Eine kleine Gruppe unerschrockener schwarzer Intellektueller mahnt, dass Black Lives Matter Opfer des eigenen Erfolgs zu werden droht.
Für einmal herrscht in weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung Eintracht: «Black Lives Matter» (BLM). Das Anliegen geniesst Unterstützung, unabhängig von Herkunft und Hautfarbe. Systemische Diskriminierung durch Institutionen ist unamerikanisch, struktureller Rassismus gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Die Sklaverei und alle, die sie einst unterstützt haben, sind zu ächten und ihre Statuen zu demontieren.
Die genaue Bedeutung der Slogans und die Tragweite der Aktionen indes sind unklar. Und wer kritisch nachfragt, muss damit rechnen, des Rassismus geziehen zu werden – und als jemand hingestellt zu werden, dessen eigene Perspektive in den Dunstkreis des angeblich weissen Privilegs fällt. Ganz Amerika scheint also zugleich fest im Griff einer tugendsignalisierenden Antirassismusbewegung unter dem Banner von BLM.
Ganz Amerika? Nicht ganz: Eine Handvoll afroamerikanischer Gelehrter betrachtet mit Skepsis das bürgerrechtskämpferische Narrativ im Gefolge der andauernden Proteste seit der Tötung von George Floyd. Die Denkanstösse von Ivy-League-Professoren und Autoren reichen vom Hinterfragen des aktuellen Begriffs von «Rasse» über die Frage nach dem Kultcharakter der «Black Lives Matter»-Bewegung bis hin zur Relativierung rassistisch motivierter Polizeigewalt gegen schwarze US-Bürger mithilfe von Statistik.
Zu dieser Gruppe von Abtrünnigen gehört John McWhorter, Professor für Komparatistik an der Columbia University. Er betreibt zusammen mit Glenn Loury, Ökonom an der Brown University und erster schwarzer Professor an der Harvard University, den Youtube-Chat «Bloggingheads».
«Manche Polizisten sind Monster. Aber die Idee, dass Cops insgesamt darauf aus sind, schwarze Leben zu zerstören, ist eine extreme Vereinfachung», sagt McWhorter. Er untermauert dies mit einer Liste von Beispielen von Polizeigewalt, die ihren infamen Pendants bei George Floyd bis Philando Castile an Brutalität in nichts nachstehen. Der Unterschied: Die Opfer waren weiss, passten nicht ins Rassismus-Schema und blieben daher unbekannt.
Aus einer Datenbank zum Einsatz von Schusswaffen mit Todesfolge durch die Polizei fördert McWhorter Weiteres zutage, was die Rede von rassistisch motivierter Polizeigewalt relativiert. Dass die Mehrheit dieser Fälle Weisse betrifft (wie die «Washington Post» darlegte), dient McWhorter zur Falsifikation der These, dass die Tötungen ausschliesslich rassistisch motiviert sind: Bei einer Bevölkerung von 328 Millionen wurden 2019 landesweit 1003 Menschen von der Polizei erschossen. 405 davon waren Weisse, 250 Schwarze, 163 Hispanics und 185 als andere oder unbekannt klassifiziert. Das liefert in der Tat keinen Beleg für systemischen Rassismus der Polizei gegen Schwarze.
McWhorter bestreitet nicht, dass es Rassismus unter Polizisten gibt, doch zielt seine Überlegung in eine andere Richtung: Die Afroamerikaner sind in dieser Statistik mit fast einem Viertel gemessen an ihrem Gesamtbevölkerungsanteil (13 Prozent) überproportional vertreten, derweil es die Weissen zu 40 Prozent trifft, obwohl sie 62 Prozent der US-Bevölkerung stellen.
Dass schwarze Männer (95 Prozent der durch Polizeischusswaffen Getöteten sind männlich) mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit betroffen sind als weisse Männer, erklärt McWhorter mit einer sozioökonomischen Entsprechung. Denn es leben ebenso zweieinhalbmal mehr Afroamerikaner (rund 20 Prozent) als Weisse (rund 9 Prozent) in Armut. Armut erhöht Kriminalitätsraten, dies führt zu Strafregistereinträgen, was wiederum die Disqualifikation für ganze Berufsfelder nach sich zieht.
Mit derlei Argumenten hebt McWhorter den Diskurs von sozioethnischer Ungleichheit aus dem identitätspolitischen Reich lose bestimmter Begriffe wie «Rasse» oder «(Anti-)Rassismus», um ihn im Begriffsschema der Klasse zu verankern. Der Rassenkonflikt wird somit (wieder) zum Klassenkampf, der empirisch untersucht und durch politische und soziale Massnahmen korrigiert werden kann.
Hier klingen Echos auf den Ökonomen Thomas Sowell an. Ursprünglich dem Marxismus wohlgesinnt, wandelte sich der heute 90-Jährige zum libertären afroamerikanischen (Vorzeige-)Konservativen. Sowell, der aus dem südstaatlichen North Carolina nach Harlem zog, kritisierte nicht nur als einer der Ersten Sozial- und Wohlfahrtsleistungen, Bevorzugung («affirmative action») und Reparationszahlungen für Afroamerikaner. Sowell entwickelte früh eine kulturkritische Haltung gegenüber sogenannt antirassistischen Programmen. Das ist denn auch der Ansatzpunkt der von McWhorter und Loury formulierten Kritik an «progressiven» BLM-Themen.
Durch die Rückbesinnung auf Fragen der Klasse rücken McWhorter und Loury ab von den Fallstricken eines durch Identitätspolitik geprägten Diskurses, den BLM und Medien derzeit obsessiv pflegen. Ihnen missfällt, dass eine traurige Begebenheit wie George Floyds schreckliches Ende von wohlsituierten antirassistischen Aktivisten in Medien und Universitäten zum existenziellen Trauma und zur eingebildeten Bedrohungssituation einer ganzen Bevölkerungsgruppe hochstilisiert werde.
«Heuchelei, Opfer- und Märtyrerkomplex» einiger Wortführer machten die «Black Lives Matter»-Bewegung zum «melodramatischen Theater, das Schwäche als eine Form der Stärke ausspielt», sagte McWhorter im Video-Chat mit Loury. Theatralik und Rhetorik heben die BLM-Bewegung in den Bereich von Kult und Religion, sagt Loury und stellt fest: «Wir sind im Griff einer Hysterie.»
Wenn öffentliche Proteste gegen Polizeigewalt und -rassismus während des Corona-Lockdowns höher gewertet würden als medizinische Richtlinien, die gegen ihre Durchführung sprächen, dann hebelt diese kulthafte Hysterie selbst die Wissenschaft aus. Gerade deshalb müsste Polizeigewalt dringend eingedämmt werden – nicht nur, um ausser Kontrolle geratene rassistische Brutalität in die Schranken zu weisen, sondern auch, um weniger Anlass für Tränen und Drama der BLM-Aktivisten und ihre «bizarre, beinahe stalinistische Orthodoxie» zu bieten.
Moderater als die Mahnungen der beiden schwarzen Ivy-League-Professoren gegen identitätspolitischen Aktivismus von BLM kommen die Kritikpunkte von Thomas Chatterton-Williams daher. Der Autor des vielbeachteten Buchs «Self-Portrait in Black and White» gab in einem lesenswerten Meinungsbeitrag in der «New York Times» zu bedenken, dass die von BLM unterstützte Forderung nach Gerechtigkeit und Gleichberechtigung mit Attributen legitimiert werde, die traditionellerweise als «weiss» gelten.
Chatterton-Williams verweist darauf, dass gesellschaftliche Akzeptanz von Afroamerikanern genau dann erfolge, wenn sie auswiesen, dass sie wie weisse Mitbürger Yoga betrieben, brav in die Kirche gingen, morgens ihren Wecker anbrüllten, keine Waffen besässen. Mit einem Wort: wenn sie durch Wort und Tat darlegten, dass es keinen Grund gebe, vor ihnen Angst zu haben.
«Schwarze Leben» indes sollten nicht länger an Attributen von Weissheit gemessen werden. Denn damit werde exakt jene Möglichkeit kultureller Andersartigkeit ausgeblendet, deren Stereotype überhaupt erst zu rassistischen Vorteilen führten.
Das ist nach Chatterton-Williams in zweierlei Hinsicht problematisch: Einerseits wird damit das weisse Geschmacksurteil zum rassistischen Zensor darüber erhoben, was «gute» afroamerikanische Eigenschaften sind – und was nicht. Andererseits lässt dies die eigentliche Diskussion von möglicherweise tief verwurzelten rassistischen Vorurteilen der Bevölkerung unberührt. Der alte Rassismus des weissen Amerika kommt so durch die Hintertür in die gegenwärtige Diskussion hinein, anstatt dass Herkunft und Ethnie in der Wahrnehmung der Bürger als Individuen gerade keine Rolle mehr spielen.
Auch andere schwarze Kommentatoren stimmen zu. Der «New York Times»-Kolumnist Charles Blow begrüsst die neu gefundene Solidarität zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen. Zugleich moniert er aber, dass die mittlerweile sechs Jahre alten BLM-Programmpunkte erst in dem Moment weitverbreitete Akzeptanz fanden, da eine grosse Mehrheit weisser Kids als ihre Botschafter auf die Strasse ging.
An den fremd- wie selbstverschuldeten Missständen in der «black community», die seit der Publikation von Daniel Patrick Moynihans «The Negro Family: The Case for National Action» (1965) oder dem Bericht der Kerner-Kommission an Präsident Lyndon Johnson (1968) bekannt sind, hat sich seither wenig geändert. Indem sie bedenkenswerte Kontrapunkte zum trendigen Mainstream von «Black Lives Matter» anbieten, kann dieses Mal vielleicht das Prestige schwarzer Intellektueller der Debatte zum nötigen Gewicht und zur politischen Substanz verhelfen.