Mit vier Empfehlungen für die Asyl- und Migrationspolitik wendet sich der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration (SVR) an die europäischen Institutionen und die Bundesregierung.
Die für dieses Jahr geplante große Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems soll erstens weiterhin irreguläre Einreisen von Schutzsuchenden ermöglichen.
Zweitens solle sie eine solidarische Verteilung auf die Mitgliedstaaten enthalten. Die EU soll laut dem am Dienstag vorgestellten Papier „Schutzbedürftige aus Transitländern wie Libyen verstärkt direkt aufnehmen“.
Drittens fordern die Migrationsforscher, „reguläre Zuwanderungswege“ auszubauen; hierfür sollen das Umsiedlungsprogramm der Vereinten Nationen vorangebracht und mehr Möglichkeiten für Arbeitsmigration geschaffen werden.
Laut Einschätzung des Sachverständigenrats sollte die von der EU-Kommission angekündigte Reform „das territoriale Asylsystem verstärkt um alternative Schutzwege ergänzen“. Das „Resettlement und andere staatlich gesteuerte Aufnahmeprogramme“ böten nämlich zahlreiche Vorteile: Zunächst ermöglichten sie eine sichere sowie reguläre Einreise und verringerten die Wahrscheinlichkeit, dass sich Migranten auf gefährliche, irreguläre Routen begeben. „Diese stehen ohnehin oft nur denen offen, die physisch und finanziell dazu in der Lage sind, sie zu beschreiten.“ Dagegen könnten laut den Forschern „gerade Flüchtlinge mit dem größten Schutzbedarf – zum Beispiel Familien oder Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen – besser über Resettlement-Programme geschützt werden“.
Zudem sei die gesteuerte Aufnahme von nicht europäischen Asylsuchenden für die Zielstaaten und -gemeinden in der EU über Umsiedlungskontingente „besser planbar“; sie trage dazu bei, Erstaufnahmestaaten in Krisenregionen zu entlasten. Bisher fliegen Deutschland und die übrigen EU-Staaten nur wenige Tausend Flüchtlinge jährlich legal ein, nehmen aber insgesamt mehr als eine halbe Million Asylbewerber auf. In den vergangenen Jahren reisten besonders viele Migranten über die Türkei ein; laut SVR sollte die EU in ihren neuen Verhandlungen mit Ankara unter anderem anbieten, mehr Flüchtlinge direkt von dort aufzunehmen.
Die vierte zentrale Forderung der Migrationsforscher: Die von Griechenland geschlossene Landgrenze zur Türkei solle bald wieder für Asylsuchende geöffnet werden. Außerdem solle „ein System für die Bearbeitung von Asylanträgen aufrechterhalten“ werden. In den überlasteten Migrantencamps auf den Ägäis-Inseln müsse die Situation „dringend entschärft werden“. Die Zustände dort seien in medizinischer Hinsicht „desaströs“; durch die Corona-Pandemie drohe „eine humanitäre Katastrophe“. Griechenland müsse „endlich die Vorgaben der Asylaufnahmerichtlinie der EU einhalten, Hilfe annehmen und unterstützt werden“ – durch Nahrungsmittel, Unterkünfte, technische Anlagen, Ärzteteams und sogar mithilfe des Katastrophenschutzes.
Die jüngsten Ereignisse in Griechenland verdeutlichten, wie dringlich die EU einen neuen Umgang mit Flucht und Migration finden müsse. Kurzfristig brauche es flexible Lösungen. „Die Flüchtlinge in den Camps auf den griechischen Inseln müssen dringend evakuiert werden“, sagte die Sachverständigenratsvorsitzende Petra Bendel. „Deutschland sollte sich im Rahmen einer ‚Koalition der Willigen‘ bereit erklären, mehr Schutzbedürftige aus Griechenland aufzunehmen, als es bisher schon zugesagt hat.“ Auch Griechenland stehe in der Pflicht.
„Asylbewerber, die sich auf griechischem Territorium befinden, systematisch zurück in die Türkei oder in die Herkunftsländer abzuschieben, ohne zuvor ihre Asylanträge zu prüfen, widerspricht dem Geist und dem Wortlaut der europäischen Asylrichtlinien“, sagte der stellvertretende Ratsvorsitzende Daniel Thym.
Die EU müsse „endlich dafür sorgen, dass das europäische Asylrecht in der Praxis auch angewandt wird. Dazu gehören Asylanträge ebenso wie schnelle Verfahren, um zu entscheiden, wer bleiben darf und wer gehen muss.“ Deutschland solle seine EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte dafür nutzen, die Reform des Asylsystems voranzutreiben.
Der Sachverständigenrat betreibt mit seinem Forschungsbereich Politikberatung zu Migration und Integration. Er wird von der Volkswagen-, Mercator-, Bertelsmann-, Bosch- sowie weiteren großen Stiftungen finanziert.