Neuheidentum: „Viele Menschen wünschen eine Bestattung in einem Naturraum“

POW: Frau Dr. Hänel, welche Umbrüche beobachten Sie in der gegenwärtigen Bestattungskultur?
Dr. Dagmar Hänel: Zurzeit lassen sich zwei gegenläufige Tendenzen erkennen. Das eine ist ein bewusster Umgang mit dem Thema und ein Bedürfnis nach individuellen Formen von Trauer und Abschied. Entsprechende Angebote wie selbst gestaltete oder besonders aufwändig oder originell designte Särge werden auch dann nachgefragt, wenn sie gegebenenfalls teurer sind als Standardangebote. Die gegenläufige Tendenz ist die steigende Nachfrage nach möglichst preiswerter Beisetzung. Das bedeutet meist eine anonyme Bestattung ohne Grab und Grabpflege, oft auf Friedhöfen im Ausland, beispielsweise in Osteuropa.
POW: Spielt das Thema Naturbestattung dabei eine besondere Rolle?
Hänel: Ja, viele Menschen wünschen eine Bestattung in einem Naturraum. Der traditionelle Friedhof scheint für manche nicht mehr der attraktivste Ort der „letzten Ruhe“ zu sein. Das hängt mit veränderten gesellschaftlichen Vorstellungen und Werten zusammen: Ein Wald beispielsweise repräsentiert für viele Menschen den Kreislauf der Natur, gleichzeitig sind Wälder in unserer urbanisierten und industrialisierten Welt tatsächlich besondere Räume geworden, kulturell aufgewertet und als ästhetisch empfunden. Die Sehnsucht nach einer Wiedereingliederung des Menschen in einen natürlichen Kreislauf erkennen wir auch in der Attraktivität des Aschestreuens in der Natur.
POW: Welche Erklärung haben Sie für diese Umbrüche?
Hänel: Die Art und Weise, wie Menschen bestattet und betrauert werden, ist ein sehr aussagekräftiger Indikator für die jeweilige Kultur. Die zum Teil massiven und rapiden Veränderungen unserer Gesellschaft spiegeln sich auch in der Bestattungskultur wider. Ein Beispiel ist der Pluralismus: Wir sind stolz auf eine plurale Gesellschaft, in der unterschiedliche Lebensstile nebeneinander existieren dürfen. Ebenso gibt es nebeneinander sehr unterschiedliche Vorstellungen von einer „schönen“ oder „passenden“ Beerdigung – und einen Markt, der alle Bedürfnisse zu befriedigen sucht.
POW: Erkennen Sie einen Trend weg vom christlichen Begräbnis? Hängt das mit der aktuellen Vertrauenskrise der Kirche in Deutschland zusammen?
Hänel: Natürlich ist feststellbar, dass die Zahl der Beisetzungen ohne kirchliche Begleitung zunimmt, allerdings schon seit etwa den 1980er Jahren. Unsere Gesellschaft ist säkularer geworden. Daher glaube ich nicht, dass die aktuelle Vertrauenskrise der Auslöser ist – vielleicht verstärkt er aber diese Tendenz. Auf der anderen Seite ist es durchaus fraglich, ob es tatsächlich einen so deutlichen Trend weg von der christlichen Bestattung gibt. Denn bei unseren Forschungen im Friedwald beispielsweise wurde deutlich, dass der größte Teil der Menschen, die dort eine Beisetzung durchführen, sich eine christliche Begleitung wünscht und erhält. Auch bei anonymen Aschebeisetzungen wird häufig eine Abschiedsfeier mit Pastor/Pfarrer durchgeführt, auch wenn dann die tatsächliche Beisetzung der Urne ohne Begleitung stattfindet. Ich sehe eher die Tendenz, eine vorgegebene Liturgie der Kirchen kreativ und individuell an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. Wenn Geistliche oder auch die Institution Kirche als Ganzes solche Wünsche nicht akzeptieren wollen, kommt es auch zu Konflikten, zum Teil auch zur kompletten Ablehnung der kirchlichen Bestattung.
POW: Viele Menschen, die ihre Angehörigen in einem Friedwald beisetzen, äußern sich positiv darüber, die Beisetzung sehr individuell gestalten zu können. Was steckt Ihrer Meinung nach hinter diesem Wunsch nach einer persönlichen Beerdigung?
Hänel: Wir haben auch in unserem Leben ein starkes Bedürfnis nach Individualität. Dem entspricht auch eine individuelle Beisetzung. Hinzu kommt, dass Kreativität ein wichtiger Baustein zur Verarbeitung der Trauer sein kann. Denn auch die traditionellen Trauerzeichen und -rituale sind in unserer Gesellschaft weitgehend verschwunden, zum Beispiel das Trauerjahr oder die Trauerkleidung. Dafür benötigen wir Ersatz, der beispielsweise in einer sehr bewussten und individuell gestalteten Beisetzungsfeier liegen kann.
POW: Beschäftigen sich die Leute heute mehr mit dem Tod und ihrer eigenen Beisetzung?
Hänel: Auch bei dieser Frage lassen sich zwei gegenläufige Tendenzen erkennen. Auf der einen Seite werden der eigene Tod und der Tod naher Angehöriger von vielen Menschen so lange wie möglich verdrängt. Die starke und gesellschaftlich weit verbreitete Tabuisierung des Todes, wie sie in den 1950er bis in die 1980er Jahre sichtbar war, ist allerdings deutlich abgeschwächt. Denn immer mehr Menschen – und das ist die gegenläufige Tendenz – beschäftigen sich tatsächlich mehr mit dem Tod und auch ihrer eigenen Beisetzung. Manche möchten die Entscheidung, welche Beisetzungsart und welcher Sarg gekauft werden soll, nicht ihren Angehörigen auflasten, manche haben tatsächlich keine Angehörigen. Der demographische Wandel hat auch dazu geführt, dass die letzte Lebensphase länger dauert und bewusster erlebt werden kann. Einen wichtigen Einfluss hatte – auch wenn es makaber klingt – Aids. Wer an Aids erkrankt, der weiß, dass er vielleicht eher sterben wird – und ist häufig noch relativ jung. Da erscheint es mir auch nachvollziehbar, dass in diesen Situationen neue und kreative Ausdrucksformen gesucht und gefunden werden.
POW: Einige Bischöfe sehen in den Waldbestattungen von FriedWald ein Anzeichen dafür, den Tod und das christliche Gedächtnis an die Auferstehung aus der Mitte der Gesellschaft zu verdrängen.
Hänel: Diese Interpretation der Friedwälder/Waldbestattung ist durchaus diskussionswürdig: Denn tatsächlich ist ja der traditionelle christliche Friedhof in der Mitte der Ortschaften, im Zentrum, rund um die Kirchen angelegt. Das unterscheidet beispielsweise die antiken, vorchristlichen Friedhöfe von den christlichen Bestattungsorten. Das Mittelalter ist allerdings lange vorbei, und seit dem 18. Jahrhundert setzt sich in ganz Europa die Tendenz durch, die Begräbnisstätten wieder weiter nach außerhalb zu verlegen. Heute werden neue Friedhöfe ebenfalls ganz selbstverständlich an die Peripherie der Städte gelegt. Die Frage, ob in der Natur Gotteserfahrung, christliches Gedächtnis und Glaube möglich sind oder nicht, ist auch keine neue. Bei unseren Forschungen allerdings stießen wir häufig auf Vorstellungen von Natur als Schöpfung, in der tatsächlich eine größere Nähe zu einer transzendenten Instanz empfunden werden kann.