen. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: In den ersten fünf Jahren von ResearchGate wurden zwei Millionen Veröffentlichungen und Datensets hochgeladen in unser System von unserer gesamten Nutzerbasis. Jetzt werden alle drei Wochen 2,5 Millionen hochgeladen.
Aus diesem Grund müssen wir jetzt nicht nur die Art des Publizierens ändern, sondern wir müssen jetzt auch anfangen, automatisiert den Menschen an der Seite zu stehen. Da hilft jetzt auch ResearchGate, und auch in der Zukunft will ich da sehr, sehr stark mit ResearchGate in diesen Bereich reingehen. Ich nenne das Automatic Science, automatische Wissenschaft. Wie können wir Informationen aus vorhandenen Informationen kreieren und neues Wissen dadurch gewinnen und das dann wiederum mit den Menschen teilen.
Wir sehen jetzt zum Beispiel, wieder zurück zum Beispiel COVID, dass wir auch mit unseren Algorithmen versuchen, die Daten zu aggregieren, in die richtigen Bereich zu bringen, und wir haben natürlich auch Moderatoren und Key Contributor, die innerhalb des Systems dann regelmäßig Feedback geben und auch helfen, diese Informationen mit den Maschinen – in Anführungsstrichen – dann auch zu sortieren.
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Eine völlig neue Wissenschaftswelt
Blumenthal: Wie gehen Sie bei ResearchGate dann aber mit umstrittenen Artikeln auf Ihrer Plattform um? Also es gibt ja fast wirklich jeden Tag Dutzende Studien, die ins Netz gestellt werden, und viele erfüllen dann auch sozusagen die Standards nicht, die Sie beschrieben haben. Was passiert dann bei Ihnen?
Madisch: Die Community, also die Wissenschaftler innerhalb von ResearchGate kümmern sich da selbst drum. Das ist das Spannende eigentlich, wenn man ein geschlossenes Netzwerk hat von Wissenschaftlern, die alle im Durchschnitt eine ähnliche Ausbildung haben, Schrägstrich, hatten und Konversationen auf einem ähnlichen Niveau wenigstens führen können. Wir bei ResearchGate haben auch klare Linien, wenn es Hate Speech ist, wenn es Verschwörungstheorien sind, all diese Dinge, die können wir natürlich …, da haben wir in unseren Terms and Conditions klare Regeln, wie wir mit solchen Inhalten umzugehen haben. Aber wenn es natürlich Studien sind, die, sagen wir mal, nicht ganz sauber ausgeführt sind und durchgeführt sind, dann wird das natürlich auch dort thematisiert.
Das Spannende ist, in der alten Welt, also in der Vor-ResearchGate-Welt, sind diese Diskussionen häufig ein bisschen verlorengegangen durch die Journale, weil natürlich damals wurden ja sogenannte Antwortartikel auf Artikel geschrieben. Das dauerte zwischen sechs bis fünfzehn, achtzehn Monate, bis diese Artikel dann erschienen sind, und dann kam ein Diskurs zustande, der über Jahre gegangen ist. Dieser Diskurs, der ist jetzt bei ResearchGate runtergebrochen in Minuten. Das ändert natürlich diese gesamte Dynamik in der Wissenschaftswelt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.