Erdogan baut eine bis zu 30.000 Mann starke Sittenpolizei auf

Bekçi-Sittenwächter einst und heute
Bekçi-Sittenwächter einst und heute (Quelle: Greek artist / Public Domain, © Imago Images / Depo Photos)

Die türkische Opposition warnt vor der Schaffung einer Parallelpolizei, mit der Erdogan einmal mehr an eine Tradition aus dem Osmanischen Reich anschließt.

Der türkische Sicherheitsapparat ist neben der türkischen Religionsbehörde DIYANET einer der größten und umkämpftesten Arbeitgeber des Landes. Wer dort unterkommt hat nicht nur gute Kontakte, sondern auch die notwendige Disziplin und immer öfter das richtige Parteibuch: nämlich das der AKP.

Gerade in Zeiten wie diesen, mit aktuell steigender Arbeitslosigkeit (15,4 Prozent) und einer eklatant hohen Jugendarbeitslosigkeit – aktuell bei 25 Prozent – ist ein Unterkommen im Staatsdienst für nicht wenige der letzte Ausweg vor der existenziell bedrohlichen Armut. Für Viele – auch Hochschulabsolventen – ist eine Beschäftigung im Sicherheitsapparat sogar erste Wahl. Gerade eine solche Beschäftigung verschafft im islamisch-nationalistischen Milieu und sogar noch weit mehr im nationalistisch-faschistischen Milieu mit seinem Hang zu autoritärem Bewusstsein großes Ansehen im Familien- und Freundeskreis.

Der Stolz auf Soldatentum, aber auch der Wunsch, als bezahlter Soldat oder eben Polizist für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einzustehen – und wenn es sein muss, für Volk und Vaterland zu sterben, ist weit verbreitet und in der türkischen Gesellschaft hoch angesehen.

Die türkischen Sittenwächter kommen

Neuerdings beschäftigt der türkische Sicherheitsapparat neben Bediensteten in der Gendarmerie (200.000), Polizei (280.000) und der türkischen Armee (500.000) auch sogenannte Bekçi (Wächter). Bis Ende dieses Jahres soll deren Anzahl von derzeit etwa 21.000 auf 30.000 steigen.

Auch wenn ihre Zahl vergleichsweise gering ist – tendenziell wie gesagt aber wächst –, werden die Wächter zukünftig umfassende neue Eingriffsmöglichkeiten erhalten. Am 2. Januar äußerte sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan erstmals diesbezüglich auf einem Symposium zum Thema „Sicherheit in der Stadt“ im Präsidentenpalast wie folgt:

„Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir die äußere Sicherheit unserer Städte nicht länger mit Festungsmauern und Gräben schützen und die innere Ordnung nicht allein durch Strafverfolgung sicherstellen können“.

Ende Januar folgten den Wersten dann erste Taten. Gemäß dem Gesetzentwurf – ähnlich dem Notstandsdekret Nummer 690 vom April 2017, das unter dem Titel „Hilfeleistung für die allgemeinen Sicherheitskräfte“ bekannt ist –, der dem Parlament zwischenzeitlich vorgelegt wurde, sollen die Wächter die Befugnis erhalten, bei Protesten einzuschreiten und nach Ausweisen zu fragen. Laut dem Entwurf dürfen die Wächter Handschellen und Schlagstöcke einsetzen und dürfen sogar Schusswaffen tragen. Bis zum Eintreffen der Polizei sollen sie zudem Ausschreitungen verhindern und potenzielle Straftäter festhalten. Auch körperliche Durchsuchungen sin ihnen erlaubt.

Fragwürdige Tradition

Die Bekçi galten bis noch in die 1970er Jahre als traditionelle Sittenwächter. Sie waren im Osmanischen Reich eine feste Institution, um auf den Straßen die islamische Moral durchzusetzen und zu kontrollieren. In der Republik patrouillierten sie nach 1923 insbesondere nachts in den Stadtvierteln und sorgten nicht nur für die Einhaltung der Nachtruhe. Sie hatten insbesondere nach 1950 im Zuge erster Reislamisierungstendenzen unter dem Ministerpräsidenten Adnan Menderes wieder die Aufgabe, die öffentlichen Sitten zu kontrollieren und bei Verstößen dagegen vorzugehen.

Entsprechend wurde in einigen alten Filmen, die sich einem kulturkritischen Impetus verpflichtet fühlten, dieser sittenstrenge Gestus der Bekçi kritisiert wie parodiert.

Legendär sind die Filme des türkischen Schauspielers Kemal Sunal. In der Komödie „Bekçiler Kralı“ (König der Wächter) von 1979 parodiert er das Sittenbild eines Bekçi, der dieses Mal – ähnlich streng wie der traditionelle Bekçi – im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten als linksautoritärer Bekçi gegen die kleinen Ausbeuter im Stadtviertel agiert. Statt wie traditionell islamische Ehre und Moral zu kontrollieren, wird bei Sunal den Kioskbesitzern, Bäckern, Metzgern und Kleinhändlern im Stadtviertel auf die Pelle gerückt, wenn sie etwa beim Abwiegen von Fleisch, Gemüse und Obst mit der Waage täuschen, dem Kleinverdiener zu deutlich überteuerten Preisen ihre Waren anbieten, ihre Waren gar zurückhalten, um mit der nächsten steigenden Inflationsrate höhere Preise zu erhoffen oder abgelaufene Produkte als Frischware deklarieren.

Ab den 1980er Jahren verschwanden die Bekçi schleichend aus dem Stadtbild auch der Großstädte. Allmählich war ihre Rolle als Sittenwächter überflüssig geworden. Mit der nach 1980 staatlich verordneten Reislamisierung von oben wurde ihre Rolle durch die allgemein herrschende Moral, die sich zunehmend islamisch verstand ersetzt. Nun kontrollierten Nachbarn – gerade in traditionelleren Vierteln – einander untereinander – und so gingen die Bekçi überwiegend in der Polizei und der Gendarmerie auf.

Opposition kritisiert

Erst nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 tauchten die Bekçi wieder im Straßenbild auf. Nach der Entlassung von ca. 34.000 Polizisten aus dem Polizeidienst wegen Verdacht auf Gülenismus, remobilisierte der türkische Innenminister Süleyman Soylu im Zuge zunehmender Sicherheitsbedenken die fast schon aus dem Gedächtnis verschwundenen Bekçi und holte sie in die türkische Gegenwart. Seitdem patrouillieren wieder Bekçi als Wächter auf den Straßen. Seit 2016 ist ihre Zahl von anfangs 8000 auf aktuell 21.000 Wächter gestiegen.

Nun will die AKP ihre Zahl erneut erhöhen und spekuliert damit, insbesondere junge Männer aus den parteieigenen Jugendorganisationen zu gewinnen. Die öffentlichen Ausschreibungen für dieses Jahr laufen noch, bis zu 10.000 neue Wächter will die AKP in diesem Jahr einstellen und bietet mit einem Einstiegsgehalt von 4500 türkischen Lira sogar das Doppelte des Mindestlohns an.

Die wichtigste türkische Oppositionspartei CHP kritisiert den Gesetzentwurf. Sie warnt vor einer Parallelpolizei und befürchtet, dass die Bekçi zunehmend zur Sittenpolizei werden könnten. Stellvertretend für die CHP erklärte der Abgeordnete Ali Öztunç, seine Partei habe sich zwar nicht grundsätzlich gegen die Gesetzesvorlage ausgesprochen, allerdings kritisiere sie die Übertragung von Polizeibefugnissen auf die Wächter. Abschließend fragte es:

„Die Gesetzesvorlage gibt den Wächtern die Befugnis, körperliche Durchsuchungen durchzuführen. Wird ein Wächter etwa eine Studentin körperlich durchsuchen, wenn er sie nachts sieht und sie gar sexuell belästigen?“

Frauenorganisationen sind beunruhigt

In einem Interview für die linke Tageszeitung BirGün erläutert die Rechtsanwältin und Gründerin der Frauenorganisation SEBUKA, Aslı Karataş, wie naheliegend Öztunç’ Befürchtungen sind, indem sie auf den Umstand hinweist, dass lediglich 70 der aktuell 21.000 Wächter Frauen seien.

Gerade in der patriarchal geprägten türkischen Gesellschaft respektierten nicht wenige Männer auch im Staatsdienst die Grenzen von Frauen nicht und es käme nicht selten zu sexuellen Belästigungen. So sei zu befürchten, dass männliche Wächter trotz klar geregeltem Verbot körperliche Durchsuchungen an Frauen durchführen könnten; oder mittels der Befugnis, Ausweiskontrollen durchzuführen, gezielt beabsichtigen könnten, an persönliche Daten von Frauen zu kommen, um diesen Frauen dann in sozialen Netzwerken nachzustellen und sie zu belästigen.

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