Santiago_
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Hl. Thomas von Aquin - Worin besteht wahre Seligkeit (beatitudo)?

In Ekkle. 10, 19. heißt es: „Dem Gelde gehorcht Alles.“ Man könnte meinen, dass darin gerade die Seligkeit als letzter Endzweck besteht, was am meisten die menschlichen Neigungen beherrscht. Auch nach Boëtius (III. de Consol.) heisst es: „Die Seligkeit ist ein durch die Ansammlung aller Güter vollendeter Zustand.“ Eben aber mit Hilfe des Geldes kann man Alles sich erwerben, wie Aristoteles schreibt (1 Polit. 6.): „Zu dem Zwecke ist die Münze erfunden, dass sie gleichsam wie ein Pfand sei, vermittelst dessen der Mensch haben kann, was er will.“ Die Schrift (Ekkle. 5,9.) sagt aber: „Das Verlangen des Geizigen wird niemals gestillt werden durch Geld.“ Das Verlangen nach dem höchsten Gute aber, woran man nie genug hat, scheint unendlich zu sein.

Auf der anderen Seite besteht das Gut des Menschen mehr in der Wahrung der Seligkeit wie in dem Verlieren derselben. Boëtius aber sagt (II. de Consol.): „Die Reichtümer haben mehr Glanz, wenn sie verausgabt werden, als wenn man sie behält; denn der Geiz macht verhasst, die Freigebigkeit geschätzt.“ Also besteht in den Reichtümern nicht des Menschen Seligkeit. Unmöglich könne des Menschen Seligkeit im Reichtume bestehen. Denn eine doppelte Art Reichtum gibt es nach Aristoteles. (1 Polit. 6.) Es besteht nämlich ein natürlicher Reichtum, der dazu dient, dem natürlichen Mangel des Menschen zu begegnen; dazu gehören die Speisen, die Getränke, die Kleider, die Fuhrwerke, die Wohnungen und Ähnliches. Die andere Art ist jene, welche für sich betrachtet den Bedürfnissen des Menschen nicht abhilft, wie das Geld; sie ist von der menschlichen Kunst behufs der Leichtigkeit des Austausches erfunden worden, gleichsam als Maß der käuflichen Sachen. In der ersten Art Reichtum nun kann die menschliche Seligkeit nicht bestehen. Denn solcher Reichtum wird gesucht als Mittel, um die Natur zu stützen; er besteht also vielmehr wegen der Natur als zweckdienliches Mittel, als dass die Natur wegen seiner besteht. Im Bereiche der Natur also sind alle derartigen Dinge unter dem Menschen; weshalb der Psalmist sagt (8.): „Alles hast du ihm zu Füßen gelegt.“ Die zweite Art Reichtum wird nur gesucht wegen der ersten. Denn vermittelst des Geldes kauft man das für das Leben Notwendige. Also noch weit weniger trägt er den Charakter des letzten Zweckes. Alles Körperliche gehorcht dem Gelde, wenn die Menge der Toren berücksichtigt wird, welche nur körperliche Güter kennen; denn diese können mit Geld erworben werden. Ein maßgebendes Urteil aber rücksichtlich der wahren menschlichen Güter darf man nicht von den Toren erwarten, sondern von den Weisen; wie ein gesundes Urteil über die Farben nicht von denen erwartet wird, welche kranke Augen haben. Was käuflich ist, kann mit dem Gelde erworben werden. Geistige Güter aber sind nicht käuflich. „Was nützt dem Thoren der Reichtum,“sagt Prov. 17., „da er Weisheit nimmer kaufen kann!“ Das Verlangen nach „natürlichem Reichtume“ ist nicht unendlich; denn er genügt in gewissen Grenzen der Befriedigung natürlicher Bedürfnisse. Das Verlangen nach „künstlichem Reichtume“ aber ist ohne Maß und Ende; denn es dient der ungeordneten Begierlichkeit, welche kein Maß hat. (1 Po!it. 6.) Anders aber verhält es sich mit dem unendlichen Verlangen nach Reichtum wie mit dem unendlichen Verlangen nach dem höchsten Gute. Denn je vollkommener das höchste Gut besessen wird, desto mehr wird es geliebt und Anderes verschmäht; um so besser nämlich wird es gekannt, je mehr man es besitzt, weshalb es Ekkli. 24. heißt: „Die von mir essen,werden noch hungern.“ Umgekehrt aber liegt der Fall beim Verlangen nach Reichtum. Denn soweit er besessen wird, verachtet man ihn und will Anderes, wie der Herr selbst (Joh. 4.) dies andeutet: „Wer von diesem Wasser trinkt, der wird von neuem Durst haben,“ wo er unter „diesem Wasser“ die zeitlichen Güter meint. Der Grund ist offenbar; denn wie ungenügend und mangelhaft diese Güter sind, wird desto mehr erkannt, je mehr sie besessen werden. Dieser Umstand also zeigt gerade ihre Unvollkommenheit und dass in ihnen das höchste Gut nicht besteht. [1]

Unmöglich auch könne die Seligkeit im Glanze der Ehre bestehen. Denn Ehre wird jemandem erwiesen auf Grund eines hervorragenden Vorzuges; und so ist sie Zeichen und Zeugnis eines Vorzuges, den der Geehrte besitzt. Der höchste Vorzug des Menschen ist aber eben seine Seligkeit, welche des Menschen unbeschränkte Vollendung in sich schließt; und dem fügen sich an als weitere Vorzüge die Teile der Seligkeit, soweit diese alle Vermögen durchdringt. Also kann die Ehre der Seligkeit wohl folgen; aber hauptsächlich in letzterer bestehen kann sie nicht. Die Ehre ist nicht der Preis der Tugend, um dessentwillen die Tugendhaften wirken. Wohl aber empfangen sie Ehre von den Menschen anstatt des Lohnes, gleichsam wie von jenen, die nichts Größeres geben können. Der wahre Preis der Tugend ist die Seligkeit selbst und ihrethalben wirken die Tugendhaften. Falls sie um der Ehre willen arbeiteten; so wären sie schon nicht mehr tugendhaft, sondern ehrgeizig. Die Ehre macht nicht Gott den Herrn und die ausgezeichnetsten Personen vorzüglich; sondern ist ein Zeichen und Zeugnis ihrer Vorzüglichkeit. Aus dem natürlichen Verlangen nach Seligkeit, der die Ehre folgt, fließt es, dass die Menschen im höchsten Grade nach Ehre verlangen. Und aus diesem Grunde streben die Menschen am meisten danach, dass sie von den Weisen geehrt werden; denn deren Urteil lässt sie voraussetzen, dass in ihnen wirklich ein hervorragender Vorzug sei. [2]

Boëtius (3. de Consol.) sagt: „So manche haben einen großen Namen gewonnen auf Grund der falschen Ansichten der Menge. Was ist schändlicher? Denn wer fälschlicherweise gepriesen wird, der muss vor seinem eigenen Lobe erröten.“
Unmöglich könne des Menschen Seligkeit im Ruhme bestehen. Denn Ruhm ist nichts Anderes, wie oben Ambrosius sagt, als „glanzvolle Bekanntheit, die zum Lobe gereicht“. Ein Erkenntnisgegenstand aber verhält sich anders zur göttlichen Kenntnis und anders zur menschlichen. Die menschliche Kenntnis nämlich wird verursacht von den erkannten Dingen; die göttliche aber ist die Ursache der erkannten Dinge. Die Vollendung des menschlichen Wohles also kann nicht verursacht werden von der menschlichen Kenntnis; vielmehr geht die letztere von der bereits vorhandenen Vollendung aus und wird gewissermaßen verursacht von der menschlichen Seligkeit, mag diese erst im Beginne sein oder bereits vollendet. Also im Ruhme oder im Rufe kann des Menschen Seligkeit nicht bestehen. Des Menschen Wohl aber hängt ab wie von seiner Ursache von der Kenntnis Gottes. Und deshalb hängt ab von dem Ruhme, der bei Gott ist, die Seligkeit des Menschen wie von der Ursache, wie es im Psalm 90 heisst: „Ich will ihn erretten und ihn mit Ruhm krönen: mit der Länge seiner Tage will ich ihn anfüllen und zeigen werde ich ihm mein Heil.“ Dabei ist zugleich zu berücksichtigen, dass die Kenntnis der Menschen oft als falsch bezeichnet werden muss; und zwar zumal was das einzeln Zufällige anbetrifft, wozu die menschlichen Handlungen gehören. Deshalb ist auch häufig der Ruhm bei den Menschen ein auf Täuschung beruhender. Gott aber kann nicht getäuscht werden und ist darum der Ruhm, den man bei Ihm hat, immer ein wahrer; wie der Apostel sagt (2. Kor. 10.): „Jener ist erprobt, den Gott empfiehlt.“ Der Apostel spricht da vom Ruhme und der Herrlichkeit, die von Gott kommt; nicht von menschlicher. Deshalb sagt der Herr bei Mark. 8, 38.: „Der Sohn des Menschen wird ihn bekennen im Ruhmesglanze des Vaters vor seinen Engeln.“ Entweder ist der Ruf oder der Ruhm bei den Menschen ein wahrer; — und dann muss er sich ableiten von dem Guten, was bereits im Menschen vorhanden ist, setzt also die vollkommene oder begonnene Seligkeit voraus. Ist aber dieser Ruhm ein falscher, so entspricht er nicht der wirklichen Sachlage; — und so hat dann der Mensch nicht das Gut, ob dessen er gefeiert wird. Der Ruf hat keine Beständigkeit,ganz im Gegenteil wird er durch Ausstreuungen falscher Gerüchte leicht verloren. Beharrt er manchmal, so beruht das nicht auf ihm selber, sondern auf äusseren Gründen. Die Seligkeit aber hat Beständigkeit aus sich heraus und für immer. [3]

Boëtius (3. de Cons.) schreibt, „die Pein der Kümmernisse nicht vertreiben, die Dornen der Beängstigungen nicht vermeiden… Als mächtig siehst du an jenen, der einer Wache an seiner Seite bedarf; der da jene, die er schreckt, noch mehr selber fürchtet.“ Unmöglich könne also des Menschen Seligkeit in der Macht bestehen. Denn die Macht, also das Können, hat den Charakter des Prinzips, des Anfangs; die Seligkeit aber den Charakter des Zweckes, des Endes. Dann steht von der Macht selber aus dem nichts entgegen, dass sie zum Guten oder zum Bösen dienen kann; die Seligkeit aber ist wesentlich das vollendete Gut. Vielmehr also könnte eine gewisse Seligkeit bestehen im guten Gebrauche der Macht; welchen Gebrauch nur die Tugend gibt. Fassen wir nun diese für den Menschen äusseren Güter zusammen, so können vier Gründe geltend gemacht werden dafür, dass in keinem derselben die Seligkeit sein kann: Alle diese Güter finden sich in Guten und Schlechten; die Seligkeit aber kann gar kein Übel in Verbindung mit ihr zulassen. [4]

Wie oben bereits bemerkt wurde, ist des Menschen Seligkeit eine doppelte: eine vollendete und eine unvollendete. Die vollendete Seligkeit erreicht den wahren Grund aller Seligkeit. Die unvollendete erreicht selben zwar nicht, nimmt aber teil an einer gewissen Ähnlichkeit der Seligkeit. So ist die Klugheit im Menschen vollendet, insofern der Grund im allgemeinen für die Handlungen oder die zu wirkenden Dinge in ihm sich findet; in gewissen Tieren aber ist sie unvollendet, insofern sie besondere beschränkte Instinkte besitzen, um Einiges zu tun, was den von der Klugheit ausgehenden Werken ähnlich ist. Die vollendete Seligkeit nun kann unmöglich ihrem Wesen nach in der Betrachtung der spekulativen Wissenschaften bestehen. Zu dessen Veranschaulichung muss man berücksichtigen, dass die Betrachtung einer spekulativen Wissenschaft sich nicht weiter erstrecken kann, als die Kraft der Prinzipien jener Wissenschaft reicht; weil in den Prinzipien einer Wissenschaft gemäß der zu entwickelnden Kraft die ganze Wissenschaft enthalten ist. Die ersten Prinzipien der spekulativen Wissenschaften empfangen wir aber vermittelst der Sinne. Also die ganze Betrachtung der spekulativen Wissenschaften kann sich nicht weiter erstrecken als die Kenntnis der sichtbaren Dinge führen kann. In einer solchen Kenntnis kann jedoch nicht die letzte Seligkeit des Menschen bestehen, die da ist seine letzte Vollendung. Denn kein Wesen wird vervollkommnet von etwas Niedrigerem, ausser insoweit in diesem Niedrigeren eine Teilnahme sich findet an etwas Höherem. Offenbar nun ist die Wesensform des Steines oder sonst einer sinnlich wahrnehmbaren Sache niedriger als der Mensch; so dass durch die Wesensform des Steines die Vernunft nur insoweit vollendet wird als in einer solchen Wesensform die Teilnahme und Ähnlichkeit ist, mit Rücksicht auf etwas, was über der menschlichen Vernunft ist: die Teilnahme nämlich am Lichte der Vernunft als etwas vernünftig Erkennbares. Was aber nur kraft der Teilnahme an etwas Anderem ist, das lässt sich zurückführen auf das, was dieses selbe dem Wesen nach ist; wie die Zimmerwärme auf das Feuer. Also muss die letzte Vollendung des Menschen sich vollziehen durch die Kenntnis eines Gegenstandes, der über der menschlichen Vernunft steht. Vermittelst der sichtbaren Dinge aber kann man nicht kommen zur Kenntnis der vom Stoffe und von der Sichtbarkeit getrennten kraft ihrer Wesenssubstanz bereits vernünftigen Substanzen, wie in I. Kap. 88, Art. 2 hervorgehoben worden; denn diese Substanzen sind ihrem Wesen nach erhaben über die menschliche Vernunft. Also kann des Menschen letzte Seligkeit nicht bestehen in der Betrachtung der spekulativen Wissenschaften. Wie jedoch die sinnlich wahrnehmbaren Wesen kraft ihrer Formen an einer gewissen Ähnlichkeit mit den stofflosen Substanzen teilnehmen, so liegt in der Betrachtung der spekulativen Wissenschaften eine gewisse Teilnahme an der wahren und vollendeten Seligkeit. Aristoteles spricht da von der unvollendeten Glückseligkeit in diesem Leben. Kraft der Natur verlangen wir nicht nur nach der vollendeten Seligkeit, sondern auch nach deren irgendwie beschaffenen Ähnlichkeit oder Teilnahme an selbiger. Vermittelst der Betrachtung der spekulativen Wissenschaften geht die Vernunft in eine gewisse Tätigkeit über; nicht aber in die letzte und vollendete. [5]

Anmerkungen
[1] I-II, q 1
[2] Ib.
[3] Ib.
[4] Ib.
[5] I-II, q 3