
Daß menschliche Tugenden für das öffentliche Leben und das private Lebensglück unverzichtbar sind, ist inzwischen auch in der akademischen Philosophie (wieder) anerkannt. Die Reduktion ethischer Fragen auf normative Fragen des Erlaubten und Verbotenen hat sich in mehrfacher Hinsicht als zu eng erwiesen. Um moralische Konflikte zu verstehen und zu überwinden, läßt sich nicht absehen von den sittlichen Überzeugungen der handelnden Personen. Lebenserfahrungen, charakterliche Dispositionen und damit verbundene Erwartungen bestimmen zu einem erheblichen Teil unser Denken. Vielfach wird einfach nicht verstanden, was daran gut sein soll, sich im Handeln an Normen und Geboten zu orientieren, wenn ein Zusammenhang mit dem eigenen Lebensglück nicht erkennbar ist. Sittliche Verpflichtungen haben aus solcher Perspektive die absurde Form eines „wir sollen, weil wir sollen“, dem der Bezug fehlt auf das, was wir selber wollen. Um das Sollen plausibel zu machen, ist beim Wollen anzusetzen, also bei dem, was den Handelnden im Grunde seines Herzens bewegt.
Das war in Antike und Mittelalter der Ausgangspunkt einer Ethik, die das Moralische von dem für uns und für andere guten und richtigen Leben her versteht. Allerdings ist darin das Paradox mitgedacht, daß wir durch unser faktisches Wollen schuldhaft verfehlen können, was wir eigentlich wollen: die Erfüllung unserer Sehnsucht nach Erfüllung, echtes und unverlierbares Glück, Freundschaft mit uns selbst und mit anderen, die innere Gleichgestaltung mit Gott. Unsere faktischen Entscheidungen stehen dem oft genug im Weg, solange wir nicht wirklich wissen, was wir wollen. Mag sein, daß andere uns den Spiegel vorhalten in der Meinung, wir müßten doch selber sehen können, wie häßlich wir sind. Aber genau hier liegt das Problem, dessen theoretische Lösung in der Tugendethik nicht bloß als Information über Ethik, sondern als eine Hilfe zur Umkehr des Herzens verstanden worden ist in der grundlegenden Veränderung unserer Selbstwahrnehmung und der Qualität unserer Beziehungen, die unserem Leben Substanz und Halt verleihen. Die Tugenden des menschlichen Herzens sind darum keine Einengung des Lebensdranges auf eine von außen kommende fremde Norm, sondern eine Befreiung zu dem, woran uns selber gelegen ist. Allerdings genügt es dazu nicht, bloß das Denken über das Sein des Menschen zu berichtigen. Um die Berichtigung auch zu verstehen, muß der ganze Mensch „in Ordnung“ kommen: seine Emotionen und Leidenschaften, sein Denken, Wollen und Lieben. Es geht also um nichts weniger, als um eine grundlegende Veränderung unserer alltäglichen Vorstellungswelt, wodurch nun wirklich jeder „er selbst“ sein und mit anderen zusammenleben kann. Es geht um Tugenden, die das Herz des Menschen empfänglich machen für die Wahrheit über ihn selbst.
Piepers „Kleines Lesebuch“ von 1941, das in dieser Sammlung von thematisch zugehörigen Schriften den Anfang macht, bietet dazu einen eher meditativen als begrifflichen Einstieg. In den Folgejahren sind neben weiteren Monographien zu den menschlichen Grundtugenden „Gerechtigkeit“ (1953), „Glauben“ (1962) und „Liebe“ (1972) eine Reihe von kleineren, hier erstmals zusammengestellten Texten entstanden zum Begriff der Tugend und zu den Tugenden im Einzelnen. Sie haben allesamt einführendem Charakter und leisten zugleich eine dringend notwendige Korrektur von Mißverständnissen, die unbemerkt das Vorverständnis von „Tugend“ bei modernen Apologeten wie Kritikern der Tugendethik leiten. Die gemeinsame Wurzel solcher Mißdeutungen führt Pieper zurück auf einen Wandel im Menschenbild der neuzeitlichen Philosophie.
Anders als es sich die Philosophen der Aufklärung vorgestellt haben, ist die erste und eigentliche Schwierigkeit des Sittlichen nicht der Kampf gegen den Hang zum Bösen, sondern das Auffinden der Spur des Guten. Die „Blindheit“ für die Wahrheit und das Gute ist durch die Empörung über das Böse nicht zu überwinden. Das Böse ist zweifellos eine Realität, die mächtig genug sein kann, jegliches Vertrauen in den Sinn der Wirklichkeit zu zerstören. „Heldentum“ ist darum auch heute und allezeit aktuell, solange das Böse Macht hat in dieser Welt. Errichtung und Einschärfung moralischer Verbotstafeln allein sind jedoch für den, der nicht (mehr) zu hoffen im Stande ist, ohne Bedeutung. Die vordringlichere Frage ist dann, ob es dennoch Grund zur Hoffnung gibt, ob es gelingen kann zu erfahren und in der „Einfachheit“ des unbefangenen Herzen zu sehen, daß es trotz aller Not dennoch gut ist zu sein. Diese Einfachheit ist nicht leicht zu realisieren, aber sie die Voraussetzung dafür, daß der Mensch wieder lernt zu sehen.
Berthold Wald: Vorwort zu Josef Pieper, Von den Tugenden des menschlichen Herzens. Ein Lesebuch, Kevelaer 2017 (Reihe topos premium