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Das 2001 vom The Latin Mass Magazine veröffentlichte Interview mit der Professorin der Philosophie und katholischen Intellektuellen Alice von Hildebrand, der Witwe des Philosophen Dietrich von Hildebrand (1889–1977), hat nichts an seiner Aktualität verloren. Alice von Hildebrand ist im vergangenen Januar im hohen Alter von 98 Jahren verstorben. Gottfried Paschke ist die Durchsicht und Korrektur der deutschen Übersetzung zu verdanken. Der Inhalt des Interviews erscheint nicht zuletzt auch vor der am 4. September erfolgten Seligsprechung von Johannes Paul I. interessant.

TLM: Frau Dr. von Hildebrand, sahen Sie zu der Zeit, als Papst Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil einberief, einen Reformbedarf innerhalb der Kirche?

Alice von Hildebrand: Die meisten Erkenntnisse dazu stammen von meinem Mann. Er sagte immer, daß die Mitglieder der Kirche aufgrund der Auswirkungen der Erbsünde und der tatsächlichen Sünde immer der Reform bedürfen. Die Lehre der Kirche ist jedoch von Gott. Nicht ein Jota soll verändert oder als reformbedürftig angesehen werden.

TLM: In bezug auf die aktuelle Krise, wann haben Sie zum ersten Mal bemerkt, daß etwas furchtbar falsch läuft?

Alice von Hildebrand: Das war im Februar 1965. Ich machte ein Sabbatjahr in Florenz. Mein Mann las eine theologische Zeitschrift, und plötzlich hörte ich, wie er in Tränen ausbrach. Ich rannte zu ihm, voller Angst, daß sein Herzleiden ihm plötzlich Schmerzen bereitet hatte. Ich fragte ihn, ob es ihm gut gehe. Er sagte mir, der Artikel, den er gelesen habe, habe ihm die sichere Einsicht vermittelt, daß der Teufel in die Kirche eingedrungen sei. Denken Sie daran, mein Mann war der erste prominente Deutsche, der sich öffentlich gegen Hitler und die Nazis ausgesprochen hat. Seine Einsichten waren immer vorausschauend.

TLM: Hatte Ihr Mann vor diesem Vorfall jemals über seine Angst um die Kirche gesprochen?

Alice von Hildebrand: Ich erzähle in meiner Biographie meines Mannes „Die Seele eines Löwen“, daß er einige Jahre nach seiner Konversion zum Katholizismus in den 1920er Jahren anfing, an der Universität München zu lehren. München war eine katholische Stadt. Die meisten Katholiken gingen damals zur Messe, aber er sagte immer, daß ihm dort bewußt wurde, wie unter Katholiken der Sinn für das Übernatürliche verlorenging. Besonders ein Vorfall bot ihm genügend Beweise und machte ihn sehr traurig.

Wenn mein Mann durch eine Tür ging, gab er seinen Schülern, die Priester waren, immer den Vorrang. Eines Tages drückte einer seiner Kollegen (ein Katholik) sein Erstaunen und seine Mißbilligung aus: „Warum lassen Sie Ihre Schüler vor Ihnen herziehen?“ „Weil sie Priester sind“, antwortete mein Mann. „Aber sie haben keinen Doktortitel.“ Mein Mann war betrübt. Einen Doktortitel zu schätzen ist eine natürliche Reaktion; Ehrfurcht vor der Erhabenheit des Priestertums zu empfinden ist eine übernatürliche Reaktion. Die Haltung des Professors bewies, daß sein Sinn für das Übernatürliche erodiert war. Das war lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Aber bis zum Konzil verdeckten die Schönheit und Heiligkeit der tridentinischen Liturgie dieses Phänomen.

TLM: Glaubte Ihr Mann, daß der Niedergang des Sinns für das Übernatürliche um diese Zeit begann, und wenn ja, wie hat er das erklärt?

Alice von Hildebrand: Nein, er glaubte, daß nach der Verurteilung der Häresie des Modernismus durch Pius X. dessen Befürworter lediglich in den Untergrund gingen. Er würde sagen, daß sie dann einen viel subtileren und praktischeren Ansatz gewählt haben. Sie verbreiten Zweifel, indem sie einfach Fragen zu den großen übernatürlichen Eingriffen in der gesamten Heilsgeschichte aufwerfen, wie der jungfräulichen Geburt und der immerwährenden Jungfräulichkeit Unserer Lieben Frau sowie der Auferstehung und der Heiligen Eucharistie. Sie wußten, daß, sobald der Glaube – das Fundament – ins Wanken gerät, die Liturgie und die moralischen Lehren der Kirche nachziehen würden. Mein Mann hat eines seiner Bücher „The Devastated Vineyard“ („Der verwüstete Weinberg“) genannt. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil schien ein Tornado die Kirche getroffen zu haben.

Die Moderne selbst war die Frucht der Katastrophe der Renaissance und der protestantischen Revolte, und es bedurfte eines langen historischen Prozesses, um sich zu entfalten. Wenn man einen typischen Katholiken im Mittelalter nach einem Helden oder einer Heldin fragen würde, würde er mit dem Namen eines Heiligen antworten. Die Renaissance begann das zu ändern. Anstelle eines Heiligen würden die Menschen an Genies als Personen denken, denen es nachzueifern gilt, und mit dem Herannahen des Industriezeitalters würden sie mit dem Namen eines großen Wissenschaftlers antworten. Heute würden sie mit einer Sportlerfigur oder Kinopersönlichkeit antworten. Mit anderen Worten, der Verlust des Sinns für das Übernatürliche hat zu einer Umkehrung der Wertehierarchie geführt.

Sogar der Heide Platon war offen für das Übernatürliche. Er sprach von der Schwäche, Gebrechlichkeit und Feigheit, die sich oft in der menschlichen Natur zeigten. Er wurde von einem Kritiker gebeten, zu erklären, warum er eine so geringe Meinung von der Menschheit habe. Er antwortete, daß er den Menschen nicht verunglimpfe, sondern ihn nur mit Gott vergleiche.

Mit dem Verlust des Sinns für das Übernatürliche geht heute auch der Sinn für Opferbereitschaft verloren. Je näher man Gott kommt, desto größer sollte das eigene Gefühl der Sündhaftigkeit sein. Je weiter man sich von Gott entfernt, wie heute, desto mehr hören wir die Philosophie der neuen Zeit: „I’m OK, You’re OK.“ Dieser Verlust der Opferbereitschaft hat dazu geführt, daß der Erlösungsauftrag der Kirche verdunkelt wurde. Wo das Kreuz heruntergespielt wird, wird unserem Erlösungsbedürfnis kaum Beachtung geschenkt.

Die Abneigung gegen Opfer und Erlösung hat die Säkularisierung der Kirche von innen unterstützt. Wir hören seit vielen Jahren von Priestern und Bischöfen, daß die Kirche sich der Welt anpassen muß. Große Päpste wie St. Pius X. sagten genau das Gegenteil: Die Welt muß sich der Kirche anpassen.

TLM: Aus unserem Gespräch an diesem Nachmittag muß ich schließen, daß Sie nicht glauben, daß der beschleunigte Verlust des Sinns für das Übernatürliche ein Unfall der Geschichte ist.

Alice von Hildebrand: Nein, habe ich nicht. In den letzten Jahren sind in Italien zwei Bücher erschienen, die bestätigen, was mein Mann schon seit einiger Zeit vermutet; nämlich, daß es für einen Großteil dieses Jahrhunderts eine systematische Infiltration der Kirche durch teuflische Feinde gegeben hat. Mein Mann war ein sehr zuversichtlicher Mann und von Natur aus optimistisch. In den letzten zehn Jahren seines Lebens habe ich ihn jedoch viele Male in Momenten großer Trauer erlebt, wie er häufig wiederholte: „Sie haben die heilige Braut Christi entweiht.“ Er bezog sich auf den „Greuel der Verwüstung“, von dem der Prophet Daniel spricht.

TLM: Das ist ein kritisches Eingeständnis, Dr. von Hildebrand. Ihr Mann wurde von Papst Pius XII. als Kirchenlehrer des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Wenn er sich so stark fühlte, hatte er dann keinen Zugang zum Vatikan, um Papst Paul VI. von seinen Ängsten zu erzählen?

Alice von Hildebrand:: Aber er tat es! Ich werde nie die Privataudienz vergessen, die wir kurz vor dem Ende des Konzils bei Paul VI. hatten. Es war am 21. Juni 1965. Als mein Mann anfing, ihn zu bitten, die grassierenden Ketzereien zu verurteilen, unterbrach ihn der Papst mit den Worten: „Lo scriva, lo scriva.“ („Schreiben Sie es auf.“) Wenige Augenblicke später machte mein Mann den Papst zum zweiten Mal auf den Ernst der Lage aufmerksam. Gleiche Antwort. Seine Heiligkeit empfing uns im Stehen. Es war offensichtlich, daß sich der Papst sehr unwohl fühlte. Die Audienz dauerte nur wenige Minuten. Paul VI. gab seinem Sekretär, P. Capovilla, sofort ein Zeichen, uns Rosenkränze und Medaillen zu bringen. Wir gingen dann zurück nach Florenz, wo mein Mann ein langes Dokument schrieb (heute unveröffentlicht), das Paul VI. gerade am Tag vor der letzten Sitzung des Konzils übergeben wurde. Es war September 1965. Nachdem er das Dokument meines Mannes gelesen hatte, sagte er zu dem Neffen meines Mannes, Dieter Sattler, der deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl geworden war, daß er das Dokument sorgfältig gelesen habe, aber daß „es ein bißchen hart war.” Der Grund lag auf der Hand: Mein Mann hatte demütig um eine klare Verurteilung ketzerischer Äußerungen gebeten.

TLM: Sie wissen natürlich, Frau Doktor, daß, sobald Sie diese Idee der Infiltration erwähnen, einige verärgert mit den Augen rollen und sagen werden: „Nicht noch eine Verschwörungstheorie!“

Alice von Hildebrand: Ich kann Ihnen nur sagen, was ich weiß. Es ist zum Beispiel öffentlich bekannt, daß Bella Dodd, die ehemalige Kommunistin, die wieder zur Kirche konvertierte, offen über die absichtliche Einschleusung von Agenten durch die Kommunistische Partei in die Seminare sprach. Sie erzählte meinem Mann und mir, daß sie als aktives Parteimitglied mit nicht weniger als vier Kardinälen im Vatikan zu tun hatte, „die für uns arbeiteten“.

Oft habe ich Amerikaner sagen hören, daß Europäer „Verschwörung riechen, wohin sie auch gehen“. Aber von Anfang an hat sich der Böse gegen die Kirche „verschworen“ – und hat immer besonders darauf abgezielt, die Messe zu zerstören und den Glauben an die Realpräsenz Christi in der Eucharistie zu untergraben. Daß manche versucht sind, diese unbestreitbare Tatsache über die Maßen aufzublähen, ist kein Grund, ihre Realität zu leugnen. Andererseits bin ich als Europäerin versucht zu sagen, daß viele Amerikaner naiv sind. Da sie in einem vom Frieden gesegneten Land leben und wenig über die Geschichte wissen, sind sie eher als Europäer (deren Geschichte eine turbulente ist) geneigt, Illusionen zu erliegen. Rousseau hatte einen enormen Einfluß in den Vereinigten Staaten. Als Christus beim letzten Abendmahl zu seinen Aposteln sagte: „Einer von euch wird mich verraten“, waren die Apostel fassungslos. Judas hatte seine Hand so geschickt gespielt, daß ihn niemand verdächtigte, denn ein listiger Verschwörer weiß, wie man seine Spuren mit einer Demonstration von Orthodoxie verwischt.

TLM: Enthalten die beiden Bücher des italienischen Priesters, die Sie vor dem Interview erwähnt haben, Dokumente, die diese Unterwanderung belegen würden?

Alice von Hildebrand: Die beiden von mir erwähnten Bücher wurden 1998 und 2000 von einem italienischen Priester, Don Luigi Villa aus der Diözese Brescia, veröffentlicht, der auf Wunsch von Padre Pio viele Jahre seines Lebens der Untersuchung der möglichen Infiltration sowohl von Freimaurern als auch von Kommunisten in die Kirche gewidmet hat. Mein Mann und ich lernten Don Villa in den sechziger Jahren kennen. Er behauptet, er mache keine Aussage, die er nicht belegen könne. Als „Paulo Sesto Beato?“ (1998) veröffentlicht wurde, wurde das Buch an jeden einzelnen italienischen Bischof verschickt. Keiner von ihnen bestätigte den Empfang; keiner stellte eine der Behauptungen von Don Villa in Frage.

In diesem Buch erzählt er etwas, was keine kirchliche Autorität widerlegt oder widerrufen hat – auch wenn er im Zusammenhang mit dem Vorfall besondere Persönlichkeiten nennt. Es bezieht sich auf die Kluft zwischen Papst Pius XII. und dem damaligen Bischof Montini (dem späteren Paul VI.), der sein Unterstaatssekretär war. Pius XII., der sich der Bedrohung durch den Kommunismus bewußt war, der nach dem Zweiten Weltkrieg fast halb Europa beherrschte, hatte den Mitarbeitern des Vatikans verboten, mit Moskau Geschäfte zu machen. Zu seiner Bestürzung wurde er eines Tages durch den Bischof von Uppsala (Schweden) darüber informiert, daß gegen seine strenge Anordnung verstoßen wurde. Der Papst weigerte sich, diesem Gerücht Glauben zu schenken, bis ihm unwiderlegbare Beweise dafür vorgelegt wurden, daß Montini mit verschiedenen sowjetischen Stellen korrespondiert hatte. In der Zwischenzeit hatte Papst Pius XII. (ebenso wie Pius XI.) heimlich Priester nach Rußland geschickt, um den Katholiken hinter dem Eisernen Vorhang Trost zu spenden. Jeder von ihnen war systematisch festgenommen, gefoltert und entweder hingerichtet oder in den Gulag geschickt worden. Schließlich wurde ein vatikanischer Maulwurf entdeckt: Alighiero Tondi SJ, der ein enger Berater von Montini war. Tondi war ein für Stalin arbeitender Agent, dessen Aufgabe es war, Moskau über Initiativen wie die Entsendung von Priestern in die Sowjetunion auf dem Laufenden zu halten.

Hinzu kommt die Behandlung von Kardinal Mindszenty durch Papst Paul. Gegen seinen Willen wurde Mindszenty vom Vatikan angewiesen, Budapest zu verlassen. Wie fast jeder weiß, war er vor den Kommunisten geflohen und hatte auf dem Gelände der amerikanischen Botschaft Zuflucht gesucht. Der Papst hatte ihm feierlich versprochen, daß er bis zu seinem Tod Primas von Ungarn bleiben würde. Als der Kardinal (der von den Kommunisten gefoltert worden war) in Rom ankam, umarmte ihn Paul VI. herzlich, schickte ihn dann aber ins Exil nach Wien. Kurz darauf wurde diesem heiligen Prälaten mitgeteilt, daß er degradiert und durch jemanden ersetzt worden war, der für die ungarische kommunistische Regierung annehmbarer war. Noch rätselhafter und tragisch trauriger ist die Tatsache, daß als Mindszenty starb, kein Vertreter der Kirche bei seiner Beerdigung anwesend war.

Eine andere von Don Villas Illustrationen der Infiltration ist eine, die ihm von Kardinal Gagnon erzählt wurde. Paul VI. hatte Gagnon gebeten, eine Untersuchung über die Unterwanderung der Kirche durch mächtige Feinde zu leiten. Kardinal Gagnon (damals Erzbischof) nahm diese unangenehme Aufgabe an und stellte ein langes Dossier zusammen, das reich an besorgniserregenden Fakten war. Als die Arbeit abgeschlossen war, bat er um eine Audienz bei Papst Paul, um das Manuskript persönlich dem Papst zu übergeben. Dieser Antrag auf ein Treffen wurde abgelehnt. Der Papst ließ wissen, daß das Dokument in den Büros der Kongregation für den Klerus aufbewahrt werden sollte, und zwar in einem Tresor mit Doppelschloß. Dies geschah, aber schon am nächsten Tag wurde das Schließfach aufgebrochen und das Manuskript verschwand auf mysteriöse Weise. Die übliche Politik des Vatikans besteht darin, dafür zu sorgen, daß Nachrichten über solche Vorfälle niemals das Licht der Welt erblicken. Trotzdem wurde dieser Diebstahl sogar im L’Osservatore Romano gemeldet (vielleicht unter Druck, weil in der weltlichen Presse darüber berichtet worden war). Kardinal Gagnon hatte natürlich eine Kopie und bat den Papst erneut um eine Privataudienz. Wieder einmal wurde sein Antrag abgelehnt. Daraufhin beschloß er, Rom zu verlassen und in sein Heimatland Kanada zurückzukehren. Später wurde er von Papst Johannes Paul II. nach Rom zurückgerufen und zum Kardinal ernannt.

TLM: Warum hat Don Villa diese Werke geschrieben, in denen Paul VI. zur Kritik herausgegriffen wird?

Alice von Hildebrand: Don Villa entschied sich widerstrebend, die Bücher zu veröffentlichen, auf die ich angespielt habe. Als jedoch mehrere Bischöfe auf die Seligsprechung von Paul VI. drängten, verstand dieser Priester das als Ruf, die Informationen, die er im Laufe der Jahre gesammelt hatte, zu veröffentlichen. Damit folgte er den Richtlinien einer römischen Kongregation und unterrichtete die Gläubigen darüber, daß es ihre Pflicht als Mitglieder der Kirche sei, der Kongregation alle Informationen mitzuteilen, die gegen die Qualifikation des Kandidaten für die Seligsprechung sprechen könnten.

In Anbetracht des turbulenten Pontifikats Pauls VI. und der verwirrenden Signale, die er gab, zum Beispiel: Er sprach über den „Rauch Satans, der in die Kirche eingedrungen war“, weigerte sich jedoch, Häresien offiziell zu verurteilen; seine Verkündung von Humanae vitae (der Ruhm seines Pontifikats), demgegenüber seine sorgfältige Vermeidung, sie ex cathedra zu verkünden; 1968 gab er auf der Piazza San Pietro sein Credo des Volkes Gottes bekannt und versäumte erneut, es für alle Katholiken verbindlich zu erklären; seine Mißachtung der strengen Anordnungen von Pius XII., keinen Kontakt mit Moskau zu haben, und seine Beschwichtigung der ungarischen kommunistischen Regierung durch den Bruch des feierlichen Versprechens, das er Kardinal Mindszenty gegeben hatte; seine Behandlung des heiligen Kardinals Slipyj, der siebzehn Jahre im Gulag verbracht hatte, nur um von Paul VI. zu einem virtuellen Gefangenen im Vatikan gemacht zu werden; und schließlich sein Auftrag an Erzbischof Gagnon, eine mögliche Infiltration in den Vatikan zu untersuchen, nur um ihm nach Abschluß seiner Arbeit eine Audienz zu verweigern – all dies spricht stark gegen die Seligsprechung von Paolo VI., den man in Rom „Paolo Sesto, Mesto“ („Paul der Sechste, der Traurige“) nannte.

Daß die Pflicht zur Veröffentlichung dieser deprimierenden Informationen belastend war und Don Villa viel Leid gekostet hat, steht außer Zweifel. Jeder Katholik freut sich, wenn er mit grenzenloser Verehrung zu einem Papst aufblicken kann. Aber Katholiken wissen auch, daß Christus, obwohl er nie versprach, uns perfekte Führer zu geben, verheißen hat, daß die Pforten der Hölle nicht siegen werden. Vergessen wir nicht, daß die Kirche, obwohl sie einige sehr schlechte und einige mittelmäßige Päpste hatte, mit vielen großen Päpsten gesegnet wurde. Achtzig von ihnen wurden heiliggesprochen und mehrere seliggesprochen. Dies ist eine Erfolgsgeschichte, die in der säkularen Welt keine Parallele trägt.

Gott allein ist der Richter von Paul VI. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß sein Pontifikat sehr kompliziert und tragisch war. Unter ihm wurden im Laufe von fünfzehn Jahren mehr Veränderungen in der Kirche eingeführt als in allen vorangegangenen Jahrhunderten zusammen. Besorgniserregend ist, daß wir, wenn wir sehen die Zeugnisse von Ex-Kommunisten wie Bella Dodd lesen und freimaurerische Dokumente studieren (aus dem neunzehnten Jahrhundert und meist von abtrünnigen Priestern wie Paul Roca verfaßt), feststellen können, daß ihre Agenda weitgehend umgesetzt wurde: der Exodus von Priestern und Nonnen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, abweichende Theologen, die nicht zensiert wurden, Feminismus, der Druck auf Rom, den priesterlichen Zölibat abzuschaffen, Unmoral im Klerus, blasphemische Liturgien (siehe den Artikel von David Hart in First Things, April 2001, „The Future of the Papacy“), die radikalen Veränderungen, die in die heilige Liturgie eingeführt wurden (siehe Kardinal Ratzingers Buch „Meilensteine“, S. 126 und 148, Ignatius Press) und eine irreführende Ökumene. Nur ein Blinder könnte leugnen, daß viele der Pläne des Feindes perfekt ausgeführt wurden.

Man sollte nicht vergessen, daß die Welt schockiert war über das, was Hitler tat. Aber Leute wie mein Mann haben tatsächlich gelesen, was er in „Mein Kampf“ gesagt hat. Der Plan war da. Die Welt entschied sich einfach, es nicht zu glauben.

Aber so ernst die Situation auch ist, kein überzeugter Katholik kann vergessen, daß Christus versprochen hat, er werde bis ans Ende der Welt bei seiner Kirche bleiben. Wir sollten über die im Evangelium erzählte Szene nachdenken, als das Boot der Apostel von einem heftigen Sturm heimgesucht wurde. Christus schlief! Seine erschrockenen Anhänger weckten ihn auf. Er sagte ein Wort, und es herrschte große Ruhe: „O ihr Kleingläubigen!“

TLM: Ihren Bemerkungen zur Ökumene entnehme ich, daß Sie mit der derzeitigen Politik der „Konvergenz“ statt der „Bekehrung“ nicht einverstanden sind?

Alice von Hildebrand:: Lassen Sie mich einen Vorfall erzählen, der meinem Mann Kummer bereitete. Es war 1946, kurz nach dem Krieg. Mein Mann unterrichtete an der Fordham-Universität, und in einer seiner Klassen tauchte ein jüdischer Student auf, der während des Krieges Marineoffizier gewesen war. Schließlich erzählte er meinem Mann von einem besonders atemberaubenden Sonnenuntergang im Pazifik und wie er ihn auf die Suche nach der Wahrheit über Gott geführt hatte. Er ging zuerst an die Columbia-Universität, um Philosophie zu studieren, und er wußte, daß dies nicht das war, wonach er suchte. Ein Freund schlug vor, es an der Fordham-Universität mit Philosophie zu versuchen, und erwähnte den Namen Dietrich von Hildebrand. Nach nur einem Kurs bei meinem Mann wußte er, daß er gefunden hatte, wonach er suchte. Eines Tages gingen mein Mann und dieser Schüler nach dem Unterricht spazieren. Er sagte meinem Mann während dieser Zeit, er sei überrascht darüber, daß mehrere Professoren, nachdem sie herausgefunden hatten, daß er Jude war, ihm versicherten, daß sie nicht versuchen würden, ihn zum Katholizismus zu bekehren. Mein Mann blieb fassungslos stehen, drehte sich zu ihm um und sagte: „Sie haben was gesagt?!“ Er wiederholte die Geschichte und mein Mann sagte zu ihm: „Ich würde bis ans Ende der Welt gehen, um dich zum Katholiken zu machen.“ Um es kurz zu machen, der junge Mann wurde Katholik, wurde zum Kartäuserpriester geweiht und betrat die einzige Kartause in den Vereinigten Staaten (in Vermont)!

TLM: Sie haben viele Jahre am Hunter College unterrichtet.

Alice von Hildebrand: Ja, und einige meiner Schüler wurden Katholiken. Oh, die schönen Bekehrungsgeschichten, die ich erzählen könnte, wenn ich Zeit hätte – junge Menschen, die von der Wahrheit mitgerissen wurden!

Einen Punkt möchte ich jedoch ganz deutlich machen. Ich habe meine Schüler nicht bekehrt. Das Beste, was wir tun können, ist zu beten, Gottes Werkzeuge zu sein. Um ein Werkzeug zu sein, müssen wir danach streben, das Evangelium jeden Tag und unter allen Umständen zu leben. Nur Gottes Gnade kann uns den Wunsch und die Fähigkeit dazu geben.

Das ist eine der Befürchtungen, die ich gegenüber traditionellen Katholiken habe. Manche kokettieren mit Fanatismus. Ein Fanatiker ist jemand, der die Wahrheit als seinen persönlichen Besitz und nicht als Geschenk Gottes betrachtet. Wir sind Diener der Wahrheit, und als Diener versuchen wir, sie zu teilen.

Ich bin sehr besorgt darüber, daß es „fanatische“ Katholiken gibt, die den Glauben und die Wahrheit, die er verkündet, als intellektuelles Spielzeug benutzen. Eine authentische Aneignung der Wahrheit führt immer zu einem Streben nach Heiligkeit. Der Glaube ist in dieser gegenwärtigen Krise kein intellektuelles Schachspiel. Für jeden, der nicht nach Heiligkeit strebt, ist das alles, was es jemals sein wird. Solche Menschen schaden dem Glauben mehr, besonders wenn sie Befürworter der traditionellen Messe sind.

TLM: Sie sehen also das einzige Szenario für eine Lösung der gegenwärtigen Krise in der Erneuerung des Strebens nach Heiligkeit?

Alice von Hildebrand: Wir sollten nicht vergessen, daß wir nicht nur gegen Fleisch und Blut kämpfen, sondern gegen „Mächte und Fürstentümer“. Dies sollte in uns genügend Angst hervorrufen, um uns mehr denn je nach Heiligkeit zu bemühen und inbrünstig zu beten, daß die heilige Braut Christi, die sich gerade auf Golgatha befindet, strahlender denn je aus dieser furchtbaren Krise hervorgeht.

Die katholische Antwort ist immer dieselbe: absolute Treue zur heiligen Lehre der Kirche, Treue zum Heiligen Stuhl, häufiger Empfang der Sakramente, Rosenkranzgebet, tägliche geistliche Lesung und Dankbarkeit dafür, daß uns die Fülle der Offenbarung Gottes geschenkt wurde: „Gaudete, iterum dico vobis, gaudete.“

TLM: Ich kann das Interview nicht beenden, ohne Sie nach Ihrer Reaktion auf eine abgegriffene Sache zu fragen. Es gibt jene Kritiker der alten lateinischen Messe, die darauf hinweisen, daß die Krise in der Kirche zu einer Zeit entstand, als diese Messe in der ganzen Welt angeboten wurde. Warum sollten wir dann denken, daß ihre Wiederbelebung der Lösung innewohnt?

Alice von Hildebrand: Der Teufel haßt die alte Messe. Er haßt sie, weil sie die vollkommenste Neuformulierung aller Lehren der Kirche ist. Es war mein Mann, der mir diese Einsicht in die Messe gab. Das Problem, das die gegenwärtige Krise einleitete, war nicht die traditionelle Messe. Das Problem war, daß die Priester, die sie anboten, bereits den Sinn für das Übernatürliche und das Transzendente verloren hatten. Sie hetzten durch die Gebete, sie murmelten und sagten sie nicht aus. Das ist ein Zeichen dafür, daß sie ihren wachsenden Säkularismus in die Messe eingebracht hatten. Die alte Messe verträgt keine Respektlosigkeit, und deshalb waren so viele Priester ebenso glücklich, sie verschwinden zu sehen.

TLM: Vielen Dank, Frau Dr. von Hildebrand, für diese Zeit und die Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen.

quelle: Beim Abriß anwesend - Katholisches
Elisabetta
Sehr erhellend die Hintergründe, warum die r. k. Kirche heute so ist wie sie ist. Wir bräuchten mehr Menschen mit Mut, Rechtschaffenheit und Unbestechlichkeit wie das Ehepaar Hindebrand. Den deutschen Synodalen Weg haben sie wohl geahnt.