Biotechnologe: „Ohne Gehirnchip wird man ein Mensch zweiter Klasse sein“

Per Gedanken E-Mails schreiben und das Gehirn mit dem Internet verbinden – in Zukunft wird der Mensch immer technologisierter, meint Forscher Markus Schmidt.

Das Gehirn mit dem Computer verbinden – das könnte schon bald Realität werden.
Das Gehirn mit dem Computer verbinden – das könnte schon bald Realität werden.imago

Berlin-Ein Mensch ohne Gehirnchip könnte in Zukunft Nachteile haben, meint der Wiener Biotechnologe Markus Schmidt. In dem internationalen Forschungsprojekt „Future Body“ beschäftigen sich neben Schmidt verschiedene Wissenschaftler mit den Auswirkungen der Neurotechnologie auf die Gesellschaft. Im Interview erzählt Schmidt, warum wir Menschen immer weiter mit der Technologie verschmelzen werden und wo die Chancen und Risiken der Neurotechnologie liegen.

Berliner Zeitung: Herr Schmidt, Sie beschäftigen sich mit der Zukunft des menschlichen Körpers. Werden wir in 100 Jahren auf das Jahr 2021 zurückblicken und uns fragen: Wie konnten wir nur so leben?

Markus Schmidt: Ich glaube schon. Wir können deutlich sehen, dass der technologische Fortschritt und die sozialen Veränderungen im Laufe der Jahre immer schneller geworden sind. Wir waren zwei Millionen Jahre lang Jäger und Sammler. Vor 10.000 Jahren kam dann die Landwirtschaft. Im 18. und 19. Jahrhundert fand die industrielle Revolution statt und in den 1970er-Jahren kam schon die Informationstechnologie. Und seitdem ist wieder viel passiert. Unser Leben, die technologischen Fortschritte werden in Zukunft immer weiter beschleunigt. Das heißt: In 100 Jahren wird 2021 weiter weg sein, als für uns heute das Jahr 1921.

In ihrem Forschungsprojekt „Future Body“ gehen Sie und Ihr Team vor allem auf die Neurotechnologie ein. Worum geht es da genau?

Wir kooperieren in dem Projekt mit zwei Partnern in Deutschland und einem in Kanada und betrachten die Neurotechnologie von verschiedenen Seiten: der philosophischen, der technischen, aber auch der künstlerischen. Die Neurotechnologie umfasst verschiedene Technologien und Prozesse, die unmittelbar mit unserem Nervensystem interagieren, etwa über Brain-Computer-Interfaces, also Gehirn-Computer-Schnittstellen. Dazu gehört etwa das „Internet of Living Things“, mit dem das Gehirn mit dem Netz verbunden werden soll oder Implantate im Körper, durch die man neue Sinne erhalten soll.

Auch Elon Musk hat im vergangenen Jahr einen Gehirn-Chip vorgestellt, mit dem Gehirne mit Computern verbunden werden sollen.

Genau, mit Musks Gehirnchips werden auf einer sehr kleinen Fläche Tausend Elektroden ins Gehirn gesetzt. Diese Dichte von Elektroden im Gehirn war bisher unerreicht und lässt auf eine höhere „neurologische Auflösung“ hoffen.

Werden andere Neurotechnologien bereits heute verwendet?

Ja, ein gängiges nichtinvasives Verfahren ist zum Beispiel das Elektroenzephalogramm (EEG). Dabei wird eine Art Kappe mit eingenähten Elektroden auf den Kopf gesetzt, von denen über Kabel Signale zu einem Verstärker geführt werden. Es gibt eine Firma in Österreich, die diese Systeme speziell für Locked-in-Patienten herstellt, die zwar bei Bewusstsein sind, aber weder den Arm heben noch sprechen können. Mithilfe des EEG können sie per Gedanken Antworten wie Ja oder Nein geben. Es gibt aber auch schon Cochlea-Implantate für Gehörlose, die direkt mit dem Innenohr verbunden sind.

Also gibt es Neurotechnologie vor allem für therapeutische Zwecke?

In erster Linie ja, aber das ändert sich. Schon einige Technologien gehen bereits über die therapeutischen Anwendungen, für die sie eigentlich gedacht waren, hinaus, wie man zum Beispiel an dem Cochlea-Implantat für Gehörlose sehen kann.

Inwiefern?

Wir haben einen Mitarbeiter in unserem Forschungsprojekt, der ein solches Implantat im Kopf hat. Er hat 30 Jahre lang normal gehört, dann hat er sein Gehör verloren, war viele Jahre gehörlos, bis er dieses Implantat erhalten hat. Mittlerweile hat er zu 90 Prozent das Gehör eines gesunden Menschen. Wir haben uns in einem Lokal getroffen, in dem es sehr laut war. Ich habe ihn gefragt, ob ihn die vielen Hintergrundgeräusche beeinträchtigen. Und er meinte, dass er mich sehr gut hören kann, da sein Implantat auch eine Einstellung für laute Umgebungen und Bars hat. Das Mikrofon filtert dabei meine Stimme heraus, die anderen Geräusche werden nicht weitergeleitet. Er kann in einer lauten Umgebung also viel besser hören, als normale Menschen. Da können wir schon von Human Enhancement sprechen.

Das bedeutet?

Übersetzt heißt es: menschliche Verbesserung. Es gibt in unserer Gesellschaft einen generellen Trend zur Optimierung – das können wir klar erkennen. Im Moment geht es bei der Neurotechnologie zwar noch um Technologien für Kranke oder Menschen mit Behinderungen. Doch die Optimierung geht immer weiter und bald werden diese Technologien wohl auch gesunde Menschen nutzen.

Kann man diese Entwicklung schon heute beobachten?

Ja, der Körper von gesunden Menschen wird bereits heute von einigen als mangelhaft wahrgenommen. Zwar könnte man ja auch Implantate entwickeln, die einen empathischer machen. Doch der Trend geht heute eher in die Richtung, dass man besser, leistungsfähiger werden möchte. Es gibt schon heute Möglichkeiten, die mentale Leistungsfähigkeit zu optimieren.

Können Sie da Beispiele nennen?

Seit einigen Jahren ist bekannt, dass der Darm mit unserer Stimmung zusammenhängt. Zum Beispiel ist die Zusammensetzung der Bakterien im Darm eines Depressiven anders als bei einem gesunden Menschen. Man könnte also die Stimmung optimieren, in dem man bestimmte Bakterien zu sich nimmt oder sogar Fäkaltransplantationen durchführt. Ein anderes aktuelles Beispiel: In den USA und England nehmen viele Studenten bestimmte Medikamente ein, um die Lernfähigkeit zu verbessern. Das bewegt sich allerdings an der Grenze des Legalen. Und Computerspieler setzen sich Hauben mit Elektroden auf, die einen schwachen Strom durch das Gehirn schicken, damit sie länger spielen und sich besser konzentrieren können.

Und ist das noch legal?

Die Lern-Medikamente sind für diesen Zweck nicht zugelassen, aber die Haube kann man legal im Online-Handel kaufen. Ob es tatsächlich funktioniert, ist eine andere Sache. Methoden an der Grenze der Legalität führen hingegen Neurohacker durch. Für unser Forschungsprojekt haben wir auch mehrere Interviews mit ihnen geführt.

Neurohacker?

Das sind Menschen, die sich Implantate setzen, die keinen therapeutischen Nutzen haben. Zum Beispiel hat sich ein Hacker ein Implantat eingesetzt, um zu spüren, wenn seismologische Messstationen irgendwo auf der Welt ein Erdbeben registrieren.

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Biofaction
Zur Person
Markus Schmidt ist Biotechnologe und Leiter des Forschungs- und Wissenschaftskommunikationsunternehmens Biofaction in Wien. In seinen Forschungsarbeiten beschäftigt er sich mit der synthetischen Biologie, der Neurotechnologie und mit deren gesellschaftlichen Auswirkungen. 2011 rief er das erste Mal das Wissenschaftsfilmfestival BIO·FICTION ins Leben, das Biologie, Technologie, Kunst und Film verbindet.

Könnten Sie sich vorstellen, Ihren Körper wie die Neurohacker zu optimieren?

Nach den Interviews mit den Neurohackern war nichts dabei, was mich interessiert hätte. Das sind auch noch riskante Eingriffe, die Technologie ist nicht ausgereift. Am Ende hat man einen Elektronikfriedhof im Körper. Neurohacker sind Pioniere, genauso wie Biohacker, die mit synthetischer Biologie experimentieren. Beide Gruppen verwenden Produkte, die so noch nicht zugelassen oder ausgereift sind. Viele führen auch Selbstexperimente durch, vor allem in den USA. Ihre Begründung: „An meinem Körper kann ich machen, was ich will. Da kann mir keiner sagen, ob das ethisch in Ordnung oder problematisch ist.“

Welche Entwicklung in der Neurotechnologie finden Sie problematisch?

Eine Methode, das Gehirn und dessen Entwicklung besser zu verstehen, verwendet im Labor hergestellte Minigehirne. Wenn man an solchen Dingen forscht, muss man sich fragen: Ab wann sind das fühlende Lebewesen? Wann sind Gehirne zur bewussten Wahrnehmung fähig? Und wann nicht? Da eine Grenze zu ziehen, finde ich nicht einfach. Man möchte einerseits keine Tierexperimente mehr durchführen. Aber dieses Minigehirn ist auch eine Art Tier – auf das Gehirn reduziert.

Würden Sie denn sagen, dass wir in Zukunft alle mehr mit der Technik verschmelzen werden?

In gewisser Weise sicherlich. Man muss bei diesem Trend natürlich nicht mitmachen, aber das wird immer schwieriger. Wenn man sich heute überlegt, wie es wäre ohne Telefon, Computer und Bankkonto zu leben, merkt man, wie sehr wir darauf angewiesen sind. Und so wird es auch in Zukunft sein. Ab einem gewissen Punkt ist es kaum machbar, nicht mitzumachen.

Also, wenn man als einziger Mensch dann kein Gehirnimplantat hat, könnte das ein Nachteil sein?

Auf jeden Fall. Ohne Gehirnchip wird man zum Menschen zweiter Klasse, obwohl man gesund ist. Andererseits könnte es auch einen Selektionsvorteil für diejenigen geben, die keinen Gehirnchip haben. Vielleicht, weil sie dann nicht anfällig sind für Cyberangriffe. Man sieht es ja jetzt: In den USA gab es Hackerangriffe und in Schweden gingen anschließend die Supermarktkassen nicht mehr. Alles ist vernetzt. Die Technologisierung hat Vorteile, sie macht vieles effizienter. Aber die Gleichförmigkeit macht auch anfälliger für Attacken und Krisen, auch das muss man bedenken.

In vielen Science-Fiction-Filmen entwickeln Roboter ein Eigenleben. Könnte das auch bei Implantaten passieren?

Diese Filme konzentrieren sich auf Roboter, die immer humaner werden. Wir aber forschen zu Menschen, die quasi zum Roboter werden – zur Cyborgisierung des Menschen. Es kann natürlich sein, dass auch Implantate ein Eigenleben entwickeln. Wir veranstalten etwa das BIO·FICTION-Festival, das mit unserem Forschungsprojekt zusammenhängt. Dort verarbeiten Künstler und Filmproduzenten die Neurotechnologie in ihren Filmen. In einem der Filme („The Auxiliary“) reißt sich die Protagonistin ihr Implantat aus dem Körper, was das Ende beider nach sich zieht, weil sie so abhängig voneinander geworden sind. Es handelt sich um eine Symbiose zwischen dem Implantat und dem Menschen. Noch ist das reine Fiktion, aber es zeigt eine mögliche zukünftige Realität.

Sollte man bei der Neurotechnologie-Forschung irgendwann eine Grenze ziehen?

Das ist eine philosophische Frage. Ein Beispiel: Irgendwann in der Vergangenheit ist die Musik entstanden. In einen hohlen Geierknochen hat ein Mensch Löcher gebohrt – so ist die erste Flöte entstanden. Plötzlich hatten wir Musikinstrumente, um Musik zu machen. Denken wir das in die Zukunft weiter. Was, wenn wir plötzlich Zugang zu anderen Wirklichkeitsräumen haben, die uns bisher völlig verschlossen waren? Wie geht es dann weiter? Welche qualitativ neuen Phänomene warten noch auf uns? Man muss aufpassen, dass man die Technologie nicht zu früh auf die Menschen loslässt und diese dann krank werden oder sich selbst zerstören. Aber warum sollten wir den Status quo einfach einfrieren? Es ist ein Abwägen, ein ständiges Neuverhandeln und Ausdiskutieren.

Also sollte man schon weiter an der Neurotechnologie forschen?

Auf jeden Fall. Gerade in den USA aber auch in Europa wird sehr viel geforscht, von Wissenschaftlern aber auch von Neurohackern, die Selbstexperimente durchführen. Das sind richtige Pioniere auf ihrem Gebiet, die zeigen, was gehen könnte. Es ist außerdem interessant, dass extreme Technologie-Fortschritte eher in den USA stattfinden, in denen es weniger Regulierung, mehr private Investitionen und einen geringeren Grad an gesellschaftlicher Solidarität gibt. Da muss man sich in Europa die Frage stellen, ob man dazu verdammt ist, immer die Innovationen anderer zu übernehmen, und gar nicht mehr selbst Akteur ist. Wenn man zu verantwortungsbewusst ist und zu sehr reguliert, werden die Erfindungen woanders gemacht und die Menschen gehen auch woanders hin, um diese Erfindungen machen zu können. Das ist ein Dilemma.

Warum?

Weil wir in Zukunft dann die Innovationen übernehmen müssen, um keinen Nachteil zu haben. In den kommenden Jahren wird sich einiges tun in der Neurotechnologie. Und Europa sollte aufpassen, nicht den Anschluss zu verlieren.

Sind Sie denn zuversichtlich, dass die Menschheit mit der Neurotechnologie in Zukunft verantwortungsbewusst umgehen wird?

Nein, das bin ich nicht. Es gibt zwar Bestrebungen hinsichtlich verantwortungsbewusster Forschung und Innovation, aber wir sind noch lange nicht am Ende der Fahnenstange angelangt. Wir betreten ständig Neuland und ich befürchte, wir werden da noch einige Desaster erleben müssen.

Das Gespräch führte Elena Matera.