«Der andere Blick»: Deutschland braucht keinen Wählerbeschimpfungsbeauftragten (nzz.ch)

Thema der Woche: Deutschland braucht keinen Wählerbeschimpfungsbeauftragten

Marco Wanderwitz am 18. September 2020 im Deutschen Bundestag.
Christian Spicker / Imago

1. Juni 2021
Der andere Blick von Alexander Kissler,
Redaktor der «Neuen Zürcher Zeitung» in Berlin

Am kommenden Sonntag finden in Sachsen-Anhalt Landtagswahlen statt. Politiker aller Parteien bereisen das ostdeutsche Bundesland, um Unentschlossene auf den letzten Metern zu überzeugen. Das Rennen um den Spitzenplatz scheint offen. Die AfD sitzt der CDU im Nacken; in einer Umfrage sind die Rechten sogar an der CDU, die den Ministerpräsidenten stellt, vorbeigezogen. Der Sinn solcher Last-Minute-Aktionen zwischen Betriebsbesuchen und Diskussionsrunden ist umstritten. Sie sind jedoch das tauglichere Mittel als die Methode Wanderwitz. Der Ost-Beauftragte der Bundesregierung und sächsische CDU-Spitzenkandidat Marco Wanderwitz hat sich entschlossen, das Versagen der eigenen Partei den Wählern der politischen Konkurrenz vorzuwerfen. Es ist das sicherste Rezept, der Konkurrenz weitere Wähler zuzutreiben. Wanderwitz, zudem parlamentarischer Staatssekretär in Peter Altmaiers Wirtschaftsministerium, bekleidet ein kurioses Amt. Die fortgesetzte Existenz des 1998 eingeführten Ost-Beauftragten zementiert ein schlechtes Gewissen. Das Amt signalisiert, dass die neuen Länder als Sondergut im Portfolio des Bundeskabinetts betrachtet werden. Der Beauftragte soll Kummerkasten sein und Lobbyist des Ostens. Wanderwitz versteht seine Aufgabe anders. In der Kunst der Wählerbeschimpfung brachte er es zur Meisterschaft.

Unklug und unwahr
Im Bundestag erklärte Wanderwitz, «auch nach 30 Jahren» sei die Demokratie im Osten «weniger verinnerlicht» und werde «teilweise offen abgelehnt und diskreditiert». In einem Podcast der «FAZ» bekräftigte er nun, man habe es im Osten «mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind. Das ist traurig, aber leider wahr.» Nur ein kleiner Teil dieser Menschen sei «potenziell rückholbar zu den demokratischen Parteien». Traurig ist die Aussage, weil sie unklug ist und unwahr. Wer vor der Zeit des Mauerfalls bereits «sozialisiert» war, muss damals mindestens 20, eher 25 Jahre alt gewesen sein. Ergo zielt Wanderwitz mit seiner Anklage auf die heutige Generation der über 55-Jährigen. Bei der letzten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt wurde jedoch die CDU überproportional von Menschen oberhalb der 60 gewählt. Je stärker jemand «diktatursozialisiert» war, desto eher wählte er also die CDU – oder die Linkspartei. Die AfD hingegen gewann am stärksten in der Altersgruppe zwischen 25 und 44 Jahren. Um in Wanderwitz’ Duktus zu bleiben: Es sind weniger die Diktatur- als die Merkel-Sozialisierten, die bei der AfD ihr Kreuz machen.

Schockwellen in der CDU
Merkel inthronisierte Wanderwitz 2020, nachdem der Vorgänger ihr Missfallen erregt hatte. Statt jetzt nach der Verantwortung der CDU für die fundamentale Abkehr vieler Bürger von der politischen Mitte zu fragen, statt etwa selbstkritisch Versäumnisse in der Migrationspolitik anzusprechen, bleibt Wanderwitz sich treu. Keine Überlegung ist ihm der Umstand wert, dass die CDU vor fünfeinhalb Jahren in Sachsen-Anhalt noch 35 und die AfD nur 13,5 Prozent in Umfragen erreichte. Die Schockwellen, die er mit seiner Äusserung in die Reihen der wahlkämpfenden CDU gesandt hat, beeindrucken Wanderwitz nicht. Der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak nennt die Urteile «in ihrer Pauschalität so nicht zielführend», der thüringische Fraktionsvorsitzende Mario Voigt plädiert dafür, niemanden verloren zu geben und jedes Besserwissertum einzustellen. Dennoch wiederholte Wanderwitz im MDR-Fernsehen, er müsse allen Wählern und Wählerinnen der AfD den «Vorwurf» machen, diese «rechtsradikale Partei» zu wählen. Mit Vorwürfen und Drohungen wurde noch niemand bekehrt. Fronten verhärten sich, wenn man auf deren Rechtmässigkeit beharrt. Politik endet dort, wo Menschen abgeschrieben werden.

Durch Spaltung versöhnen
Auch so betreibt Wanderwitz das Geschäft des politischen Gegners. Er findet sich mit einer starken AfD im Osten ab. Er will lediglich deren Wähler «ganz, ganz bewusst und dezidiert aus der demokratischen Willensbildung der Mehrheit im Land ausgeschlossen» sehen. Er will gewissermassen durch Spaltung versöhnen. Armin Laschet weiss, wie unklug in Wahlkampfzeiten das Zetern des gegenwärtigen Ost-Beauftragten ist. Der CDU-Vorsitzende ahnt das Debakel, das in Sachsen-Anhalt auf seine Partei zukommen könnte. Im Deutschlandfunk sagte er an diesem Dienstag, er selbst «würde die Formulierungen anders wählen». Die Bürger seien aber «klug und rational» genug, die CDU trotzdem zu wählen. Das ist weder ausgeschlossen noch garantiert.

Das Malaise um einen überforderten Amtsinhaber bestätigt den nostalgischen Charakter des ganzen Amtes. Um die Einheit zu vollenden, braucht es keinen Ost-Beauftragten, der allein durch seine Funktion die Mauer in den Köpfen unter Bestandsschutz stellt. Die nächste Bundesregierung sollte mutig genug sein, sich mit derselben Energie für das ganze Land einzusetzen und auf einen «Beauftragten für die neuen Bundesländer» zu verzichten. Nach 31 Jahren ist die Wiedervereinigung keine Neuheit mehr.

Herr Wanderwitz scheint die personifizierte Hybris des herrschenden Parteienkartells darzustellen: Dies fühlt sich, von CDU/CSU über FDP und SPD bis zu Grünen und Linken, als die erwählten Gralshüter der absoluten Erkenntnis. Da es in all seinen Schattierungen alternativlos das Wahre und Gute verkörpert, ist seinen Ansagen logischerweise unbedingt Folge zu leisten. Wenn schon die im Kartell konzentrierte Verstandeselite angesichts von Pandemie, Klimawandel und anderen „beispiellosen Herausforderungen“ heute dies und morgen das Gegenteil verkündet, wie wollen denn diese kleinen Dummerchen Politik machen?
Eben!
Wer dies verweigert und AfD wählt, ist entweder ein depperter Aluhutträger oder überzeugter Nazi. Entweder meint er ernsthaft, selbständig denken und Sachverhalte beurteilen zu können (= dumm) oder er lehnt die schöne neue Welt einer bevormundenden Gesundheitsbürokratie samt Medienverstärkung ab (= schlecht).
Da greift sich der/die/das Politiker*in doch empört an den Kopf: Was erfrecht sich der Pöbel? Will er etwa regieren?
Marienfloss
Wenn die ganzen “Schweinereien” der politischen Kaste offengelegt werden, möchte ich nicht in der Haut dieser Betrüger stecken!
Tesa
RA Steinhoefel: "Schimpfworte genügen nicht mehr:Zu Beginn der Pandemie kaufte das Gesundheitsministerium unbrauchbare Masken im Wert von einer Milliarde Euro. Diese wollte Jens Spahn offenbar zwischenzeitlich an Obdachlose und Menschen mit Behinderung verteilen, nun sollen sie vernichtet werden."